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Die Vernunft ausweiten
«Es hängt der Himmel samt der Natur von jenem Pünktlein ab.» (Par. XXVIII, 41-42)
Marco Bersanelli

Der Mailänder Astrophysiker Marco Bersanelli zeigt anhand von Dantes Bild des Kosmos auf, welche wesentliche Rolle der Vernunft im Mittelalter zukam – ganz im Gegensatz zu verbreiteten Vorurteilen. Dabei spielt die Beobachtung des Gegebenen, wie es sich in der Erfahrung zeigt, eine zentrale Rolle. Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den Bersanelli bei der Veranstaltung «Dante09» des «Laboratoriums der Ideen» im September in Ravenna hielt.

Es ist nichts Außergewöhnliches, dass ein Dichter von Licht und Sternen spricht. Aber wenn Dante die Naturerscheinungen schildert, lässt er der Physik eine ganz besondere Aufmerksamkeit zuteil werden und legt eine geradezu rührende Leidenschaft an den Tag: In ihm vereinen sich das fein abtönende Beschreiben des Dichters und das genaue Untersuchen des Wissenschaftlers. In der Tat bietet die Göttliche Komödie viele Punkte, die ein Wahrnehmungsvermögen vorwegnehmen, das wir heute «wissenschaftlich» nennen würden. Wenn Dante zum Beispiel in Purg. XXV, 91-93 den Regenbogen beschreibt, beschränkt er sich nicht darauf, die vielfarbige Erscheinung des wunderbaren Lichtbogens zu verherrlichen («die Luft [...] verschiedenfarbig aufgeschmückt erscheint»), sondern verweilt dabei, in Synthesen den physikalischen Ursprung der Erscheinung zu erklären («wenn Regen sie [= die Luft] durchfeuchtet und sich ein Lichtstrahl spiegelnd in ihr bricht»), wobei er sie zutreffend mit der Reflexion des Sonnenlichts in der feuchten Luft gleichsetzt. Und bezüglich der Reflexion des Lichts haben wir in Purg. XV, 16-21 nichts Geringeres als eine peinlich genaue Beschreibung jenes Sachverhaltes, der heute als das Erste Gesetz von Snell bekannt ist: Der einfallende und der ausfallende Strahl bilden denselben Winkel bezüglich der Normalen. Wie viele andere Beispiele könnte man anführen! Eines der eindrucksvollsten zeigt sich vielleicht in Inf. XVII, 115-126, wo man Dante zusammen mit Vergil auf dem Rücken des geflügelten Ungeheuers Gerion findet, das in langsamen Runden zwischen den Höllenkreisen in die totale Finsternis hinabsteigt: Als er bemerkt, dass er mangels äußerer räumlicher Bezugspunkte nicht mehr in der Lage ist, zwischen Stillstand und Bewegung zu unterscheiden («Das Tier nun sah ich, das langsam, langsam vorwärts schwimmend kreist – und abwärts geht’s. Ich merk es nur an dem, dass ins Gesicht von unten mir der Wind fährt.»), scheint er das Relativitätsprinzip von Galileo Galilei um drei Jahrhunderte vorwegzunehmen.

Die Ordnung des Universums
Aber das, was noch mehr beeindruckt, ist die Natürlichkeit all dessen. Wenn Dante zur Beschreibung der Naturerscheinungen bis in die feinsten Einzelheiten vordringt, kann er seiner Dichtkunst dennoch freien Lauf lassen, und zwar ununterbrochen. Wissenschaft und Dichtung fallen im Versmaß der Terzinen zusammen, denn in seinen Augen ist die Wirklichkeit selbst poetisch, vereint mit ihrer Wurzel. Die Begeisterung und Bewunderung für jede Einzelheit stammen aus dem für die mittelalterliche Kultur typischen Bewusstsein, dass alle Dinge von Gott geschaffen und gewollt sind (Par. I, 103-141): Nichts im «Meer des Daseins» ist unbedeutend, weil jede einzelne Sache in Beziehung zum Ganzen steht. Dante erkennt eine Ordnung des Universums, eine Harmonie, die den Kosmos zu einem Zeichen des Göttlichen werden lässt («die Spur der ewigen Kraft»), ohne aber jemals den Schöpfer mit seiner Schöpfung zu verwechseln. Die Harmonie ist kein Selbstzweck, sondern sie dient der Unterstützung des Lebens und des Guten des Menschen (Par. X, 13-21).
Und was soll man zu der tiefen Wertschätzung Dantes für die Vernünftigkeit des Menschen sagen? Eine weite Vernunft, für die die Beobachtung des Gegebenen, wie es sich in der Erfahrung zeigt, eine zentrale Rolle spielt. Dies sieht man sehr gut an den verschiedenen Überaschungsangriffen Dantes auf das Lager der Wissenschaftler. Wie zum Beispiel an der Stelle, an der Beatrice die Hypothese über die Mondflecken widerlegt, die damals in Mode war (Par. II, 49-148): Ihre Argumentation enthält ein wunderbares Geflecht aus Beobachtung, Logik und Experiment (im modernen Sinn des Wortes!). Hier scheint man wirklich die schon gut entwickelte Wurzel des wissenschaftlichen Ansatzes zu erkennen: Wir sehen sie vor unseren Augen aus demselben Nährboden erwachsen wie die Dichtkunst und das Lob des Schöpfers.

Die Engelssphären in einem Kurvenraum
Wenn es eine Sache gibt, die kaum überzeugte, so handelt es sich dabei um das Bild Dantes vom Universum. Vielleicht erinnern wir uns an die etwas unsinnigen Darstellungen, bei denen sich die Erde im Zentrum befindet, umgeben von den neun Sphären des sinnlichen Universums, vom Mond bis zum Ersten Beweger; aber davon abgetrennt liegen die Schneeweiße Rose sowie die neun Engelssphären des Himmels in einer nur ungenau beschriebenen Position, die einen äußerst hellen Punkt umgeben, den Sitz des Göttlichen. Die zwei «Weltalle», das der Sinne und das der Engel, sind symmetrisch in der Anzahl und Anordnung ihrer Sphären, aber sie liegen auf zufällige Art und Weise getrennt voneinander und in einem nur schlecht definierten Raum, als ob es zwischen ihnen keine Verbindung gäbe. Ein unwahrscheinliches Modell des Kosmos, das keine einheitliche Struktur aufweist und keine glaubhafte Geometrie: Es ist ein Bild, das sich mit jener Spannung hin zur Schönheit und Harmonie nicht so recht verträgt, mit jenem Geschmack der Vernunft, von dem wir gesprochen haben. Aber ist es wirklich so? Ist dies wirklich die Vorstellung, die Dante vom Kosmos hat? Also, wenn wir dem aufs Wort glauben, was er behauptet (Par. XXVII, 67-120; Par. XXVIII, 13-78), ohne ein einziges Element wegzulassen, werden wir zu ganz anderen und auch zu überraschenden Schlüssen geführt.
Kurz gefasst, was sagt uns Dante über die Geometrie des Universums? Auf der einen Seite gibt es keinen Zweifel, dass er sich die Abfolge der Engelssphären um den göttlichen Punkt herum vorstellt, weil er die majestätische Vision ja in großer Genauigkeit schildert (Par. XXVIII, 16-42). Auf der anderen Seite behauptet er, und zwar mehr als einmal und auch ganz ausdrücklich, dass der Himmel den Ersten Beweger «umgibt» und folglich das ganze sinnliche Universum («Von Licht und Liebe ist er rings umhegt, wie er die andern Himmel hegt, ...» Par XXVII 112 – 113). Aber das ist widersprüchlich! Es wäre, wie wenn man sagen würde, dass das ganze Universum aus konzentrischen Sphären bestünde, die also immer größer würden, je weiter man sich von der Erde entfernte, aber nach dem Überschreiten einer gewissen Grenze (des Ersten Bewegers) anfingen, wieder kleiner zu werden und schließlich in einem einzigen Punkt zusammenzufallen, der nicht die Erde ist ... wie ist das möglich? In einem flachen (oder euklidischen) Raum ist dies natürlich völlig unsinnig, aber es ist vollkommen folgerichtig in einem Kurvenraum!
Wir können dies gut verstehen, wenn wir uns die Sphären Dantes mit auf ein Blatt Papier gezeichneten Kreisen vorstellen. Wenn das Blatt flach liegt, wie jedes Blatt Papier, können die Kreise nicht umhin, immer größer zu werden, je weiter wir uns vom Mittelpunkt entfernen. Wenn das Blatt aber eine Kurve ist, wie die Oberfläche eines Globus, wachsen die (parallelen) Kreise bis sie ein Maximum erreichen (der Äquator des Globus, der dem Ersten Beweger im Universum von Dante entspricht), um dann immer kleiner zu werden und sich schließlich um den entgegengesetzten Pol herum (den göttlichen Punkt) zu verengen. Die Himmel von Dante sind selbstverständlich keine Kreise, sondern richtige Sphären: Folglich muss der Raum, der sie umfasst, eine Dimension mehr haben im Vergleich zu den zwei Dimensionen der Oberfläche unseres Blattes. Daraus ist zu schließen, dass das Universum Dantes perfekt beschrieben wird, und zwar von nur einer einzigen sphärischen Oberfläche mit drei Dimensionen, die heute «Hypersphäre» genannt wird und die nur in einem vierdimensionalen Raum darstellbar ist!

Der Stütze der Welt
Aber das ist nicht alles. Die Symmetrie zwischen dem sinnlichen und dem himmlischen Universum ist nicht absolut: Wie es Beatrice Dante erklärt, steigt die Geschwindigkeit der Sphären, je weiter man sich dem göttlichen Punkt annähert («und merk dir, dass er so behende läuft, weil er von Liebesglut gestachelt wird.» Par. XXVIII, 44-45), der also den natürlichen Mittelpunkt des Kosmos von Dante darstellt («Es hängt der Himmel samt der Natur von jenem Pünktlein ab.» Par. XXVIII, 41 – 42).
Das mittelalterliche Universum ist also, auch wenn es viel vom Modell der alten Griechen geerbt hat, keinesfalls geozentrisch wie das ptolemäische: Für Dante liegt die Erde eher im Gegenzentrum, am äußersten Rand des Kosmos («vom tiefsten Nichts der Welt» Par. XXXIII, 22-23).
Die Stütze der mittelalterlichen Welt ist jener unaussprechliche Punkt, der dank der Erfindung Dantes, der Hypersphäre, das Zentrum des Universums ist und zugleich die ganze Schöpfung mit einer kosmischen Umarmung umschließt («den Allumfassenden scheinbar umtanzend» Par. XXX, 11-12).

700 Jahre zu früh
Das Mittelalter hatte mit Dante also ein ganz originelles kosmisches Modell, das nicht auf das antike Schema von Ptolemäus und Aristoteles zurückgeführt werden kann. Hierbei handelt es sich um einen Schritt, der von der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung überhaupt nicht beachtet wurde, und dem erst vor kurzem etwas Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Und es ist bedeutsam, festzustellen, dass die Geometrie des Universums Dantes deutliche Ähnlichkeiten zu bestimmten modernen Antworten auf Fragen des Kosmos aufweist (besonders zu Lösungen der positiven Krümmung der Gleichung von Friedmann auf dem Gebiet der Theorie der Allgemeinen Relativität). Heute ist es leicht für uns, die wir die moderne Mathematik benutzen, Geometrie in mehrdimensionalen Kurvenräumen zu beschreiben. Aber man bleibt tief beeindruckt von der kühnen Eingebung Dantes, dem es ohne die Hilfe des mathematischen Werkzeugs gelang, die euklidische Auffassung des Raumes zu überwinden und dabei Konzepte vorwegzunehmen, die erst 700 Jahre später endgültig eingeführt wurden.
Selbstverständlich war Dante kein moderner Wissenschaftler. Dank der Fortschritte der Wissenschaft ist unsere Kenntnis des physikalischen Universums heute viel weiter und genauer als die des Mittelalters. (Wer weiß, wie sehr sich Dante gefreut hätte, wenn er auch nur einen Bruchteil dessen gekannt hätte, was wir heute über die Struktur des Universums und über die Symmetrie der Naturgesetze wissen!) Aber vielleicht besteht für uns moderne Menschen, entwickelt und erfahren wie wir sind, die Gefahr, das Wertvollste zu verlieren: jene Dankbarkeit, jene Weite der Vernunft, jenen «Sinn für das Geheimnis», der im Blick und im Herzen von Dante Alighieri geglüht haben muss, und der, wie es Einstein sagt, «der Samen jeder Kunst und jeder wahren Wissenschaft ist».