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Aufmacher
Die Vernunft leben
Luigi Giussani

Auszüge aus einem Gespräch von Don Luigi Giussani mit Studenten Mailand, 21. Juni 1996

Frage: Dieses Jahr haben wir damit begonnen, das Seminar der Gemeinschaft dort zu halten, wo wir leben und arbeiten, also in der Universität. Und allein dadurch hat es sich ergeben, dass weitere Studenten daran teilgenommen haben und einbezogen wurden. So war eine unmittelbare Beziehung zu ihnen möglich. Dabei entsteht die Schwierigkeit, den Zusammenhang zwischen dem Seminar der Gemeinschaft und dem Leben zu verstehen; besonders zwischen dem Seminar und dem Studium. Denn beim Versuch, diesen Zusammenhang zu verstehen, erscheint der Vergleich mit anderen anmaßend oder sentimental. Daraus folgt, dass man seine Probleme allein anpackt, höchstens einmal Initiativen zusammen organisiert. Andererseits studieren wir an einer Universität, die immer mehr Arbeit verlangt, so dass uns für andere Dinge keine Zeit bleibt. Deshalb ist es wichtig, diesen Zusammenhang zu klären, sonst verbringt man den größten Teil der Zeit unkritisch. Wir haben versucht, in der Universität kulturelle Initiativen zu organisieren, woran viele Leute, vor allem Jugendliche, teilgenommen haben. Aber es fällt uns schwer, diese Kritikfähigkeit im Alltag einzubringen. Wir möchten Sie deshalb fragen: Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, dass man das Seminar der Gemeinschaft nicht versteht, wenn man dessen Nutzen für das Leben nicht versteht? Und wie kann man dann eine Versammlung entsprechend gestalten?
Ich beantworte zunächst den letzten Teil der Frage: Eine Versammlung auf diese Weise zu gestalten bedeutet, die Struktur aufzunehmen, die wir am Anfang unserer Geschichte hatten. Das Seminar der Gemeinschaft nannten wir Raggio/Ausstrahlung. Wenn sich die Gemeinschaft versammelte, hieß das Treffen «Raggio». «Raggio» wird dabei verstanden als die eigene Erfahrung, die man mit anderen teilt. Jeder sollte von seiner eigenen Erfahrung sprechen. Am Ende versuchte der Älteste oder der, der die größte Klarheit oder Autorität besaß, eine Antwort zu geben, in der alle Wahrheiten, die in den einzelnen Beiträgen zum Vorschein kamen, enthalten waren. Ich möchte damit sagen, dass man nur demjenigen eine Antwort auf eine Frage geben kann, der versucht, sie zu verwirklichen, sie in die Tat umzusetzen. Wenn du dich bei einem Thema, über das eine Versammlung geht - sei es eine Seite aus dem Evangelium oder eine Beispielsfrage -, nicht darum bemühst zu verstehen, in welcher Weise euer Zusammentreffen die Antwort auf das Problem deutlich macht, wirst du nur Formeln lernen.
Ich bin etwas unschlüssig, diese Frage zu beantworten, weil sie die Antwort auf eine andere Frage impliziert, nämlich: «Wie kann man, philosophisch gesehen, also vom Standpunkt der Vernunft aus, die andersartige Haltung beschreiben, die die Bewegung im Vergleich zu allen anderen Gruppen einnimmt? Worin unterscheiden wir uns, was Blick, Vernunft und Beobachtung betrifft?» Für uns liegt der Kern der Frage darin, dass die Wirklichkeit in der Erfahrung sichtbar wird. Schreibt diesen Satz auf, denn er ist von grundlegender Bedeutung. In der Erfahrung! Wie für Johannes und Andreas, als sie Jesus gesehen haben. Nach diesem Abend konnte niemand mehr den Eindruck in ihnen auslöschen, den dieser Mann auf sie gemacht hatte. Die Definition, die ich gegeben habe, ist für mich wichtig, wie auch das Staunen von Johannes und Andreas angesichts der Wirklichkeit Jesu für mich wichtig ist.
Mit dieser Frage wollte ich vor allem Folgendes sagen: «Jungs, das, was uns interessiert, ist die Wirklichkeit». Ist eine Sache nicht wirklich, «pfeifen wir drauf», wen interessiert das, diese Sache kann uns nicht von Nutzen sein. Alles ist verschwommen, alles ist unbeständig. Die Wirklichkeit interessiert uns. Die Wirklichkeit! Nicht: «Die Wirklichkeit ist die Wahrheit», denn das ergibt keinen Sinn, sondern «Die Wirklichkeit ist der Bereich, in dem die Wahrheit besteht», sie ist die Gestalt, mit der die Wahrheit eins ist. Also, wahr ist, was wirklich ist, und wirklich ist, was wahr ist. Man kann, ohne viel zu philosophieren, ebenso das Wort Wirklichkeit wie Wahrheit verwenden. Was meint ihr dazu? Das ist das erste, was ich betonen möchte. «Wahrheit» fällt für uns also mit dem Wort «Wirklichkeit» zusammen. Was wäre die Folge für denjenigen, für den das nicht so ist? Dass es eine Wahrheit gibt, die nicht wirklich wäre. Aber was heißt das? Wo ist eine solche Wahrheit? Wo findet man sie? In den unterirdischen Flüssen oder in der dünnen Luft? Die Wahrheit ist wirklich. Das Wort «wirklich» weist so sehr auf etwas «Wahres» hin, dass die Wörter «wirklich» und «wahr» austauschbar sind. Wenn etwas wahr ist, ist es da, wenn es aber nicht wahr ist, ist es nicht da. Ist es da, so ist es wahr. Wenn es da ist, so ist es nur dann wahr, wenn es insofern wahrgenommen wird, als es ist, nicht weil ich es mir vorstelle, nicht weil ich einen weiteren Faktor einbringe, um etwas hinzuzufügen oder damit eine Wirkung zu entfalten, die das Wort sonst nicht besitzen würde. Zwischen Wahrem und Realem besteht ein Zusammenhang, weshalb das eine das andere ist, das andere impliziert, - oder einfacher gesagt, das andere ist. Wenn Kinder fragen: «Aber ist das wahr?» - du erzählst eine Geschichte, ein Märchen, eine Fabel und sie fragen: «Aber ist das wahr? Ist das wirklich, wirklich wahr?» (Kinder drücken so ihre Skepsis aus), - dann «fechten sie an» und bestätigen, was ich soeben gesagt habe: die Wirklichkeit alleine interessiert, denn die Wahrheit ist in der Wirklichkeit.
Wollt ihr ein Beispiel? Neulich, vor zwei, drei Monaten berichtete die Zeitung von einer Diskussion unter Wissenschaftlern über das Wahre und Unendliche. Wissenschaftler können den Begriff «Unendlichkeit» verwenden, wie ihn ein berühmter Physiker verwendet hatte: «Unendlichkeit? Unendlichkeit bedeutet ein Endliches, das sich unendlich weit erstreckt. Man kann die Wirklichkeit als unendlich auffassen und zwar in dem Sinn, dass das Unendliche etwas ist, das sich ausweitet, sich ständig ausdehnt.» Ich habe gesagt: «Nein! Das Unendliche ist etwas Anderes!» Das Unendliche ist ein Nicht-Endliches. Deswegen ist das Unendliche etwas anderes: Es ist eine Wirklichkeit und verweist auf eine Natur, eine Struktur, auf etwas, das nie und in keinem Fall als endlich aufgefasst werden kann. Selbst wenn sich das Endliche über Millionen von Jahrhunderten hinweg erstrecken würde, selbst wenn es sich bis ins Unendliche, im mathematischen Sinn, erstrecken würde, so wäre es dennoch stets endlich. Ist das klar? Man kann das Unendliche nicht als ein sich erstreckendes Endliches bezeichnen.
Man kann es nicht. Das Unendliche ist etwas Anderes. Es ist nicht endlich! Es ist «eine Sache», die nicht endlich ist. Wenn es sich um eine «Sache» handelt, kann ich mir vorstellen, sie mit den Händen anzufassen, sie mit den Augen anzuschauen, ihr etwas zu sagen: «Armer Kerl», «Verbrecher», «du», «gut», «barmherzig». Wenn es eine Sache ist, muss ich «Bitte!» sagen können, so wie ich es zu einem Freund, einem Feind, einem Fremden sage. Ich muss «Bitte!» auf eine so großherzige und spontane Art sagen können, dass sich der andere wundert und sich in seinem Innern sagt: «Wie "gut" ist dieser Mann.». «Gut» im Sinne von großherzig.
Ich gebe zu, insofern falsch geantwortet zu haben, als man eine Frage nicht beantworten kann, ohne alle Faktoren zu beantworten, die sie mit sich bringt. Wenn man dieses von der Wirklichkeit gesagt hat - die Wirklichkeit ist Wahrheit -, ist es erforderlich, einen Schritt weiterzugehen: «Wie kann man die Wahrheit, wie kann man die Wirklichkeit erkennen?» Wie gelingt es einem Wissenschaftler, einen entfernten Stern zu erkennen, den die Menschen im Altertum nicht entdecken konnten? Nur durch die modernen Teleskope ist es möglich, den Stern so sehr in unsere Nähe zu rücken, dass der Wissenschaftler ihn betrachten kann: Er muss ihn näher heranholen. Was bedeutet es, diesen Stern näher heranzuholen, dessen weite Entfernung für die Wissenschaftler im Altertum, die bessere Beobachter waren als wir, einer Nicht-Existenz gleichkam? Wie können sie ihn existent machen, darüber sprechen, als würde er existieren? Wie können sie eine Entfernung gegenwärtig machen? Das ist nur dann möglich, wenn sie, diese Entfernung, in die Erfahrung eintritt. Was bedeutet, dass sie «in die Erfahrung eintritt»? Das bedeutet, dass ich sie sehen kann, als ob sie dieses Glas oder ein Freund wäre, als ob sie eines der Dinge wäre, die ich in einem Gefüge von Personen und Sachen festhalte, eine Sache, die von irgendwoher auftaucht und irgendwo hingeht, die aber trotzdem in einem bestimmten Augenblick evident wird. Wie beim Resonator von Quincke (den ich im Gymnasium durchgenommen habe), einem Gerät, das zeigt, welche Note in einem bestimmten Akkord vorherrscht. Wenn eine bestimmte Tonfolge vor dem Quincke-Resonator gespielt wird, gibt der Resonator sehr laut z.B. ein D wieder, wenn die vorherrschende Note ein D ist, und verhindert dadurch, dass man die anderen Noten hört. Die Wirklichkeit wird als Inhalt unserer Handlung und Tätigkeiten dann greifbar und von uns ergriffen, wenn sie in unsere Erfahrung eintritt, wenn wir sie in unsere Erfahrung eintreten lassen. Deshalb lassen sich Wahrheit und Wirklichkeit in der Erfahrung erkennen. Was aber ist die Erfahrung? Man denke an das Wort, das ich vorher verwendet habe: «Die Wirklichkeit wird in der Erfahrung evident». In der Erfahrung wird das, was ist, zur Evidenz. Was ist also die Erfahrung? Man könnte sagen: «Die Erfahrung ist das Offenbarwerden der Wirklichkeit».
Man kann nicht sagen: «Herr, Gott des Himmels und der Erde», ohne von einer Erfahrung auszugehen, von bestimmten Faktoren, die deine Erfahrung nähren. Erinnert euch an die Seite im Religiösen Sinn, wo ihr aufgefordert werdet, euch vorzustellen, dass ein Mensch - besser noch, dass ihr - mit zwanzig Jahren geboren wird, und zwar schon mit dem Bewusstsein eines Zwanzigjährigen, dass ihr im ersten Augenblick eures Lebens bereits das Bewusstsein eines Zwanzigjährigen habt. Was würde euch als Erstes auffallen? Was wäre das Allererste, das ihr verstehen würdet? Stellt euch vor: Ich bin im Bauch meiner Mutter. Ein Stoß, ich komme heraus und mache die Augen auf. Der erste Aspekt der Wirklichkeit, der meinen Augen auffällt, Augen, die in diesem hypothetischen Fall bereits das reife Bewusstsein eines Zwanzigjährigen haben, der erste Aspekt, der mir auffällt, wenn ich mit meinem jetzigen Bewusstsein die Augen aufmachen würde, wäre nicht «Du, Er, Sie», sondern «Alles zusammen», diese Wirklichkeit, die aus tausend Jugendlichen besteht, die Wirklichkeit, die ganze Welt, all das, was ist. Nun, um sich an Gott mit den Worten «Gott des Himmels und der Erde» zu wenden, muss man dies schon erfahren haben, man kommt nicht umhin, von der Erfahrung dieses Gottes auszugehen, von dieser merkwürdigen, unvorstellbaren und nicht von einem Menschen definierbaren Wirklichkeit. Wenn man sich nie gefragt hat: «Warum gibt es die Wirklichkeit, all das überhaupt? Wer hat es geschaffen?», wenn man sich nie diese Frage gestellt hat, so ist man wie ein ahnungsloses Kind, wie ein Analphabet vor einem Text, den er lesen soll.
Also unsere Methode, um das religiöse Problem des Menschen - das tiefgreifendste und allumfassende Problem des Menschen - zu klären, ist: Zunächst ist es notwendig, die Beziehung zwischen dem Menschen und der Wirklichkeit als geschaffene Wirklichkeit zur persönlichen Erfahrung werden zu lassen. Es ist Wirklichkeit, wenn sie in die Erfahrung eintritt. Wie aber kann Gott in deine Erfahrung eintreten? Er tritt in deine Erfahrung ein, wenn du Ihn eintreten lässt. Wenn man sich die Frage stellt: «Worin besteht letztlich die Welt? Warum gibt es letztlich das, was sich Himmel und Erde nennt, oder meine kleine, schwache Handlung?» Wenn man sich diese Fragen stellt, so stellt man klar, dass die Wirklichkeit sich nicht selber schafft, sondern, dass in ihr etwas durchkommt, was wir nicht bestimmen. In unserer Erfahrung wird die Wirklichkeit evident, sie «bildet» sich nicht, sie «schafft sich» nicht, sie «baut sich nicht auf», sondern sie wird evident, wird offenbar. Es wird etwas evident, was es schon gibt. Deswegen lässt sich die Wirklichkeit in der Erfahrung erkennen: das heißt, wenn sie als etwas wahrgenommen wird, das es schon gibt.
Daraus leiten sich zwei weitere Sätze ab, in denen unsere ganze Kultur zusammengefasst werden könnte.
a) Die erste Frage lautet also: «Worin besteht die Wirklichkeit?» Diese Wirklichkeit zeigt sich unseren Augen als etwas, was es schon gibt. Wenn ich mit dem Bewusstsein eines Zwanzigjährigen auf die Welt kommen würde, würde ich etwas wahrnehmen, was es schon gibt, ich wäre gezwungen, dies zuzugeben. Die Wirklichkeit erscheint als ein Etwas, das es schon gibt. Es existiert aus etwas Anderem heraus, weil aus dem, was ich betrachte, etwas Anderes hervorkommt!
b) Die zweite Frage lautet: «Wie kann man zu diesem ,etwas Anderem' in Beziehung treten, wie kann man von diesem Anderen - kurz gesagt - von diesem Gott etwas erfahren?» Das ist nur möglich, wenn Er sich offenbart, wenn Er Jesus wird. Gott offenbart sich, wenn Er Mensch wird, weil Er zum Mensch wird, weil Er sich mit etwas identifiziert, was in der Erfahrung evident wird. Er ist Mensch geworden! Wenn Gott Mensch geworden ist, kann man nur auf diesem Weg, kann man ihn nur auf diesem Weg auf angemessene und respektvolle Weise erkennen. Gott erkennt man also im Menschen Jesus Christus.
c) Die dritte Frage lautet: «Dieser Jesus Christus, wo ist er?» Antwort: Dieser Jesus ist in der Gemeinschaft der Menschen, die ihn anerkennen. Diese Gemeinschaft heißt Kirche. Die Kirche ist die Gemeinschaft der Menschen, die Ihn anerkennen.
Das sind die drei großen Antworten auf die drei wichtigsten Fragen - es gibt keine schwerwiegenderen Fragen, es sind die Fragen, die das Herz oder den Verstand des Menschen am meisten herausfordern.
Wie kannst du aber sagen, «Ich liebe Dich, o Gott», ohne dass du dir bewusst bist, was es heißt zu lieben? Nur in dem Maße, in dem du die Erfahrung der Liebe gemacht hast, kannst du sagen: «Ich liebe Dich, o Gott». «O Jesus der brennenden Liebe». Was bedeutet: «Jesus der brennenden Liebe»? Jesus der brennenden Liebe? Der menschgewordene Gott, ein Mensch, der gesagt hat: « Philippus, du fragst mich, woher ich komme, aber wie oft habe ich es gesagt, und du hast es noch nicht begriffen? Philippus - sagte Jesus, bevor er hinging, um zu sterben, beim letzten Abendmahl - wer mich gesehen hat, hat das Geheimnis gesehen.» Gewiss, es ist beeindruckend, sich vorzustellen, wie sich diese zwölf Männer um diesen Mann versammelt hatten, um einen Mann wie sie - von dem sie die Küche kannten, in der er gegessen hatte, die Werkstatt, in der er gearbeitet hatte -, einen Mann, der so mit ihnen sprach. Wenn Jesus, und zwar als Gott, nicht zum Teil unserer Erfahrung wird, nicht in unsere Erfahrung eintritt, können wir ihn nicht auf angemessene Art anerkennen, mit jener wenn auch schwierigen Beständigkeit, mit jener wenn auch rätselhaften Anziehung, mit der sich die Wirklichkeit unseren Augen darstellt. Mit fünfzehn Jahren willst du schon eine Freundin haben und, wie man es ausdrückt, mit ihr «zusammen sein» (ein Junge und ein Mädchen «sind zusammen»): Du kannst keine Liebe, keine menschliche Liebe, keine Liebe, die menschlich ist, verwirklichen, wenn du nicht auf irgendeine Weise eine Erfahrung der Liebe gemacht hast, auf die du blickst, jene deiner Mutter und deines Vaters - wie abstoßend euch diese Verbindung auch erscheinen mag -, wenn du nicht auf eine Erfahrung der Liebe, die du gemacht hast, blicken kannst. Deshalb wird das, was du jetzt machst, durch das bestärkt, was du vorher gemacht hast. Wie sich deine Mutter dir gegenüber benommen hat, wie dein Vater mit dir redete, genauso redest du oder neigst dazu, so mit der Freundin oder mit dem Freund zu reden. Es gibt eine andere Quelle, die sich auch von dem unterscheidet, was du vorher gelernt hast, aber sie ist anders, weil sie noch nicht reif ist. Je reifer du wirst, desto mehr wirst du verstehen, dass die Liebe zum Vater und zur Mutter letztlich das gleiche Antlitz, die gleiche Frische, die gleiche Kraft hat, wie die Liebe zwischen Mann und Frau.
Ich verstehe, dass ich unüberwindliche Entfernungen aufzeige wie zwischen den beiden Ufern des Amazonasdeltas, wo sich das eine Ufer erst nach tausend Kilometer dem anderen zeigt. Das alles braucht Zeit und Vertiefung. Die Frage, die unsere Freundin vorher gestellt hat, entspricht dem Problem, die Wirklichkeit, über die wir sprechen und die wir entdecken wollen oder der es zu dienen gilt, diese Wirklichkeit zum Teil der eigenen Erfahrung werden zu lassen, so dass diese Wirklichkeit dazu dient, das «Ich» zu bejahen, das so klein zu sein scheint wie ein Grashalm in der Welt oder eine soeben aufgeblühte Knospe an einem Zweig im März. Und trotzdem ist dieses «Ich» für das Unendliche geschaffen. Wie Dante sagt: «Ein Gut, drin Ruh erlangt des Herzens Schlagen, ahnt jeder Mensch in seinem dunklen Drange» Das Herz «erlangt Ruhe», wenn alles beantwortet ist. Wie der Hunger gestillt ist, wenn man etwas gegessen hat, so ist es im Letzten auch mit der Liebe.

Frage: Was bedeutet angesichts dieser Feststellungen, die das zum Ausdruck bringen, dem wir begegnet sind, die Tatsache, dass man das Studium, den Alltag als gespalten empfindet? Was kann man tun?
Jeder von uns geht von der Wahrnehmung einer Trennung aus. Denn wenn eine Sache neu ist, besitze ich sie noch nicht, deshalb ist sie in unserer Wahrnehmung noch getrennt von mir. Die Einheit mit ihr muss ich erobern: Genauso wie es der Junge mit dem Mädchen macht. Es sind zwei getrennte Dinge, aber die Zuneigung bringt diese Bindung an den hervor, der ihm gegenübersteht, sie bringt dieses Verstehen hervor, diese Bejahung, dieses Erobern dessen, was vor ihm steht: Dadurch werden sie eine Einheit. In dem Maße, wie einem in der Erfahrung der Einheit geholfen wird, versteht man, dass das, was am meisten zu vereinen scheint, das ist, was am meisten trennt - wie der Instinkt auf niedrigem Niveau -, und dass das, was unerreichbar und abstrakt schien, immer stärker zur Quelle der Zuneigung, der Anziehung, der Sympathie und der Hingabe wird.
Frage: Meine Frage bezieht sich auf einen Begriff, auf den wir sowohl bei der Arbeit im Seminar der Gemeinschaft gestoßen sind als auch bei der Arbeit mit den Texten, die die Wahlen und andere Momente beurteilten: das «Volk». Ich möchte dich bitten, uns diesen Begriff näher zu erläutern. Beispielsweise wirft dieses Wort auf das Wort «Wegbegleitung» ein neues Licht, weil das Seminar der Gemeinschaft sagt, dass das Eingreifen Gottes in der Geschichte eines Volkes konkret wird. Und ein Volk hat ja immer seine Gesetze, seine Lieder, seine Anführer. Dies lässt mich tiefer verstehen (und so ist es auch in meinem Leben geschehen), dass ich einer außergewöhnlichen Geschichte begegnet bin, die aus konkreten Personen, also aus einem Volk besteht.
«Weggemeinschaft» bedeutet, «für ein gemeinsames Ziel zusammen zu sein». Ohne dieses gemeinsame Ziel zusammen zu sein, kann sie sogar den letzten Nerv rauben, kann einen ersticken. Weggemeinschaft bedeutet, für ein gemeinsames Ziel zusammen zu sein. Die Würde der Weggemeinschaft ist durch die Würde dieses «gemeinsamen Ziels» definiert. Zusammen sein, um Sardellenfilets zu essen, ist eine Sache, hat einen gewissen Wert. Aber zusammen zu sein, um Dante zu studieren oder um die Geheimnisse zu verstehen, in die der Mensch begonnen hat, einzudringen, in die Entwicklung des Universums, ist eine andere. Weggemeinschaft bedeutet für etwas zusammen zu sein, das sich «Ziel» nennt. Eine Weggemeinschaft ohne Ziel gibt es nicht. Das «Volk» ist eine Weggemeinschaft, deren Ziel es ist, den eigenen Beitrag zur Gestalt der Geschichte zu leisten. Weggemeinschaft heißt, mit dem Ziel zusammen zu sein, den eigenen Beitrag zur Entwicklung der Menschheit, das heißt zur «Geschichte» zu leisten. Zur Entwicklung im quantitativen Sinn (weshalb es also die Gemeinschaft von Mann und Frau gibt), zur Entwicklung im gesellschaftlichen Sinn, das heißt im gemeinsamen Suchen, gegenseitigen Unterstützen und Motivieren, um die Wirklichkeit zu verstehen (deshalb also die Kultur), oder zur Entwicklung im Sinne eines Zusammenseins, um sich der Geschichte entschiedener zu stellen, das heißt mit einer größeren Stärke, mit mehr Sicherheit, mit größerer Überlegenheit (zum Beispiel Staat, Staatenbund oder Reich).