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Das Requiem von Mozart
Eine Quelle des Erbarmens, um den Menschen wieder aufzurichten
Luigi Giussani

Im Requiem zeigt uns Mozart, der bedeutende und tief christliche Künstler, wie das Schlechte im Menschen, der Hass der Welt, die Boshaftigkeit der Sünde eingebunden ist in das aufstrahlende Erbarmen Gottes.
Auf der einen Seite führt er uns mit seiner Musik in die ungeheuerliche Entscheidung des Menschen ein, der Gott zurückweist. Diese Zurückweisung drückt sich am besten im Begriff der Unachtsamkeit aus und weist auf die dem Erwachsenen eigene Erfahrung hin. Das Kind kann in der Tat zerstreut sein, der Erwachsene nicht. Deswegen ist die Unachtsamkeit eine Zurückweisung. Gibt es eine größere Ungerechtigkeit oder ein schwereres Vergehen? Stellen wir uns ein Kind im Mutterleib vor, das denken kann, das sich seiner selbst also schon bewusst ist und seine Mutter zurückweist, verneint oder gar vergisst. Ihr verdankt es in jeden Augenblick sein Leben. Die Ungerechtigkeit der Welt und unseres Lebens besteht darin, Gott zu vergessen. Diese Vergesslichkeit ist der Ursprung jedweder Sünde. Wir können den Ursprung der Zurückweisung erkennen und somit den Ursprung der Sünde, der Sünde der Welt, die auch unsere ist. Jesus würde all dies annehmen, solange das ursprüngliche Symbol des Jesuskindes, die Quelle der Zärtlichkeit und Güte, das Erbitten des Guten, das Symbol der Moralität bestehen bleibt. Wann beginnt die Zurückweisung? Wenn, so würde Péguy sagen, sein Auftrag beginnt. Der Auftrag Jesu besteht nicht darin, an moralische Werte zu erinnern. Sein Anspruch besteht vielmehr darin, der Erlöser der Welt zu sein, der Erlöser meines Lebens. Er wird so zur Quelle der Eigenschaften, die mein Leben und das der Gesellschaft bestimmen sollen. Das bedeutet, ihm allein anzuhängen. Das jedoch ist für die Welt und ebenso für uns selbst unannehmbar. Der Mensch gibt vor zu wissen, wofür das Leben gut ist. Wenn er jedoch das, was er zu besitzen wünscht, nicht erhält, lehnt er sich auf. Es ist offensichtlich, dass dies eine Ungerechtigkeit bedeutet, es ist Ungerechtigkeit.
Beim Requiem stehen wir aber vor einem Paradox. Denn dort heißt es in ein und demselben Satz: König von erschreckender Majestät .... schenk uns Dein Erbarmen. Barmherziger Herr Jesus, schenke ihnen den Frieden. (Re di tremenda maestà ... dona il tuo perdono. Gesù Signore pietoso, dona loro il riposo.)
Das Erschrecken und das Erbarmen, die Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit gehen Hand in Hand. Noch paradoxer ist jedoch, dass die Barmherzigkeit die Sünde der Ungerechtigkeit bedeckt. Die Barmherzigkeit ist größer als die Verdammnis und sprengt sogar ihre Grenzen. Deswegen bilden die Vergebung oder das Erbarmen einen entscheidenden Faktor für die Definition der Sünde, denn im christlichen Sinne gesprochen, treten sie in die Sünde ein und verwandeln sie. Es handelt sich nicht um die Verherrlichung der protestantischen Haltung, in der Christus alles ohne den Menschen wirkt: Es ist der Sünder selbst, der schreit und in seiner Sünde bittet, denn schon innerhalb der Sünde kann man bitten. Im Übergang von der Unachtsamkeit zur Wiederaufrichtung zeigt sich die Möglichkeit der Bekehrung.
Jeder Satz im Requiem (wie die Musik zeigt) bekräftigt zu Beginn die Herrschaft von Gerechtigkeit und Wahrheit. Und dies zeigt sich auch in der Musik. Doch dann wird er sofort unterbrochen von einer Milde, die diese herbe Bestätigung der Wahrheit und diese Härte der Gerechtigkeit in eine inständige Bitte überführt. König von schrecklicher Majestät, Rex tremendae majestatis, den kein Mensch berühren kann (der Turm von Babel ist Zeichen der gemeinsamen Anstrengung der ganzen Menschheit, Gott entmachten zu können, eine Welt ohne Gott errichten zu können). Aber dann folgt unerwartet, Der errettet, rettet umsonst (Qui salvandos, salvas gratis),der Du retten möchtest, umsonst, liebevoll, Rette mich, Quelle des Erbarmens, Salva me, fons pietatis, rette mein Leben, Du Quelle der Liebe.
Wie uns Péguy lehrt, besteht das Drama darin, dass unser eigenes Elend nicht mehr christlich ist. Der Mensch ist von seinem Ursprung her verletzt. Dass sein Elend christlich ist, bedeutet letztlich, dass unsere Armut ihre Wurzel in der Erbsünde hat, in dieser tödlichen Wunde. Wir kommen mit einer tödlichen Wunde auf die Welt, wie ein Kind, das nicht überleben kann und stirbt. Dass unser eigenes Elend nicht mehr christlich ist, bedeutet vor allem eines: Wir vergessen und zensieren die Sünde, die Tatsache, dass wir mit einem Bruch geboren werden, mit einer Wunde, einer tödlichen Behinderung. Wir negieren dies im kulturellen Leben, im eigenen Leben und im Leben eines jeden von uns. Wunde oder tödliche Behinderung bedeutet, dass wir nicht wir selbst sein können. Und doch gibt es nicht eine wahrhaftige Handlung in unserem Leben, wenn sie nicht von dem Be-wusstsein ausgeht, dass wir Sünder sind.
In dieser «unchristlichen», entchristlichen Welt lebt der Mensch ohne die Möglichkeit der Vergebung, er weiß nicht einmal, was «Vergebung» bedeutet, was es heißt, wenn einem vergeben wird. Deswegen kann er sich selber nicht wieder aufrichten. Denn dafür muss er fühlen, dass ihm vergeben wird. Die Vergebung überflutet und umarmt gleichsam das christliche Elend, wie ein Kind in den Armen seiner Mutter. Rex... qui salvandos salvas gratis, salva me fons pietatis. Der Mensch braucht dies, ich brauche dies heute und jeden Augenblick: eine fons pietatis, eine Quelle des Erbarmens. Denn nur dann kann ich mich selber wieder aufrichten. Ich beginne, ich selbst zu sein. Bei Péguy heißt es weiter: «Und Jesus kam. Er verlor keine Zeit, indem er stöhnte und die schlechten Zeiten beklagte. Er machte kurzen Prozess. In einer schlichten Art und Weise. Er schuf das Christentum.» Jesus, die Quelle des Erbarmens, kam. Und die Quelle des Erbarmens kommt jetzt, in diesem Augenblick, so wie eine Mutter ihr Kind anschaut und umarmt. Bis zu diesem Augenblick kannst du sie vergessen, nicht kennen gelernt haben. Nun aber ist sie da. Jesus kommt, und was macht er, ohne zu zögern? Er verurteilt nicht die Verdammten, er berechnet und straft nicht, er nimmt nicht das letzte Gericht vorweg, um die ewige Bitterkeit zu vermeiden. Er schafft das Christentum. Was aber bedeutet das? Das Christentum ist die Beziehung, die Christus mit Dir herstellt. Er mit Dir und nicht Du mit Christus. Das heißt Gott bleibt seinem Bündnis treu. Das Christentum ist das Ereignis der Beziehung, die Christus mit Dir hergestellt hat. Das zu bejahen, ist die Entscheidung für die Existenz.