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Das Bevorstehen seiner Ankunft
Luigi Giussani

Aufzeichnungen eines Gesprächs von Luigi Giussani anlässlich des Einkehrtages für die Memores Domini zum Advent, am 28. November 1971

Am ersten Sonntag im Advent beginnen wir das neue Leben in der Kirche, ein neues Jahr. Im Leben ist ein Jahr von großer Bedeutung, denn das Leben währt achtzig, neunzig Jahre (bestenfalls achtzig und neunzig, wenn man außergewöhnliches Glück hat1). Von diesen achtzig oder neunzig Jahren gehen fünfzehn, wenn nicht gar zwanzig ganz oder beinahe nutzlos verloren, wir leben sie unbewusst (sagen wir siebzehn statt zwanzig, wenn jemand einer christlichen Gemeinschaft begegnet ist!). Also ein Jahr ist in unserem Leben von großer Bedeutung. Und selbst wenn es von einem gewissen Standpunkt aus künstlich erscheinen mag, die Zeit auf diese Weise zu unterteilen, so bin ich überzeugt, dass es viel eher intelligent als künstlich ist, dieser Unterteilung Bedeutung beizumessen. Die Kirche stärkt diese Gewissheit, denn sie vollbringt mit dem liturgischen Jahr ein nicht zu unterschätzendes pädagogisches Werk: Indem sie nämlich – zumindest für uns in der westlichen Welt – dem Rhythmus der Natur folgt und den Rhythmus der christlichen Existenz mit dem der Natur vergleicht (der christlichen Existenz als Geschichte und als Person). So passt die Kirche ihr Jahr den Zeiten der Natur an, die dadurch unmittelbar Symbol und Zeichen für die Zeiten der persönlichen und der geschichtlichen Existenz werden.
Ich glaube, dieser Moment ist wirklich wichtig. Ruft man ihn sich erst einmal in Erinnerung, dann gewinnt er sein ganzes Gewicht durch das Bewusstsein, die Wachsamkeit, die er in uns hervorruft, mehr noch als durch Worte, die wir dazu hören können. Doch können einige Worte unserem Bewusstsein helfen. Die ganze Schwierigkeit liegt aber in unserem Bewusstsein.

1. Das Bevorstehen Seiner Ankunft

Die Liturgie des ersten Sonntags im Advent scheint mir hierfür entscheidend2. Im Buch des Propheten Jesaja, Kapitel 2, Verse 1-5 lesen wir: «Das Wort, das Jesaja, der Sohn des Amoz, in einer Vision über Juda und Jerusalem gehört hat. [«Vision», also Eingebung des göttlichen Plans, «über Juda und Jerusalem», über das auserwählte Volk und seine Ansiedlung, die, im Unterschied zu allen anderen menschlichen Ansiedlungen eine unvergängliche Bedeutung hat. Denn die Ansiedlung des Gottesvolkes ist Zeichen, Sakrament der letzten Wohnstatt des Menschen, das heißt des Paradieses]. Am Ende der Tage wird es geschehen: Der Berg mit dem Haus des Herrn steht fest gegründet als höchster der Berge; er überragt alle Hügel. Zu ihm strömen alle Völker. Viele Nationen machen sich auf den Weg; sie sagen: “Kommt, wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn und zum Haus des Gottes Jakobs. Er zeigt uns seine Wege, auf seinen Pfaden wollen wir gehen“. Denn von Zion kommt die Weisung des Herrn, aus Jerusalem sein Wort. Er spricht Recht im Streit der Völker, er weist viele Nationen zurecht. Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Sicheln aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg. Ihr vom Haus Jakob, kommt, wir wollen unsere Wege gehen im Licht des Herrn»3.
Das erste Wort, das uns der Text des Jesaja nahe legt, muss in uns unmittelbar das Bewusstsein der Endgültigkeit wecken. Das Bewusstsein der Endgültigkeit ist wie unser Selbstbewusstsein: Es ist immer da. Es könnte etwa eine Gewissenserforschung sein oder ein Akt der Bußfertigkeit für die heutige Messe, für diesen Tag und das Opfer, das wir dafür bringen. Das Bewusstsein der Endgültigkeit muss uns begleiten wie unser Selbstbewusstsein. Tatsächlich ist Selbstbewusstsein das Bewusstsein von etwas Endgültigem. Denn unser Ich ist endgültig. Aber noch endgültiger ist der Sinn unseres Ichs. Und der Sinn unseres Ichs ist Jesus Christus und Sein Geheimnis. Deshalb betrifft die Endgültigkeit unser Festhalten an Ihm, unser Festhalten in der Art und Weise, die Er für unser Leben bestimmt hat (denn es gibt keine andere Art und Weise; um an Ihm festzuhalten, gibt es nur die Art und Weise, die Er für unser Leben bestimmt hat). Das Bewusstsein der Endgültigkeit ist das genaueste Merkmal des wahren christlichen Selbstbewusstseins – eines Selbstbewusstseins, das uns das Leben als Berufung wahrnehmen lässt.
Es gibt ein Wort, das das Bewusstsein unserer Endgültigkeit unmittelbar lebendig werden lässt. Ohne dieses Wort ist die Endgültigkeit hingegen nicht lebendig, ja sie kann etwas Automatisches geworden sein. Es geht mir hier nicht um abstrakte Bemerkungen: Wenn ich auf die Einstellung einiger von euch schauen, dann stelle ich fest, dass sie die Endgültigkeit wie automatisch leben. Ohne das Wort, das wir im Begriff sind zu sagen, ist die Endgültigkeit wie etwas Automatisches. Wie jeder Automatismus im bewussten Leben, im Leben des Intellekts, der Freiheit und des Willens, lässt er uns starr werden. Es ist eine Verhärtung, die uns keine Gewissensbisse zu machen scheint, solange sie nicht zu Todsünden führt. Aber es ist eine solche Verhärtung, dass sie kein Zeichen von Christus in die Welt trägt und erst recht nicht in das «Haus»4. Der Automatismus verursacht aber auch eine Verhärtung, die uns auf unterschiedliche Weise zu Pharisäern werden lässt, das heißt sie tendiert dazu, aus unserem Verhalten das Vorbild für die anderen zu machen. Das Maß unseres Bedürfnisses wird zum Maß der Güte der anderen, des Wertes der anderen, zum Maß für den Nutzen des Hauses oder den Nutzen in der Beziehungen. Und so wird dieses Maß zum Anspruch. Oder die Verhärtung führt zu einem Pharisäertum, das uns – angesichts der uns zugestandenen Freiheiten, angesichts der Freiheiten, die wir uns nehmen und die für das Haus oder für die Beziehungen ein Skandal sind, oder die uns von den Beziehungen abschneiden, uns unnütz machen, nichtig, leer, ohne einen positiven Beitrag zu den Beziehungen – das uns angesichts all dessen im Grunde sagen lässt: «Na und, was ist schon Schlimmes dabei?», oder «Was soll ich tun, was soll ich im Grunde tun?» Und das ist, wenn nicht eine Art theoretischer Rechtfertigung, so doch eine Art Rechtfertigung vor sich selbst, quasi ein Unwohlsein bei dem Gedanken, dass andere gegen unser Verhalten Einwände haben könnten.
Es ist ein Automatismus, der alles erstarren lässt und dem geistigen Leben jeden Geschmack nimmt, dem Leben unseres Geistes jeden Gehalt, jede Würze. Oder es ist ein pharisäischer Automatismus, der aus unserem Anspruch das Maß des Zusammenlebens macht (wenn wir Lust haben zu sprechen, müssen auch die anderen sprechen, und wenn wir uns zurückziehen wollen, dürfen sie nichts von uns verlangen; wir haben das Recht zu schweigen und zu reden, wann und wie wir wollen, wobei auf dem Grund der Seele jener charakteristische Anspruch lauert, jener Sinn für Anspruch, den die anderen, auch wenn wir nicht wagen ihn auszusprechen, sinnlich wahrnehmen, wie wenn sie unser Inneres mit dem Ellbogen berühren und uns ins Gesicht sehen). Oder es ist das Pharisäertum, das unser Verhalten, wenn nicht generell, so doch wenigstens ad usum delphini [zum Gebrauch des Kronprinzen], vor uns selbst rechtfertigt. Bei allem was ich gesagt habe, geht unsere Endgültigkeit unvermeidlich verloren, wenn wir nicht das Wort berücksichtigen, das der Prophet Jesaja uns als Erster gesagt hat. Und das Wort besagt, dass Christus, Sein Kommen, bevorsteht: Das Bevorstehen Seines Kommens.
In der Tat sagt das Wort des Propheten zweierlei: Christus muss kommen, er hat also einen Auftrag, eine Pflicht zu erfüllen, und er wird kommen, sein Kommen ist also ein bevorstehendes, überragendes Ereignis. Ich will hier besonders den zweiten Aspekt hervorheben, zumal der erste sich offensichtlich daraus ableitet: Denn ein Auftrag, ein bevorstehendes Ereignis, wenn sie denn nicht nichtig sind, führen zu einer Verpflichtung, bewirken eine Pflicht, die sie auferlegen.
Das Bevorstehen Seines Kommens, der Auftrag seines Kommens. «Brüder – sagt der heilige Paulus – bedenkt die gegenwärtige Zeit: Die Stunde ist gekommen, vom Schlaf aufzustehen. Denn jetzt ist das Heil uns näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe»5, es ist Zeit, dass ihr vom Schlaf aufwacht. Das Evangelium nach Matthäus sagt: «Wie die Menschen in jenen Tagen nichts ahnten, bis die Flut hereinbrach und alle wegraffte, so wird es auch bei der Ankunft des Menschensohnes sein. Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt. Bedenkt: Wenn der Herr des Hauses wüsste, zu welcher Stunde in der Nacht der Dieb kommt, würde er wach bleiben und nicht zulassen, dass man in sein Haus einbricht. Darum haltet auch ihr euch bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet.»6 Hier geht es um einen Auftrag, um ein bevorstehendes Ereignis, das als eigentliche, höchste Bedeutung wortwörtlich folgende hat: Der Auftrag und das Bevorstehen des Todes. Denn der Tod ist der Menschensohn, der kommt, mit allem, was das bedeutet. Aber dieses nicht Wissen, wann der Tod kommt, dieses wachsam sein müssen, dieses Ende der Tage, wenn der Herr «den Berg mit seinem Tempel fest begründen wird», die Tatsache, nicht den Zeitpunkt zu kennen, an dem der Herr kommt, all das drückt sehr viel klarer aus, besser noch, ist die einzige Art und Weise, das Bewusstsein, das Wissen um unser Handeln auszudrücken, das ganz ausgerichtet ist auf den letzten Sinn oder von ihm bestimmt wird.
Alle unsere Taten, jeder Augenblick ist ein Schritt auf den Herrn zu, der kommt. Deshalb ist jede Tat und jeder Augenblick der Herr, der kommt, genau so wie jede Tat, jeder Augenblick der letzte sein kann. Wenn doch die Angst von der Sehnsucht beherrscht würde, wenn die Furcht von der Erwartung beherrscht würde! So lebt man die Ankunft des Herrn, der kommt, so lebt man den Auftrag Christi, den Auftrag des Kommens Christi. Regelrecht jede Tat hat ihre Bedeutung in Seinem Kommen, im engeren Sinn des Wortes, im Tod.

2. Wachsamkeit und Bußfertigkeit

Wenn Er kommt, wird er richten. Das ist der zweite Moment unserer Überlegung, das zweite Stichwort für unsere Meditation. Wenn Er kommt, wird er richten. Das Evangelium nach Matthäus sagt: «Dann wird von zwei Männern, die auf dem Feld arbeiten, einer mitgenommen und einer zurückgelassen. Und von zwei Frauen, die mit derselben Mühle mahlen, wird eine mitgenommen und eine zurückgelassen»7. Wenn der Herr kommt, wird er richten. Wie schön ist das Lied Cantate al Signore8, das seinen freudigen Ruf mit dem Gedanken schließt, dass der Herr kommt und die ganze Erde richtet. Diese Erwartung und diese Sehnsucht beherrschen und meistern Furcht und Angst. Angst und Furcht schalten in uns unmerklich den vernünftigsten Gedanken aus, den wir haben können: Kein Gedanke ist vernünftig, wenn er nicht aus dem Bewusstsein des Endes kommt. Eine Tat ist nur in dem Maße vernünftig, in dem sie Ausdruck ist vom Bewusstsein des Endes. Kein Gedanke ist vernünftiger als derjenige, der unser Herz erfüllt mit Seinem Auftrag, mit Seinem Kommen, mit dem Bevorstehen Seines Kommens. Aber Angst und Furcht löschen all das aus. Es sei denn sie reproduzieren es gelegentlich. Wenn sie dann aber nicht wie Dynamit, das einen Weg sprengt, Erwartung und Sehnsucht bewirken, dann belasten sie das christliche Leben mit jener Strenge, derentwegen es für niemanden mehr Zeugnis wird, sondern nur ein Joch, das nicht, wie versprochen, leicht ist9.
Erwartung und Sehnsucht müssen Angst und Furcht bestimmen und beherrschen. Angst und Furcht bleiben, aber sie bleiben als Erwartung und Sehnsucht. Sie werden deshalb von der Liebe überwältigt. Denn in der Liebe bleibt die Furcht, und die «heilige Furcht vor Gott» zeigt diese beiden Komponenten des Bewusstseins unserer Beziehung zu Christus, des Bewusstseins der Beziehung unseres Lebens zum Ewigen und zu Gott. Aber die Gestalt dieser Furcht, das, was sie bestimmt, genauer, das Antlitz der Furcht, dieser rohen, trägen Masse, ist die Liebe und der heilige Johannes sagt in seinem ersten Brief: «die Liebe vertreibt die Furcht»10; sie «vertreibt» sie, das heißt sie verwandelt sie. Tatsächlich ist auch die Liebe von Mann und Frau und von Kindern zu ihren Eltern keine Liebe ohne Respekt, ohne reverentia – Reverenz kommt aus dem Lateinischen und heißt fürchten, revereor – . Denn unsere Liebe ist keine Gleichberechtigte. Liebe auf der Ebene der Gleichberechtigung wäre für uns wie ein Geschäftsvertrag. In der Tat ist das für die bürgerliche Mentalität das Ideal der Ehe, aber auch für die Mentalität der studentischen Protestbewegung unter der Flagge der Pariser Tage vom Mai '68. Wir hängen von allem ab, weil eben alles den Plan Gottes für uns enthüllt. Alles, das heißt jeder Gegenstand, jeder Mensch und jedes Ereignis.
Am Ende also wird Er urteilen. Sein Kommen wird ein Gericht sein. Wie kann man Erwartung und Sehnsucht zu einem Urteil werden lassen, wenn dieses Urteil nicht Vergleichsmaßstab wird, nicht dazu tendiert Paradigma zu werden, das heißt Maßstab, Anregung, Gesetz für jede Tat (damit jede Tat, jeder Augenblick ein Schritt zu diesem Ende hin wird oder dieses Ende selbst)? Nur wenn dieses Urteil Paradigma, Gesetz, Maßstab, Anregung wird, also dazu tendiert das Tun zu bestimmen (jede Tat, jeden Schritt), dann wird jeder Schritt Erwartung und Sehnsucht, Erwartung der Sehnsucht; dann wird jeder Schritt Liebe und die Liebe verwandelt die Furcht, und die reverentia wird «Devotion», Gelöbnis des ganzen eigenen Seins, Hingabe des eigenen Seins, kurz und gut Liebe.
«Lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. Lasst uns ehrenhaft leben wie am Tage [wie an “jenem“ Tag, denn es ist der Tag des Endes, der alle Tage des Daseins beleuchtet; es ist nicht der erste Tag, denn der erste Tag war wie ein Samen. Es ist “jener“ Tag, der das ganze Ausmaß, alle möglichen Entwicklungen des Samens sehen lässt. Es ist die Sehnsucht nach dem Ende, die den Anfang leben lässt]: ohne maßloses Essen und Trinken, ohne Unzucht und Ausschweifung, ohne Streit und Eifersucht. Legt (als neues Gewand) den Herrn Jesus Christus an [legt das Gewand des Gerichts, des Jüngsten Gerichts an, denn das Jüngste Gericht ist Sein Kommen, das heißt Er ist es, der kommt] und sorgt nicht so für euren Leib, dass die Begierden erwachen [folgt nicht den Maßstäben dieser Welt, auch nicht bei all der Neigungen, welche die Erbsünde in uns weckt].»11
«Legt den Herrn Jesus Christus an»: werdet eins mit dem Herrn Jesus Christus; damit das Handeln als imitatio Christi, als Nachfolge Christi ersehnt wird. Aber ist die Nachfolge Christi nicht in ihrer vollkommensten Form, vollkommen als Form, nicht die Jungfräulichkeit? «Legt den Herrn Jesus Christus an»: Damit alles Tun auf die Jungfräulichkeit ausgerichtet ist, die Form der Jungfräulichkeit hat! «Wer mein Jünger sein will ... folge mir nach»12. Folge mir, folgt mir: «Der Sklave ist nicht größer als der Herr, wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen»13. Deshalb nimmt jede Handlung und jeder Augenblick das Jüngste Gericht vorweg.
Jede Handlung ist ein Urteil. Welch gekünstelte Übung, welch spirituelles Akademikertum, welch recht leicht erkennbarer Gewaltakt, welch flüchtiger Moment ohne echten Widerschein im Leben, welche Bedeutungslosigkeit gegenüber dem vollendeten Leben kann die Buße sein – als Sakrament – oder die Zerknirschung, die die christliche Gemeinschaft zur Eröffnung der Messfeier verlangt! Wie sehr ist aus unserem Tageslauf sorgfältig jeder Hauch eines Urteils herausgestrichen, jeder Hauch des Urteils! Man spricht von «Gewissenserforschung», weil der «Jesuitismus» und die intellektualistische, rationalistische und voluntaristische Verkürzung der Kirche im Laufe dieser 400 Jahre vergessen haben, dass der wahre Begriff «Zerknirschung» heißt. Die Zerknirschung des römischen Zenturionen: «Herr, ich bin nicht würdig»,1 oder die des Petrus: «Herr, geh weg von mir; ich bin ein Sünder.» Die Zerknirschung, die es bei uns in jedem Tageslauf geben muss und die ein Urteil ist. Jede unserer Handlungen ist ein Urteil, das sich verwirklicht. Denn jede unserer Handlungen greift vor auf das Jüngste Gericht, auf Sein Kommen. Wenn nun die Handlung ein solches Urteil ist, wie es Christus im 25. Kapitel des Matthäusevangeliums sagt («Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid»2), dann ist sie voller Liebe und strebt von Natur aus danach, dass sich Sein Kommen in die Welt verwirklicht. Wenn sie hingegen ein Urteil ist, wie das im 25. Kapitel («Weg von mir, ihr Verfluchten»), dann gibt es sofort Heulen und Zähneknirschen; und so entfernt die Zerknirschung die Hölle, so lässt die Zerknirschung alles zur Erwartung und Sehnsucht Seines Kommens werden, auch die unrechte Handlung, auch die «böse» Handlung. «Erlöse uns von dem Bösen!»3
Aber die tägliche Zerknirschung steht in dem Maße, wie die christliche Reife voranschreitet, stets an unserer Türschwelle, und wir umarmen sie und haken uns bei ihr unter, wir gehen gemeinsam mit ihr, wir geben uns ihr hin, jedes Mal, wenn wir ausgehen, das heißt tendenziell bei allen unseren Handlungen, zumindest aber am Abend. Vor allem jedoch soll die Zerknirschung, die am Beginn der christlichen Versammlung steht, oder die Zerknirschung, die im Herzen unserer Teilnahme am Geheimnis Christi liegt, das sich im Sakrament der Buße ausdrückt, unser Jahr prägen. Ohne eine solche Zerknirschung ist unsere Erwartung, unsere Sehnsucht zu kindisch oder zu leicht, ist sie ein wenig oberflächlich, das heißt sie wird allzu selbstverständlich hingenommen. Nur mit der Zerknirschung ist das Bevorstehen Christi, das Hereinbrechen Christi strahlend lebendig in euch, und die Wachsamkeit wird verwirklicht. Die Wachsamkeit ist also Zerknirschung. Existenziell, auf dem Weg unseres Daseins, ist die Wachsamkeit Zerknirschung voller Liebe, sie ist es, welche die Erwartung und die Sehnsucht nährt, und sie ist in der Erwartung und der Sehnsucht das klare Bewusstsein, die wirkliche Erfahrung des Bevorstehens und des Hereinbrechens Christi. «Wie die Menschen in den Tagen vor der Flut aßen und tranken und heirateten, bis zu dem Tag, an dem Noah in die Arche ging, und nichts ahnten, bis die Flut hereinbrach und alle wegraffte. Seid also wachsam!»4 «Seid wachsam»: das ist unsere Handlung, unser Ausdruck als Urteil, unser Moment als Urteil.
Wie kann in uns ein Selbstbewusstsein wachsen, dass von diesem Sich-Hineingenommensein in Christus geprägt ist? Christus ist nicht der Christus der Toten, sondern der Christus der Lebenden, der lebendige Christus, mithin der Christus, der bald kommt, der gestorbene und auferstandene Christus, der bald kommt. Wie können wir dieses christliche Selbstbewusstsein leben, wenn nicht als lebhaften Sinn für das Hereinbrechen Seines Kommens, als Sinn für das Leben, das im Tod seinen Höhepunkt findet, als Sinn für den Tod, aber durch das Bewusstsein der Handlung, die auf den Tod vorgreift? Der Tod ist Gericht, und die Handlung, die Urteil ist, greift vor auf dieses Gericht, denn jenes Gericht wird das Ergebnis dieser Urteile sein: «Wer das Böse tut, ist schon gerichtet.»5 Wir sind schon gerichtet, und deshalb «sind wir aus dem Tod in das Leben hinüber gegangen»,6 denn «Wer kann uns verurteilen? Etwa Christus Jesus, der für uns gestorben und auferweckt worden ist?»7 Aber dieses «für uns» müssen wir verinnerlichen, es muss Bewusstsein werden.
Deshalb ist die Wachsamkeit das Thema, das die Kirche an die Spitze unseres neuen Lebensjahres stellt, als Sinn für das Hereinbrechen Seines Kommens, folglich als Erwartung und Sehnsucht Seines Kommens, die, um nicht oberflächlich und eitel zu sein, aus der Zerknirschung hervorgehen müssen. Denn unser Dasein lebt nicht aus diesem Bewusstsein, es lebt weniger als so, viel weniger. Mithin kann man sagen, dass an der Spitze unseres neuen Lebensjahres das Wort Zerknirschung steht, eben als geistliche Übung, als Askese, als Geste unserer Askese. Es ist gleichsam das Thema unseres persönlichen Bewusstseins dieses Jahres. Die Zerknirschung im Tageslauf, die Zerknirschung am Abend oder am Morgen – damit sie soweit wie möglich den Tag prägt, damit sie danach strebt, Anfang jeder Handlung zu werden, Anfang jeder Beziehung, immer an der Türschwelle, unmittelbare Begleitung jedes Mal, wenn wir ausgehen – aber vor allem die Zerknirschung am Beginn der Messe – eine echte Zerknirschung, ausgesprochen oder unausgesprochen; sie auszusprechen, soll die Wahrheit vermehren – und im Sakrament der Buße, das die meisten von uns noch nicht leben. Es geht also um die Wachsamkeit als Zerknirschung, die Wachsamkeit des Hereinbrechens Christi als Zerknirschung.

3. Gottes Haus aufbauen

Dritter und letzter Gedanke: Wir haben eingangs gesagt, dass das Bevorstehen eine weitere Bedeutung hat: Es ist ein Synonym für Pflicht. Worin besteht die Pflicht? In dem, wofür uns das Leben gegeben ist, wofür uns das christliche Leben gegeben ist und wofür uns die Berufung zur Jungfräulichkeit gegeben ist, wofür uns das Leben gegeben ist, das Berufung ist. Warum sind wir berufen worden? Zu was? Es wäre interessant, eure Antworten zu hören. Das Leben ist uns gegeben für die Mission. Punkt. Um Mitarbeiter für Gottes Plan zu sein, der Christus ist. Und wir kennen ihn, «wir besitzen den Geist Christi.»8 «Wir besitzen den Geist Christi». Er ist uns gegeben für die Mission. Der heutige Psalm sagt: «Ich freute mich, als man mir sagte: “Zum Haus des Herrn wollen wir pilgern.” Schon stehen wir in deinen Toren, Jerusalem. Denn dort stehen Throne bereit für das Gericht, die Throne des Hauses David. Erbittet für Jerusalem Frieden! Wer dich liebt, sei in dir geborgen. Friede wohne in deinen Mauern, in deinen Häusern Geborgenheit. Wegen meiner Brüder und Freunde will ich sagen: In dir sei Friede. Wegen des Hauses des Herrn, unseres Gottes, will ich dir Glück erflehen.»9 Denn dort ist es, wo sich – wie der Halleluja-Vers sagt10 –«deine Huld erweist, o Herr»; dort ist es, wo du uns das Heil schenkst («Denn jetzt ist das Heil uns viel näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden.»)11
Die Mission ist der Aufbau Jerusalems. Aber was bedeutet es, Jerusalem aufzubauen, was bedeutet es, das Haus Gottes aufzubauen, was bedeutet es, die Kirche aufzubauen? «Freude denen, die dich lieben, Frieden über Jerusalem. Frieden zwischen deinen Mauern, Sicherheit, Liebe unter meinen Brüdern und meinen Freunden; ich sage dir: über dir sei Friede [ich wünsche dir jegliches Gute].» Das ist die richtige Haltung des Urteils: der, der das Gute wünscht. Das ist der Sitz des Hauses Davids: der, der sagt: «Friede über dir.» Und so «steht der Berg mit dem Haus des Herrn fest gegründet als höchster der Berge. Zu ihm strömen alle Völker. «Kommt, wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn. Er zeige uns seine Wege, auf seinen Pfaden wollen wir gehen. Denn von Zion kommt die Weisung des Herrn, aus Jerusalem sein Wort. Er spricht Recht im Streit der Völker. Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg. So dass alle, Ihr vom Haus Jakob, ihre Wege gehen im Licht des Herrn.»12
Die Kirche aufzubauen bedeutet, ein Geflecht der Liebe aufzubauen, die Bruderschaft der Kinder Gottes. Nur aus dem Ort der Bruderschaft geht das Urteil über die Nationen, über die Völker hervor; deshalb geht nur von einem Ort der Bruderschaft Licht aus über die anderen, und die Leute strömen herbei. Wer will, wer offene Augen hat, wer reinen Herzens ist, strömt herbei, wer arm im Geiste ist, weiß, wo es hinzugehen gilt. Nur aus dem Geflecht der Bruderschaft geht das Urteil hervor: Wer arm im Geiste ist, weiß, wo es hinzugehen gilt. Nur das Geflecht der Bruderschaft, nur das Geflecht der Liebe, nur das Geflecht der Beziehungen, die als Gemeinschaft gelebt werden, nur die richtet die Welt: «Wisst ihr denn nicht, dass wir die Welt richten werden?»13 Das ist das Haus Gottes: errichtet nicht auf dem einen oder anderen Hügel, sondern «errichtet auf dem höchsten der Berge». Es ist selbst der Hügel, auf den alle Menschen schauen, die sich in der Ebene abmühen, in dem Maße, wie sie arm im Geiste sind. Nur in der Bruderschaft versteht man unsere Rede, versteht man sie wirklich, nicht in dem Sinne, dass man sie wiederholen kann, dass man sie noch einmal sagen kann, dass man Ideologien auf ihr aufbauen kann. Nur wer dieses Geflecht der Liebe lebt, versteht die Rede, viel mehr als unsere Gebildeten, als alle unsere Intellektuellen. Kurz, nur indem man ein Geflecht von Bruderschaft und Gemeinschaft lebt, ist man Missionar, ist man Apostel, verkündet man.
Die Verkündigung liegt allein hier. Deshalb geht es im Jüngsten Gericht um die Liebe, um die Gemeinschaft, und zugleich um das Zeugnis. Das sind die einzigen Inhalte des Jüngsten Gerichts, die in den Evangelien genannt werden: Das Zeugnis für Christus («dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt»14) und die Gemeinschaft (25. Kapitel bei Matthäus: «Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben»). Das Jüngste Gericht ist dies, das ist klar, denn das Kriterium, der Inhalt des Jüngsten Gerichts ist Christus. Es ist ein Vergleich mit Christus, nicht mit irgendwelchen Gesetzen, es ist der Vergleich mit einer Wirklichkeit, die sich in der Geschichte unseres Lebens ereignet hat: Eine Tatsache hat uns aufgenommen, hat uns in Seine Gemeinschaft einbezogen.
Deshalb soll jede unserer Handlungen, jeder Moment, in der Wachsamkeit Gemeinschaft und Drang sein – wie Paulus im fünften Kapitel des zweiten Korintherbriefes15 sagt – Drang zum Zeugnis, zur Verkündigung, zur Mission. Von dort her wird die Handlung, der Moment beurteilt: Nach seinem Drang zur Mission und nach seiner Verwirklichung der Gemeinschaft. Denn das ist es, was die Welt rettet: «Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Ich habe die Welt besiegt.»16 Auch wenn wir die Regierungen Chinas, Russlands und der USA in der Hand hätten, würde Christus uns sagen: «Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Ich habe die Welt besiegt», nicht eure Stärke. Und die Stärke, mit der Er die Welt besiegt, ist die Gemeinschaft, zu der Er uns befähigt, die Verkündigung, zu der Er uns befähigt – Gottes Wort «convertens animas»17 – die den Menschen mitreißt.
Das ist also der Gegenstand der Zerknirschung. Nur das: ob die Beziehung Gemeinschaft war, ob das Nachgeben oder das Nicht-Nachgeben Gemeinschaft war, ob der Beitrag oder die Flucht Gemeinschaft war, ob das Opfer Gemeinschaft war, die Arbeit oder die Ruhe, und ob all das beherrscht war vom Drang zur Mission. Die Zerknirschung bezieht sich also auf das Fehlen, auf die Unangemessenheit der Liebe, der Liebe zu Christus: der Leidenschaft für das Zeugnis, in dem unser Leben sterben sollte – Märtyrer! – und die Liebe zu den anderen – was dasselbe ist –: Gemeinschaft. Denn durch die Gemeinschaft bewahrheitet sich das Zeugnis, und im Drang des Willens zum Zeugnis wird die Gemeinschaft möglich, wird die Beziehung als Gemeinschaft möglich. Anderenfalls «auch wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe und meine ganze Habe den anderen, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts.»18

1 Vgl. Ps 90,10.
2 Jes 2,1-5; Ps 121; Röm 13, 11-14; Mt 24, 37-44.
3 Jes 2, 1-5.
4 Unter Haus versteht man die Form des festen Zusammenlebens der Memores Domini.
5 Vgl. Röm 13, 1-12.
6 Vgl. Mt 24, 38-39.42-44.
7 Vgl. Mt 24, 40-41.
8 Cantate al Signore un inno nuovo [Singet dem Herrn ein neues Lied] in Canti, Cooperativa Editoriale Nuovo Mondo, Mailand 2002, pp. 141-142.
9 Vgl. Mt 11, 30.
10 1Joh 4,18
11 Vgl. Röm 13,12-14.
12 Vgl. Mt 16, 24.
13 Vgl. Joh 15, 20.
1Mt 8,8
2Mt 25,34
3Mt 6,13
4Vgl. Mt 24,38–39.42
5Vgl. Joh 3,18
6Vgl. 1 Joh 3,14
7Vg. Röm 8,34
8Vgl. 1 Kor 2,12
9Ps 122,1–2,5–9
10«Erweise uns, Herr, deine Huld, und gewähre uns dein Heil!»(Ps 85,8)
11Röm 13,11
12Vgl. Jes 2,2–5
13Vgl. 1 Kor 6,2
14Joh 15,16
15Vgl. 2 Kor 5,14
16Vgl. Lk 12,32; Joh 16,33
17Ps 19,8
18Vgl. 1 Kor 13,3