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Thema
Eine kleine Schar
Camille Eid

Die Zahl der Christen in der Türkei und ihre Beziehung zur Regierung

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts machten die Christen mindestens ein Viertel der Bevölkerung aus (ungefähr zwei Millionen gegenüber insgesamt 8 Millionen Einwohnern). Heute sind es nur noch 115.000, gerade mal 0,15 Prozent. Fast alle leben in den gro?en, städtischen Zentren: Istanbul, Smirne und Mersin. Grö?tenteils handelt es sich dabei um Gläubige der armenisch apostolischen Kirche, die der Autorität des in Istanbul residierenden Patriarchen unterstellt sind. Dort hat die Gemeinschaft immerhin noch 35 Kultorte. Ihnen folgen die katholischen Gemeinschaften mit ungefähr 30.000 Gläubigen. Sie gehören hauptsächlich dem Lateinischen Ritus an, aber auch Armenier, Syrer und Chaldäer gehören dazu. Die verschiedenen protestantischen Kirchen umfassen ungefähr 20.000 Gläubige, dicht gefolgt von den Syrisch-Orthodoxen mit ungefähr 10.000, das sind nur noch ein Zehntel derer, die vor einem Jahrhundert das südliche Gebiet von Tur Abdin bevölkerten. Die griechisch-orthodoxen Gläubigen umfassen hingegen nur rund 5.000 Personen. Auch sie leiden unter der 1970 erfolgten Schlie?ung des Priesterseminars in Halki. Dennoch hat ihr Patriarch, der im Fanar, einem Viertel von Konstantinopel residiert und türkischer Nationalität sein muss, den Ehrenrang des primus inter pares unter den orthodoxen Patriarchen inne.
Zwei dramatische Ereignisse haben den fast vollkommenen Schwund der zwei grö?ten christlichen Gemeinschaften in dem ehemaligen ottomanischen Reich bewirkt. Das erste war der Genozid der Armenier, der am Tisch der Regierung der Jungen Türken entschieden wurde (die eher als freimaurerisch denn als streng muslimisch zu bezeichnen sind). Sie bezichtigten die Armenier der Komplizenschaft mit dem Feind Russland. Mindestens 700.000 Christen fielen dem Wüten zum Opfer, ohne dabei die in der syrischen Wüste durch Entbehrung Gestorbenen mitzuzählen. Das zweite Ereignis ist der durch den Vertrag von Lausanne 1923 festgesetzte Austausch der «griechischen» mit der «türkische» Bevölkerung (1.344 Millionen orthodoxe Christen wurden dabei nach Griechenland zurückgeschickt, während 464.000 Muslime dafür in die Türkei geholt wurden).
Eine Situation, die ein Gefühl von Mutlosigkeit aufkommen lassen kann. Wenn man heute in vielen Städten und Dörfern spazieren geht, fällt auf, dass fast alle Kirchen in Museen, Moscheen, Schulen, Bibliotheken umfunktioniert wurden oder nur noch Steinbrüche sind. Der Rückgang des Christentums wurde durch die Verringerung aller kirchlichen Einrichtungen wie Krankenhäuser, Hospize oder Schulen begleitet. Das geschah teilweise aufgrund des kontinuierlich schwindenden Personals oder aber auch durch Hindernisse und Belastungen vom Staat – der sich alles in allem «laizistisch» nennt: begonnen bei der durch die Schlie?ung der orthodoxen und armenischen Priesterseminare in den Jahren 1970 und 1971 unmöglich gewordenen Ausbildung des Klerus, bis hin zu Einschränkungen des Rechts auf Eigentum und der Einmischung in die Verwaltung der Stiftungen. Die türkische Gesetzgebung erschwert besonders das Leben der katholischen Kirche, die immer noch nicht über ein Statut verfügt, das eine legale und juristische Existenz garantiert. Daraus folgt, dass die Güter, die die Kirche zu Beginn der Republik besaß, weiterhin entweder von Rechts wegen oder einfach de facto bedroht sind. Zum Thema Religionsfreiheit muss man feststellen, dass eine türkische Vorschrift vom Dezember 2003 zwar den «Wechsel der religiösen Identität» und den Übertritt von einer Konfession zur anderen «auf der Grundlage einer einfachen Erklärung» autorisiert, die Fakten aber oft eine andere Sprache sprechen.