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Enzyklika
Deus caritas est
Papst Benedikt XVI.

Auszüge aus der Enzyklika

Einführung
«Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm» (1 Joh 4, 16). In diesen Worten aus dem Ersten Johannesbrief ist die Mitte des christlichen Glaubens, das christliche Gottesbild und auch das daraus folgende Bild des Menschen und seines Weges in einzigartiger Klarheit ausgesprochen. Außerdem gibt uns Johannes in demselben Vers auch sozusagen eine Formel der christlichen Existenz: «Wir haben die Liebe erkannt, die Gott zu uns hat, und ihr geglaubt».
Wir haben der Liebe geglaubt: So kann der Christ den Grundentscheid seines Lebens ausdrücken. Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluss oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt. In seinem Evangelium hatte Johannes dieses Ereignis mit den folgenden Worten ausgedrückt: «So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt ... das ewige Leben hat» (3, 16). [...]

Erster Teil
Die Einheit der Liebe in Schöpfung und Heilsgeschichte

Ein sprachliches Problem
Die Liebe Gottes zu uns ist eine Grundfrage des Lebens und wirft entscheidende Fragen danach auf, wer Gott ist und wer wir selber sind. Zunächst aber steht uns diesbezüglich ein sprachliches Problem im Weg. Das Wort «Liebe» ist heute zu einem der meist gebrauchten und auch missbrauchten Wörter geworden, mit dem wir völlig verschiedene Bedeutungen verbinden. [...]
5. Die Liebe verheißt Unendlichkeit, Ewigkeit - das Größere und ganz andere gegenüber dem Alltag unseres Daseins. Zugleich aber hat sich gezeigt, dass der Weg dahin nicht einfach in der Übermächtigung durch den Trieb gefunden werden kann. [...]
Dies liegt zunächst an der Verfasstheit des Wesens Mensch, das aus Leib und Seele gefügt ist. Der Mensch wird dann ganz er selbst, wenn Leib und Seele zu innerer Einheit finden; die Herausforderung durch den Eros ist dann bestanden, wenn diese Einung gelungen ist. Wenn der Mensch nur Geist sein will und den Leib sozusagen als bloß animalisches Erbe abtun möchte, verlieren Geist und Leib ihre Würde. Und wenn er den Geist leugnet und so die Materie, den Körper, als alleinige Wirklichkeit ansieht, verliert er wiederum seine Größe. [...]
Aber es lieben nicht Geist oder Leib - der Mensch, die Person, liebt als ein einziges und einiges Geschöpf, zu dem beides gehört. Nur in der wirklichen Einswerdung von beidem wird der Mensch ganz er selbst. Nur so kann Liebe - Eros - zu ihrer wahren Größe reifen. [...]
Aber die Art von Verherrlichung des Leibes, die wir heute erleben, ist trügerisch. Der zum «Sex» degradierte Eros wird zur Ware, zur bloßen «Sache»; man kann ihn kaufen und verkaufen, ja, der Mensch selbst wird dabei zur Ware. [...]
6. Zu den Aufstiegen der Liebe und ihren inneren Reinigungen gehört es, dass Liebe nun Endgültigkeit will, und zwar in doppeltem Sinn: im Sinn der Ausschließlichkeit - «nur dieser eine Mensch» - und im Sinn des «für immer». Sie umfasst das Ganze der Existenz in allen ihren Dimensionen, auch in derjenigen der Zeit. Das kann nicht anders sein, weil ihre Verheißung auf das Endgültige zielt: Liebe zielt auf Ewigkeit. [...]
12. Das eigentlich Neue des Neuen Testaments sind nicht neue Ideen, sondern die Gestalt Christi selber, der den Gedanken Fleisch und Blut, einen unerhörten Realismus gibt. Schon im Alten Testament besteht das biblisch Neue nicht einfach in Gedanken, sondern in dem unerwarteten und in gewisser Hinsicht unerhörten Handeln Gottes. Dieses Handeln Gottes nimmt seine dramatische Form nun darin an, dass Gott in Jesus Christus selbst dem «verlorenen Schaf», der leidenden und verlorenen Menschheit, nachgeht. [...] In seinem Tod am Kreuz vollzieht sich jene Wende Gottes gegen sich selbst, in der er sich verschenkt, um den Menschen wieder aufzuheben und zu retten - Liebe in ihrer radikalsten Form. Der Blick auf die durchbohrte Seite Jesu, von dem Johannes spricht (vgl. 19, 37), begreift, was Ausgangspunkt dieses Schreibens war: «Gott ist Liebe» (1 Joh 4, 8). Dort kann diese Wahrheit angeschaut werden. Und von dort her ist nun zu definieren, was Liebe ist. Von diesem Blick her findet der Christ den Weg seines Lebens und Liebens. [...]
13. Wir empfangen nicht nur statisch den inkarnierten Logos, sondern werden in die Dynamik seiner Hingabe hineingenommen.
14. Die Vereinigung mit Christus ist zugleich eine Vereinigung mit allen anderen, denen er sich schenkt. Ich kann Christus nicht allein für mich haben, ich kann ihm zugehören nur in der Gemeinschaft mit allen, die die Seinigen geworden sind oder werden sollen. Die Kommunion zieht mich aus mir heraus zu ihm hin und damit zugleich in die Einheit mit allen Christen. [...]
15. Jeder, der mich braucht und dem ich helfen kann, ist mein Nächster. Der Begriff «Nächster» wird universalisiert und bleibt doch konkret. Er wird trotz der Ausweitung auf alle Menschen nicht zum Ausdruck einer unverbindlichen Fernstenliebe, sondern verlangt meinen praktischen Einsatz hier und jetzt. [...]
16. Können wir Gott überhaupt lieben, den wir doch nicht sehen? [...]
17. In der Tat: Niemand hat Gott gesehen, so wie er in sich ist. Und trotzdem ist Gott uns nicht gänzlich unsichtbar, nicht einfach unzugänglich geblieben. Gott hat uns zuerst geliebt, sagt der zitierte Johannesbrief (vgl. 4, 10), und diese Liebe Gottes ist unter uns erschienen, sichtbar geworden dadurch, dass er «seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben» (1 Joh 4, 9). Gott hat sich sichtbar gemacht: In Jesus können wir den Vater anschauen (vgl. Joh 14, 9). [...]Und in der weiteren Geschichte der Kirche ist der Herr nicht abwesend geblieben: Immer neu geht er auf uns zu - durch Menschen, in denen er durchscheint [...]
Die Liebe ist nicht bloß Gefühl. Gefühle kommen und gehen. Das Gefühl kann eine großartige Initialzündung sein, aber das Ganze der Liebe ist es nicht. [...]
Die Begegnung mit den sichtbaren Erscheinungen der Liebe Gottes kann in uns das Gefühl der Freude wecken, das aus der Erfahrung des Geliebtseins kommt. Aber sie ruft auch unseren Willen und unseren Verstand auf den Plan. Die Erkenntnis des lebendigen Gottes ist Weg zur Liebe, und das Ja unseres Willens zu seinem Willen einigt Verstand, Wille und Gefühl zum ganzheitlichen Akt der Liebe. Dies ist freilich ein Vorgang, der fortwährend unterwegs bleibt: Liebe ist niemals «fertig» und vollendet; sie wandelt sich im Lauf des Lebens, reift und bleibt sich gerade dadurch treu. [...]
Die Liebesgeschichte zwischen Gott und Mensch besteht eben darin, dass diese Willensgemeinschaft in der Gemeinschaft des Denkens und Fühlens wächst und so unser Wollen und Gottes Wille immer mehr ineinanderfallen: der Wille Gottes nicht mehr ein Fremdwille ist für mich, den mir Gebote von außen auferlegen, sondern mein eigener Wille aus der Erfahrung heraus, dass in der Tat Gott mir innerlicher ist als ich mir selbst.[10] Dann wächst Hingabe an Gott. Dann wird Gott unser Glück (vgl. Ps 73 [72], 23-28).
18. So wird Nächstenliebe in dem von der Bibel, von Jesus verkündigten Sinn möglich. Sie besteht ja darin, dass ich auch den Mitmenschen, den ich zunächst gar nicht mag oder nicht einmal kenne, von Gott her liebe. Das ist nur möglich aus der inneren Begegnung mit Gott heraus, die Willensgemeinschaft geworden ist und bis ins Gefühl hineinreicht. Dann lerne ich, diesen anderen nicht mehr bloß mit meinen Augen und Gefühlen anzusehen, sondern aus der Perspektive Jesu Christi heraus. Sein Freund ist mein Freund. [...]

Zweiter Teil
Caritas. Das Liebestun der Kirche als eine «Gemeinschaft der Liebe»

25. An diesem Punkt halten wir zwei wesentliche Erkenntnisse aus unseren Überlegungen fest:
a) Das Wesen der Kirche drückt sich in einem dreifachen Auftrag aus: Verkündigung von Gottes Wort (kerygma-martyria), Feier der Sakramente (leiturgia), Dienst der Liebe (diakonia). Es sind Aufgaben, die sich gegenseitig bedingen und sich nicht voneinander trennen lassen. Der Liebesdienst ist für die Kirche nicht eine Art Wohlfahrtsaktivität, die man auch anderen überlassen könnte, sondern er gehört zu ihrem Wesen, ist unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst.[]
b) Die Kirche ist Gottes Familie in der Welt. In dieser Familie darf es keine Notleidenden geben. Zugleich aber überschreitet Caritas-Agape die Grenzen der Kirche: Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter bleibt Maßstab, gebietet die Universalität der Liebe, die sich dem Bedürftigen zuwendet, dem man «zufällig» (vgl. Lk 10, 31) begegnet, wer immer er auch sei. [...]
Zur Grundgestalt des Christentums gehört die Unterscheidung zwischen dem, was des Kaisers und dem, was Gottes ist (vgl. Mt 22, 21), das heißt die Unterscheidung von Staat und Kirche oder, wie das II. Vaticanum sagt, die Autonomie des weltlichen Bereichs.[19] Der Staat darf die Religion nicht vorschreiben, sondern muss deren Freiheit und den Frieden der Bekenner verschiedener Religionen untereinander gewährleisten; die Kirche als sozialer Ausdruck des christlichen Glaubens hat ihrerseits ihre Unabhängigkeit und lebt aus dem Glauben heraus ihre Gemeinschaftsform, die der Staat achten muss. Beide Sphären sind unterschieden, aber doch aufeinander bezogen.
Gerechtigkeit ist Ziel und daher auch inneres Maß aller Politik. Die Politik ist mehr als Technik der Gestaltung öffentlicher Ordnungen: Ihr Ursprung und Ziel ist eben die Gerechtigkeit, und die ist ethischer Natur. So steht der Staat praktisch unabweisbar immer vor der Frage: Wie ist Gerechtigkeit hier und jetzt zu verwirklichen? Aber diese Frage setzt die andere, grundsätzlichere voraus: Was ist Gerechtigkeit? Dies ist eine Frage der praktischen Vernunft; aber damit die Vernunft recht funktionieren kann, muss sie immer wieder gereinigt werden, denn ihre ethische Erblindung durch das Obsiegen des Interesses und der Macht, die die Vernunft blenden, ist eine nie ganz zu bannende Gefahr
An dieser Stelle berühren sich Politik und Glaube. Der Glaube hat gewiss sein eigenes Wesen als Begegnung mit dem lebendigen Gott - eine Begegnung, die uns neue Horizonte weit über den eigenen Bereich der Vernunft hinaus öffnet. Aber er ist zugleich auch eine reinigende Kraft für die Vernunft selbst. Er befreit sie von der Perspektive Gottes her von ihren Verblendungen und hilft ihr deshalb, besser sie selbst zu sein. Er ermöglicht der Vernunft, ihr eigenes Werk besser zu tun und das ihr Eigene besser zu sehen. Genau hier ist der Ort der Katholischen Soziallehre anzusetzen: Sie will nicht der Kirche Macht über den Staat verschaffen; sie will auch nicht Einsichten und Verhaltensweisen, die dem Glauben zugehören, denen aufdrängen, die diesen Glauben nicht teilen. Sie will schlicht zur Reinigung der Vernunft beitragen und dazu helfen, dass das, was recht ist, jetzt und hier erkannt und dann auch durchgeführt werden kann. [...]
b) Liebe - Caritas - wird immer nötig sein, auch in der gerechtesten Gesellschaft. Es gibt keine gerechte Staatsordnung, die den Dienst der Liebe überflüssig machen könnte. Wer die Liebe abschaffen will, ist dabei, den Menschen als Menschen abzuschaffen. [...]
Die Behauptung, gerechte Strukturen würden die Liebestätigkeit überflüssig machen, verbirgt tatsächlich ein materialistisches Menschenbild: den Aberglauben, der Mensch lebe «nur von Brot» (Mt 4, 4; vgl. Dtn 8, 3) - eine Überzeugung, die den Menschen erniedrigt und gerade das spezifisch Menschliche verkennt.
Aufgabe der gläubigen Laien ist es also, das gesellschaftliche Leben in rechter Weise zu gestalten, indem sie dessen legitime Eigenständigkeit respektieren und mit den anderen Bürgern gemäß ihren jeweiligen Kompetenzen und in eigener Verantwortung zusammenarbeiten.[22] Auch wenn die spezifischen Ausdrucksformen der kirchlichen Liebestätigkeit niemals mit der Aktivität des Staates nivelliert werden dürfen, bleibt doch unbestritten, dass die Liebe das gesamte Leben der gläubigen Laien beseelen muss und folglich auch ihr politisches Wirken im Sinne einer «sozialen Liebe» [23] prägt. [...]
36. Die Erfahrung der Endlosigkeit der Not kann uns einerseits in die Ideologie treiben, die vorgibt, nun das zu tun, was Gottes Weltregierung allem Anschein nach nicht ausrichtet - die universale Lösung des Ganzen. Sie kann andererseits Versuchung zur Trägheit werden, weil es scheint, da wäre ja doch nichts zu erreichen. [...]
39. Glaube, Hoffnung und Liebe gehören zusammen. Die Hoffnung artikuliert sich praktisch in der Tugend der Geduld, die im Guten auch in der scheinbaren Erfolglosigkeit nicht nachlässt, und in der Tugend der Demut, die Gottes Geheimnis annimmt und ihm auch im Dunklen traut. Der Glaube zeigt uns den Gott, der seinen Sohn für uns hingegeben hat, und gibt uns so die überwältigende Gewissheit, dass es wahr ist: Gott ist Liebe! Auf diese Weise verwandelt er unsere Ungeduld und unsere Zweifel in Hoffnungsgewissheit, dass Gott die Welt in Händen hält und dass er trotz allen Dunkels siegt, wie es in ihren erschütternden Bildern zuletzt strahlend die Geheime Offenbarung zeigt. Der Glaube, das Innewerden der Liebe Gottes, die sich im durchbohrten Herzen Jesu am Kreuz offenbart hat, erzeugt seinerseits die Liebe. Sie ist das Licht - letztlich das einzige -, das eine dunkle Welt immer wieder erhellt und uns den Mut zum Leben und zum Handeln gibt. Die Liebe ist möglich, und wir können sie tun, weil wir nach Gottes Bild geschaffen sind. Die Liebe zu verwirklichen und damit das Licht Gottes in die Welt einzulassen - dazu möchte ich mit diesem Rundschreiben einladen.

Schluss
41. Herausragend unter den Heiligen ist Maria, die Mutter des Herrn, Spiegel aller Heiligkeit. [...]
Maria ist groß eben deshalb, weil sie nicht sich, sondern Gott groß machen will. Sie ist demütig: Sie will nichts anderes sein als Dienerin des Herrn (vgl. Lk 1, 38. 48). Sie weiß, dass sie nur dadurch zum Heil der Welt beiträgt, dass sie nicht ihr eigenes Werk vollbringen will, sondern sich dem Wirken Gottes ganz zur Verfügung stellt. Sie ist eine Hoffende: Nur weil sie den Verheißungen Gottes glaubt und auf das Heil Israels wartet, kann der Engel zu ihr kommen und sie für den entscheidenden Dienst an diesen Verheißungen berufen. [...]
Gegeben zu Rom, Sankt Peter, am 25. Dezember, dem Hochfest der Geburt des Herrn, im Jahr 2005, dem ersten des Pontifikats.

BENEDICTUS PP. XVI



[10] Vgl. Augustinus, Confessiones, III, 6, 11: CCL 27, 32.
[17] Vgl. Kongregation für die Bischöfe, Direktorium für den pastoralen Dienst der Bischöfe, Apostolorum Successores (22. Februar 2004), 194, Vatikanstadt 2004, 2a, 205-206.
[19] Vgl. Past. Konst. über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 36.
[22] Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben (24. November 2002), 1: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 158.
[23] Katechismus der Katholischen Kirche, 1939.

© Copyright 2005 - Libreria Editrice Vaticana