Logo Tracce


Multikulturalismus - Forum
Freundschaft ist möglich
Giorgio Paolucci

Vor den Toren Mailands geben Christen Kurse für muslimische Frauen, die seit Jahren in Italien leben. Die Ausflüge, Lesungen, Treffen im Theater sind Zeichen gegenseitiger Wertschätzung.

"Wir sind seit 10 Jahren in Italien, aber wir wissen fast nichts über dieses Land und seine Geschichte. Helft ihr uns, sie kennen zu lernen?" Die recht überraschende Anfrage erreichte uns vor zwei Jahren von einer Gruppe ägyptischer Frauen, die mit ihren Familien in Ponte Lambro leben, einem Vorort im Südosten Mailands, einem Viertel mit hoher Quote arabischer und südamerikanischer Einwanderer. Laura, die als Sozialarbeiterin des vinzentinischen Sozialzentrums in dieser Gegend arbeitet, sprach mit einigen Freundinnen darüber. Nach ein paar Wochen entstand die Idee eines Kurses über italienische Kultur für arabische Frauen. Vor allem entstand aber eine Freundschaft zwischen den Initiatoren und den "Schülerinnen". In diese Freundschaft bringt jeder die eigene Person und Tradition ein. Es sind keine Dialoge über die kleinsten gemeinsamen Nenner, keine zweideutigen Anrufungen des gemeinsamen Gottes Abrahams, sondern eine aufrichtige, drängende und bisweilen stürmische Auseinandersetzung über die eigenen menschlichen Bedürfnisse, und die Antworten, die die Wirklichkeit einfordert. Dazu gehören auch die beängstigenden, aber unausweichlichen Fragen über den Terrorismus und die Gewalt im Namen Gottes.

Am Ursprung des Abendlandes
Der Kurs stand unter der Überschrift "Die Wurzeln der abendländischen Tradition": Eine zusammenfassende und elementare Reise in die Geschichte auf Grundlage eines Dossiers von Silvana, einer Geschichts- und Philosophielehrerin an einem Mailänder Gymnasium. Darin geht es um die Beiträge aus der griechischen und römischen Welt und aus der jüdisch-christlichen Tradition, um den Wert der Person, der Arbeit und der Zeit, um Demokratie und Freiheit sowie Achtung vor dem anderen. Die Ägypterinnen hören zu, fragen, erheben Einwände, erzählen von dem, was sie in Kairo in der Schule gelernt haben, von der arabisch-islamischen Tradition. Im Laufe des Jahre gab es einige Ausflüge, um bedeutende Orte kennen zu lernen: Die Abtei von Chiaravalle, Gelegenheit zum "Eintauchen" ins Mittelalter und zur Begegnung mit der weiterhin zeitgemäßen Lebensform des Mönchtums. Sant'Angelo Lodigiano, wo das Geburtshaus der heiligen Francesca Cabrini steht, Bezugspunkt für viele Italiener, die im 20. Jahrhundert das Abenteuer der Emigration erlebten. Ebenfalls in Sant'Angelo das Bolognini-Schloss, mit seinem Museum über Ackerbau und das Brot. Dieses Jahr haben wir mit dem Kleinen Prinzen von Saint-Exupéry gearbeitet. Das gab uns Gelegenheit, uns mit dem Wert der Freundschaft zu messen und zu entdecken, dass "das Wesentliche für die Augen unsichtbar" ist. Dann besuchten wir die Pinakothek von Brera und die Ausstellung der AVSI über Favelas in Brasilien. Im April besuchten wir das Theaterstück "Bereshit - Kinder desselben Vaters". Das von der Regenbogen-Theatergemeinschaft nach Italien gebrachte Stück der Israelin Angelica Calò Livné traf die Ägypterinnen ins Herz. Eine von ihnen, Akita, sagte am Ende der Aufführung: "Ich habe die Israelis immer gehasst, ich hätte nie geglaubt, dass ich einem Juden in die Augen schauen könnte, ihm die Hand reichen könnte. Hier bin ich Menschen begegnet, die das ersehnen, was auch ich ersehne. Vergebt mir." Dieser Abend schloss mit einer bewegten Umarmung zwischen der Jüdin Angelica und der Muslimin Akita.

Ein Netz von Beziehungen
Im Laufe der Zeit macht die anfängliche Beklommenheit und das Misstrauen in Ponte Lambro Platz für ein Netz von Beziehungen auf der Grundlage gegenseitiger Wertschätzung. Die neu entstandenen Freundschaften öffnen die Türen von Häusern, die nie zuvor ein Italiener betreten hatte. Ethnische Abendessen, Austausch von Glückwünschen zu Weihnachten und zum Ramadan. Und als Aziza in einem Autounfall ihre Tochter verliert, wird auch der Schmerz zur Gelegenheit, ein Stück Weges miteinander zu teilen und einen Dialog über die Bedeutung des Todes zu führen.
Letztes Jahr haben einige Ägypterinnen am landesweiten Tag der Lebensmittelsammlung teilgenommen und unter den etwas verblüfften Blicken der Passanten die Erfahrung der Caritas gemacht. In Ponte Lambro veranstaltet man keine Tagungen über die multikulturelle Gesellschaft oder den islamisch-christlichen Dialog. Aber mit Sicherheit wächst dort ein Stück neue Welt, in der das Teilen der Bedürfnisse Grundlage ist und eine Freundschaft Fleisch annimmt.