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Brief an die Fraternität
Julián Carrón

Liebe Freunde,
in wenigen Tagen jährt sich der Todestag Don Giussanis. Angesichts dieses Gedenkens erfüllt uns unweigerlich ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit und Rührung für seine Person und sein Werk. Auch wenn wir ihn vermissen, so fühlen wir uns doch nicht als verwaist. Im Gegenteil, wir alle erfahren ihn mehr denn je als Vater. Durch ihn ist Christus unter uns weiterhin am Werk, wie wir im Laufe des Jahres an zahlreichen Zeichen sehen konnten.
Der Jahrestag seines Todes stellt uns alle vor sein Vermächtnis, das nicht etwas Vergangenes ist, sondern ein gegenwärtiges Ereignis, das weiterhin unsere Vernunft und Freiheit herausfordert.
Das Charisma wird uns aber nur dann immer tiefer begeistern, wenn es zur Erfahrung in unserem alltäglichen Leben wird. Das heißt auch, dass wir alles, was geschieht, mit dem Kriterium beurteilen, das ein Anderer in uns hineingelegt hat: mit dem Herzen. Dem Urteil des Herzens zu folgen, bedeutet, Gott zu folgen, der uns mit dieser Gesamtheit von Bedürfnissen und Evidenzen geschaffen hat. Sie bilden unser inneres Antlitz. Es ist der Durst nach Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit und so weiter. Wir müssen sehr einfach und aufrichtig zu uns selbst sein, um unablässig bei dem zu bleiben, was mit Klarheit als Urteil aus dem Herzen hervorgeht. Und das ist alles andere als Subjektivismus!
Denn diese Einfachheit hat es uns ermöglicht, die einzigartige Außergewöhnlichkeit Christi anzuerkennen und sie immer neu in den Geschehnissen unseres Lebens zu erkennen. Dem Herzen zu folgen, bedeutet, der unverhofften Entsprechung zu folgen, die wir in der Begegnung mit Christus anerkannt haben und jener überraschenden Erfüllung zu gehorchen, die uns geschehen ist.
Auf diese Weise werden wir immer mehr zu Kindern Don Giussanis, der, wie es der damalige Kardinal Ratzinger in seiner Predigt anlässlich der Totenmesse formulierte, «wirklich das Leben nicht für sich haben wollte, sondern das Leben hingegeben hat. Und gerade dadurch hat er das Leben nicht nur für sich, sondern für viele andere gewonnen ... Indem er so, sein Leben hingebend, gedient hat, hat sein Leben reiche Frucht gebracht, wie wir in diesem Moment sehen. Er ist wirklich Vater von vielen geworden und hat gerade dadurch, dass er die Personen nicht zu sich, sondern zu Christus geführt hat, die Herzen gewonnen. Er hat dazu beigetragen, die Welt besser zu machen, die Tore der Welt für den Himmel zu öffnen.»
So wird die Vernünftigkeit des Glaubens uns selbst immer offensichtlicher, das heißt der Grund, für den es sich lohnt, Christen zu sein. «Deine Gnade ist mehr Wert als das Leben.»
In diesem dramatischen Augenblick auf diese Weise zu leben, ist unser Beitrag für die Kirche, aus deren Schoß wir immer neu hervorgebracht werden, und für unsere Menschenbrüder.
In brüderlicher Freundschaft

Don Julián Carrón
Mailand, 1. Februar 2006