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Heiliges Land - Interview mit Pater Pizzaballa
Zum Wachen gerufen: Christen im Heiligen Land
Carlo Dignola

Nach dem Wahlsieg der Hamas äußert sich der Kustos des Heiligen Landes, der Franziskaner Pierbattista Pizzaballa, über die Lage der Christen, die Beziehung zur jüdischen Gemeinschaft und die Rolle seiner Ordensgemeinschaft.

Nach der Rückkehr von einer Pilgerfahrt ins Heilige Land sagte Don Giussani in einem Interview: «Was man von den Heiligen Stätten mitnimmt, ist der innige Wunsch, dass die Menschen sich bewusst werden, was da geschehen ist: Gott ist dem Menschen erschienen. Statt dessen scheint es heute möglich, das, was sich ereignet hat, auszuradieren, so wie man einen Brief im Sand zertritt.» Wenn man über die Via Dolorosa geht, die Hand in die Öffnung hält, in der das Kreuz steckte oder in der Geburtskirche zu Bethlehem niederkniet, merkt man, wie konkret und menschlich dieses Ereignis ist. Man kann unmöglich aus Palästina heimkehren und noch den geringsten Zweifel hegen, dass das Christentum vielleicht doch nur ein Märchen war. Diese Stätten, die Paul VI. «das Fünfte Evangelium» nannte, sind seit Jahrhunderten der Obhut der Franziskaner anvertraut, die auch die Aufgabe haben, die Christen zu betreuen. Inzwischen sind sie nicht nur in Israel eine kleine Minderheit geworden, sondern auch in den Palästinensergebieten, wo sich der Islam ausbreitet. Die Franziskaner wollen die Bedürfnisse, Sorgen und Freuden der Christen hier, an dem Angelpunkt teilen, um den sich die Welt zu drehen scheint: in Jerusalem. Seit knapp zwei Jahren lastet die Aufgabe des Kustos des Heiligen Landes auf den Schultern von Pater Pierbattista Pizzaballa. Er ist 41 Jahre alt, ein gebildeter und kluger Mann, nüchtern und diplomatisch. Scherzhaft behauptet er von sich auch ein wenig «Jesuit» zu sein. In einem verwirrenden Geflecht aus ethnischen und religiösen Beziehungen und Jahrhunderte alten Rivalitäten, die an diesem Ort oft zu einer explosiven Mischung führen, weiß er jeden Fall richtig einzuordnen. Pizzaballa erzählt, zwar gebe es ein «Übermaß an Heiligem» in diesem Land und er selbst wünsche sich etwas mehr Weltlichkeit - nicht Laizismus -, aber in Jerusalem zu leben sei faszinierend, ja wundervoll. Er selbst sei mehr als sicher, dass - Bomben hin, Bomben her - die Christen von hier nie weggehen werden, und die Franziskaner noch viel weniger. Hinter dieser Geschichte steht offensichtlich ein Plan der Vorsehung. Er folgt geheimnisvollen und manchmal schrecklichen, aber großen Wegen. Und heute lässt er wieder eine überraschende Annäherung der Kirche an ihre Ursprünge erkennen und Möglichkeiten auf theologischem Gebiet, die bis vor wenigen Jahren unvorstellbar waren.

Pater Pizzaballa, wie leben die Christen heute, eingeengt zwischen dem Staat Israel und dem staatsähnlichen Gemeinwesen, das jetzt von den Radikalen der Hamas regiert wird?
Die Christen sind vor allem wenige. Zählt man Katholiken, Orthodoxe, Protestanten, Armenier, Kopten zusammen - im Heiligen Land gibt es fast alle Konfessionen - sind es höchstens 180.000 und damit weniger als 2 Prozent der Bevölkerung. Davon sind 99 Prozent arabisch-palästinensischer Abstammung. Sie sind also eine Minderheit in einer Minderheit. 60 Prozent von ihnen leben in Israel, 40 Prozent in Jerusalem, Bethlehem und den autonomen Palästinenser-Gebieten. In beiden Fällen sind die Lebensumstände sehr verschieden. In Israel haben sie keine großen wirtschaftlichen Probleme. Sie gehören normalerweise zu einer gehobenen Gesellschafts-schicht. Für sie ist vielleicht die Verweltlichung das Hauptrisiko, ein bisschen wie in allen fortgeschrittenen Gesellschaften. In Israel wird sonntags gearbeitet; einem Studenten kann es passieren, am Ostersonntag ein Examen machen zu müssen. Sie leben in einer nicht christlichen Umwelt. Auch wenn ihre Zahl nicht abnimmt - sie nimmt im Gegenteil leicht zu - verlieren die Christen in der Öffentlichkeit und mit ihrem Zeugnis an Einfluss.

In den autonomen Palästinenser-Gebieten geht es ihnen schlechter.
Hier ist die Arbeitslosigkeit extrem hoch, oft zwischen 40 und 50 Prozent, und folglich die soziale Lage sehr viel angespannter. Mit der zweiten Intifada ist hier eine der Säulen der Wirtschaft, der Tourismus, fast völlig weggebrochen. Seit vier oder fünf Jahren ist kein Tourist mehr gekommen. Viele kleine Unternehmen sind bankrott. Und wenn es wirtschaftlich schlecht geht, gibt es auch gesellschaftliche und religiöse Spannungen. Sie sind aber auch immer eine Folge der materiell und politisch verschlechterten Lage. Aus diesen Gebieten gibt es in den letzen Jahren einen Exodus der Christen. Zahlreiche Familien, besonders der Mittelschicht, suchen im Ausland bessere Zukunftsaussichten. Aber ich sehe noch keine Katastrophe. Besonders die ärmsten Christen werden bleiben, denn man braucht Geld für die Auswanderung. Schließlich gibt es auch einen kleinen Kern von Christen, die überzeugt sind, dass ihre Gegenwart Teil des Plans der göttlichen Vorsehung ist. Die Christen können niemals aus dem Heiligen Land verschwinden. Und der Herr kann nicht anders, als diesen Menschen, die an die Wurzel unseres Glaubens gestellt sind, ganz besondere Kraft zu verleihen.

Hat sich für die Christen mit der Wahl der Hamas etwas geändert?
Bis jetzt jedenfalls absolut nichts. Wie die Führer gesagt haben, werden sie die Minderheiten respektieren und wollen mit ihnen zum Wohle der gesamten palästinensischen Bevölkerung zusammenarbeiten. Sie beabsichtigen nicht, die Gesellschaft zu islamisieren, sondern den Staat umzugestalten und allen die Bürgerrechte zu garantieren. So wurde es gesagt, und wir haben keinen Grund, anderes zu unterstellen.

Muss man auch mit der Hamas sprechen?
Es hilft nie, Beziehungen abzubrechen. Das Gespräch ist wesentlich, nicht nur um Feuer zu löschen, sondern auch um für die Zukunft etwas aufzubauen. Es gibt keine Alternative zum Dialog. Die Hamas ist nicht nur eine politische Bewegung, sondern verfügt über ein starkes soziales Netz zur Unterstützung der Armen, dem sie ihre Verwurzelung verdankt. Sie hat aber auch einen militärischen Arm und der schafft natürlich Probleme.

Läuft ein Christ nicht Gefahr, zu radikale Einstellungen zu unterstützen?
Dialog heißt nicht, einverstanden zu sein. Oft gibt es Missverständnisse. Wir müssen uns begegnen, miteinander sprechen, und wenn es nötig ist, auch unsere Missbilligung zum Ausdruck bringen. Aber wir müssen miteinander sprechen. Wenn man kein klares Selbstverständnis, keine klare Identität besitzt, nützt der Dialog nichts, dann ist er kontraproduktiv.

Sollte das Ausland die Mittel für die Hamas streichen?
Ich meine, dass Europa die Autonomiebehörde weiter unterstützen soll. Denn ohne diese Hilfe würde sie Bankrott gehen. Gewiss, Europa muss vor Ort sein und wachsam bleiben. Was in der Vergangenheit gefehlt hat, war eine Kontrolle, wofür die Gelder ausgegeben werden. Aber der Heilige Stuhl war, wie auch bei anderen Gelegenheiten, immer gegen jede Form von Embargo. Ein Embargo schafft der Bevölkerung nur Probleme. Ein Christ darf nicht aufgeben, er kann einen Konflikt nicht als unabänderliche Gegebenheit akzeptieren. Johannes Paul II. sagte: «Das Heilige Land braucht nicht Mauern, sondern Brücken». Eine Brücke muss auf beiden Ufern feste Fundamente haben, wenn sie wirklich Stand halten und verbinden will. Wenn die Kirche eine Brücke sein will, muss sie sowohl in Israel wie in den palästinensischen Autonomiegebieten solide Grundlagen haben.

Wächst die Hamas, weil sie auf sozialem Gebiet aktiver ist?
Alle religiösen Gemeinschaften, Muslime, Juden und Christen, haben bei uns ein starkes soziales Netz. Der Glaube besteht für alle nicht nur im Glauben an etwas, sondern auch im Handeln für Bedürftige. So hat auch die Kirche viele Werke. Selbst wenn die Gefahr bestehen mag, dass sie nur als Sozialwerk erscheint. Christliche Schulen spielen seit jeher in den Palästinenser-Gebieten eine wichtige Rolle. Wir unterstützen arme Familien, die ein Wohnproblem haben, es gibt Waisenhäuser, katholische Krankenhäuser; ein sehr dichtes Hilfsnetz. Diese Dinge sind wichtig, weil wir hauptsächlich durch sie in einer überwiegend islamischen Umwelt ein christliches Zeugnis geben können.

Hat die Frage der Erziehung für die Christen eine besondere Bedeutung?
Sie ist absolut lebensnotwendig. In Israel wie in Palästina ist die Schule für uns als Minderheit der einzige Ort, wo wir dauerhaft Christen heranbilden können. Wenn die Erziehung fehlt, werden die Christen verschwinden, nicht zahlenmäßig, sondern weil sie sich nicht mehr mitteilen können. Ohne Erziehung laufen die Christen Gefahr, dass ihre Anwesenheit bedeutungslos wird. Das ist die eigentliche Herausforderung für die Kirche. Denn Wohnung und Arbeit zu finden, ist letztlich nicht unsere Aufgabe. Sicher müssen wir diesen Menschen behilflich sein. Aber unsere erste Aufgabe ist es, eine Gemeinschaft heranzubilden, die weiß, was es heißt, Christ zu sein in einer Umwelt, in der man das normalerweise nicht ist.

Gibt es Kontakte zwischen den verschiedenen Religionen oder lebt jede Gemeinschaft mehr oder weniger ihr Eigenleben?
Um die Wahrheit zu sagen: Gespräche über Glaubensfragen sind sehr selten und auch sehr schwierig. Es gibt Begegnungen und Gespräche. Aber dabei geht es um ganz konkrete Probleme. Wir sprechen über Arbeit, Menschenrechte oder Gerechtigkeit.

Was bedeutet es, als Franziskaner an den Heiligen Stätten zu leben?
Für uns ist es ganz wesentlich, hier zu sein. Nach dem Ende der Kreuzzüge waren es gerade die Franziskaner, die als einzige auf diesem von Muslimen besetzten Boden bleiben durften. Deshalb vertraute der Papst dem Orden die Aufgabe an, die Heiligen Stätten der Erlösung im Namen der ganzen Christenheit wieder instand zu setzen und über sie zu wachen. Und auch wieder für die Anwesenheit von Katholiken in der Umgebung der Heiligen Stätten Sorge zu tragen, um das Prinzip wiederzubeleben, dass diese Stätten nicht nur Steine, sondern «lebendige Steine» sein sollen. In Nazareth, Bethlehem, Jerusalem, Jericho, Kana, Jaffa trifft sich heute die Kirche und feiert die Sakramente. Diese Stätten sind auch Pfarreien.

In welchem Geist kümmert sie sich darum?
Der heilige Franziskus war der Mann der Inkarnation. Er war der in den Mensch gewordenen Christus verliebte Mann. Denken wir an die Krippe von Greccio, an die Wundmale, die er oben in La Verna empfängt: Franziskus will sich ganz, auch körperlich, mit Jesus identifizieren, wünscht, ganz eins mit ihm zu werden, gerade auch in der konkreten Bedeutung des Wortes. Und man kann sich nicht mit Jesus identifizieren, ohne die Orte einzubeziehen, wo er gelebt hat. Dieses Land spricht von Ihm. Also ist es wesentlich für uns, hier zu sein. Ein zweiter Aspekt zeigt sich in der berühmten Episode seiner Begegnung mit dem Sultan, mit dem Franziskus bei seinem Besuch des Heiligen Landes sprechen wollte. Und das ist mehr oder weniger immer der Stil gewesen, der für unsere Anwesenheit kennzeichnend war. Es fehlte nicht an schwierigen Momenten, an großen Spannungen, auch an Toten und Martyrern. Im Laufe dieser 800 Jahre haben wir uns immer voller Stolz, mit Zähnen und Klauen an diesem Land, diesen Orten festgehalten, aber immer im Gespräch mit allen, ohne jemals Barrikaden zu errichten.

Macht es angesichts der heutigen politischen Schwierigkeiten noch Sinn, dass die Kirche diese Art der Präsenz aufrecht erhält?
Es macht vielleicht noch mehr Sinn als in der Vergangenheit. In einem Land zu bleiben, wo der politische Kampf in jeder Hinsicht so grausam ist, an jenen Orten festzuhalten - natürlich auch an den Personen, dem christlichen Volk - ohne sich von der Sprache und dem Verhalten der Politiker entmutigen zu lassen, ist wesentlich. Es ist das Zeugnis, das wir geben müssen und das die Kirche braucht. Wir wollen nicht gleichen Abstand halten oder «gleiche Nähe», wie man heute sagt. Das sind alles politische Schlagworte. Wir sind mitten im Leben der Leute, wir teilen ihre Probleme und versuchen, allen gegenüber frei zu sein und alle gleichermaßen zu lieben. Und den Politikern ihre Aufgabe zu überlassen, die nicht unsere ist.

Die Franziskaner sind in besonderer Weise ein Vorposten in einem Land, in dem vor allem der Ursprung der christlichen Geschichte liegt, mehr als in Europa. Was bedeutet es, an dieser Grenze zu leben?
Es ist wirklich eine Grenze. Es ist ein Land der Begegnung aber auch der Zusammenstöße, wo der Reichtum aus Orient und dem Abendland zusammenfließt und eine großartige Symphonie erzeugt, aber manchmal auch ein Geschrei, einen furchtbaren Schmerzensschrei. Hier sind Leiden und Kreuz sehr offensichtlich und die kulturellen Spannungen sehr stark. Wir versuchen mit viel Demut, ohne Überheblichkeit auszuharren, ganz einfach zu bleiben. Und das Mögliche zu tun, Tag für Tag.

Auch in jüngster Zeit haben die Franziskaner persönliche Risiken auf sich genommen: Ich denke an die Belagerung der Tsahal in der Basilika von Bethlehem durch das israelische Heer 2002.
Die Kustodie ist vor allem eine große Gnade, die die Vorsehung uns anvertraut hat. Die Gefahr ist, sich daran zu gewöhnen. Aber es ist eine ständige Herausforderung, sich nach der Person Jesu zu befragen. Denn diese Orte sollen uns auf Ihn verweisen. Nazareth, Bethlehem, Jerusalem laden zum Gebet ein, aber auch dazu, sich über diesen Jesus Fragen zu stellen, der hier seine ersten Schritte tat. Fragen über die Kirche, die an diesen Orten jeweils einen besonderen Augenblick Seines Lebens feiert und daran erinnert. Ungeachtet aller Risiken besteht die wirkliche Herausforderungen darin, uns die Frage zu stellen: «Wer ist dieser Mensch?» Unsere sicherlich nicht leichte Aufgabe macht Sinn gerade mit Bezug auf Seine Person.

Sonst läuft man Gefahr, die Stätten aus rein ästhetischen oder touristischen Gründen zu verehren.
Ja, der Ort an sich ist nicht wichtig. Seine Bedeutung bezieht er aus dem, woran er erinnert. Er selbst feiert, enthält und hütet das Gedächtnis einer Episode aus dem Leben Jesu, eines wichtigen Augenblicks unseres Glaubens. Deshalb ist es für einen Pilger so wichtig, alle Etappen im Heiligen Land zurückzulegen. Aber jeder Ort muss uns stets auf die Person Jesu verweisen. Das Evangelium hier zu lesen, ist nicht einfach ein kultureller Vorgang. Es ist der Versuch zu verstehen und zu vertiefen, tiefer in das Ereignis Christi einzudringen.

Mit Johannes Paul II. haben sich Christen und Juden auf neue Weise einander genähert. Es war wie die Wiederentdeckung eines gemeinsamen Empfindens. Was heißt es vor diesem Hintergrund für einen Christen, nicht nur an den Gedenkstätten Christi zu leben, sondern auch in das Leben dieses Volkes einbezogen zu sein?
Auf politischer Ebene sind die Beziehungen zum Staat Israel ziemlich herzlich. Natürlich gibt es manchmal Spannungen. Das ist unvermeidbar bei all diesen Verflechtungen von Interessen, aber das Klima ist entspannt. Israel braucht unsere karitativen Einrichtungen nicht, die hat es selbst und viel bessere. Deshalb ist unsere Präsenz als Kirche, im Unterschied zu den Gebieten der Palästinenser, gerade auf kultureller Ebene sinnvoll und notwendig. Auf diesem Gebiet gibt es heute sicher große Möglichkeiten. Wir stehen uns sehr nahe, haben die gleiche Sprache. Literatur, Kunst und Geschichte bieten außerordentlich interessante Themen für Gespräche, zu denen Israel bereit ist. Johannes Paul II. hat, wie ich glaube, die Einstellung der Kirche zu Israel und umgekehrt irreversibel verändert. Es gibt allerdings noch viel zu tun. Besonders auf gesellschaftlicher Ebene muss man dahin wirken, dass die Errungenschaften der letzten Jahre in die Mentalität und Denkweise der Menschen eindringen, und dafür braucht es noch viel Zeit. Aber bei den religiösen Autoritäten gibt es schon einen wirklichen Wandel - abgesehen von dem einen oder anderen Fanatiker, den es schon immer gab. Es hat verschiedene, außerordentlich fruchtbare Begegnungen zu Aspekten des Glaubenslebens, der Heiligkeit des Leben und der Gerechtigkeit gegeben. Auch Tagungen über biblische Themen und die Interpretation bestimmter Schriftstellen. Der gesamte Kontext des Neuen Testaments ist ein jüdischer Kontext, den wir wieder entdecken müssen. Dabei können uns die Juden sehr helfen. Es gibt nur eine Offenbarung und nur einen Weg, der Weg zum Heil führt über Jesus. Aber in welcher Beziehung steht Israel zu all dem? Aus theologischer Sicht - das hat Benedikt XVI. gesagt - müssen wir noch viel studieren.

Gibt es Juden, die mehr über das Christentum wissen möchten? Gibt es ein Interesse für Jesus?
Absolut. Jeder Jude bleibt betroffen wenn er das Neue Testament liest. Und er findet nichts Antijüdisches in ihm. Im Gegenteil, er begreift, dass es alles in allem, «seine Sache» ist. Das Interesse für die Person Jesu ist heute sehr ausgeprägt. Die Schwierigkeit besteht darin, die Göttlichkeit Jesu zu akzeptieren. Als ich noch studierte, kam es oft vor, dass ich mit einigen jüdischen Freunden, gläubigen Juden, das Evangelium las, ohne Hintergedanken, einfach so, aus Vergnügen daran, zusammen in diesen Seiten zu blättern. Sehr oft tauchte dann die Frage auf: «Das ist eine wundervolle Botschaft, Jesus ist eine außergewöhnliche Gestalt, aber warum müssen wir ihn auferstehen lassen?» Für einen Juden wäre der Inhalt des Evangeliums eine wundervolle Botschaft, auch wenn Jesus auf Golgatha einfach gestorben wäre. Das ist die große Schwierigkeit.

Gibt es Juden, die Christen werden?
Wenige. Es gibt eine katholische Gemeinschaft «hebräischer Sprache»: 700 bis 800 Personen, von denen die Hälfte getaufte Juden sind, die anderen keine Juden, sondern «heidnische» Israelis waren. Es ist beeindruckend, dass ihre Liturgie ausschließlich hebräisch ist: zum ersten Mal nach 2000 Jahren betet die Kirche hier hebräisch, wie am Anfang. Mit der Geburt Israels ist wieder ein Umfeld entstanden, in dem die Kirche in dieser Sprache betet, spricht, unterrichtet und in ein jüdisches Umfeld eingefügt ist. Ich glaube, dass diese kleine Gruppe eine doppelte Berufung hat: Einerseits in Israel einen Aspekt der Kirche bekannt zu machen, der der jüdischen Welt nicht feindlich gegenübersteht, und andererseits die Kirche wissen zu lassen, wie wichtig ihre eigene Beziehung zu Israel auch auf theologischem Gebiet ist.

Eine Gruppe Gefangener des Hochsicherheitsgefängnisses von Meghiddo hat kürzlich zufällig bei Grabungsarbeiten in einem Innenhof wunderschöne christliche Mosaike zu Tage gefördert, auf denen der Text enthalten ist «Gott Jesus Christus, damit Seiner gedacht wird». Wie schätzen Sie den Fund ein?
Sicher handelt es sich um einen sehr alten Fußboden. Es gibt eine Diskussion unter Archäologen, die Untersuchungen werden vertieft. Aber sicher ist der Fund außerordentlich interessant. Wenn sich bestätigen würde, dass es sich um eine Kultstätte aus der Zeit vor dem 3. Jahrhundert handelt, wie schon behauptet wurde, wäre das eine außergewöhnliche Entdeckung. Zusammen mit Kapernaum wäre es der zweite Ort, wo der christliche Kult vor Konstantin bezeugt ist, der, wie man weiß, das ganze Gebiet tiefgreifend veränderte. Es wäre eine Erfahrung von Kirche als Haus (domus ecclesia) ganz nahe den Ursprüngen. In jedem Falle gibt es im Heiligen Land auch heute noch eine Kirche als Haus, die lebendig und den Ursprüngen ganz nah ist: Die Kirche ist hier und spricht zu mir.