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Editorial
Ratzingers (schönes und freudiges) Christentum
Julián Carrón

Corriere della sera, 24. Dezember 2005

«Ein Gut, drin Ruh erlangt des Herzens Schlagen, ahnt jeder Mensch in seinem dunklen Drange und sehnt sich sein und hofft es zu erjagen» (Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie. Das Fegefeuer. Canto XVII). Dante Alighieri hat auf einzigartige Weise jene Erwartung zum Ausdruck gebracht, die jeden von uns beseelt. Wir alle erwarten insgeheim dieses Gut, in dem unser Herz ruhen kann - auch wenn wir das oft nicht einmal uns selbst eingestehen wollen. Und tun wir es, dann immer mit einer gewissen Scheu und ohne es anderen einzugestehen, so als müsste man sich dafür rechtfertigen. Es ist unpopulär und verstößt gegen die political correctness, sich dieses Bedürfnis einzugestehen, auch wenn es ein Bedürfnis ist, das dem Menschen zutiefst innewohnt. Weshalb?
Bei Rilke heißt es: «Und alles ist einig, uns zu verschweigen, halb als Schande vielleicht und halb als unsägliche Hoffnung.» Jede Form der Macht strebt danach, den Menschen seiner eigenen Erfahrung zu berauben, seiner ureigenen Erfahrung, der Erfahrung, die jede Faser unseres Seins durchzieht. Die Macht gibt sich mit nicht weniger zufrieden als mit dem Ganzen, sie erhebt Anspruch auf unsere Seele. Und leider findet sie in uns oft gute Verbündete. Das erkennt man daran, dass auch wir die Wirklichkeit unseres Seins bisweilen für einen Traum halten. Um dem eigenen Herzen nicht aus dem Weg zu gehen, muss man mit dem spanischen Dichter Antonio Machado sagen können: «Schläft es, mein Herz, schläft es? / Nein. Mein Herz schläft nicht./ Es wacht, allezeit wacht es./ Es schläft nie und träumt nicht. Wachen Auges schaut es aus / nach fernen Zeichen und lauscht / am Ufer der großen Stille.»
Ein Herz, das nicht träumt! Ein Herz ist wach, wenn es aufrichtig «Ich» sagt, wenn es dabei die ganze Ehrlichkeit aufbietet, derer es fähig ist, und zugleich so liebevoll sich selbst gegenüber ist wie die Umarmung der Mutter, als man klein war. Allein diese Zärtlichkeit uns selbst gegenüber erlaubt es uns, dass wir uns in unserer ganzen Menschlichkeit annehmen. Sie macht uns gewahr, dass das eigene Herz «nicht schläft und träumt, und wachen Auges ausschaut nach fernen Zeichen und lauscht am Ufer der großen Stille». Dann erreicht die Vernunft ihre höchste Verwirklichung: Sie berührt die große Stille, das heißt das Geheimnis. Angesichts des Geheimnisses können wir nur wartend ausschauen nach einem Zeichen von jenseits des anderen Ufers.
An Weihnachten kommt aus der großen Stille des Geheimnisses das Zeichen, nach dem alle mehr oder weniger bewusst Ausschau halten. Unsere Sehnsucht findet unvorhergesehen Erfüllung. «Das Wort ist Fleisch geworden». Das Geheimnis ist einer von uns geworden. Es hat an unserem Ufer angelegt. Unvermutet, gestern wie heute, wie es auch für Maria, Joseph, die Hirten und die Weisen aus dem Morgenland war.
An Weihnachten ist eine Gegenwart in die Geschichte eingetreten, die unentwegt eine Neuheit mit sich bringt; eine Neuheit, die keine Macht der Welt beseitigen kann. «Jemand ist uns geschehen», heißt es bei Mounier. Das entspricht der Erwartung des menschlichen Herzens so sehr, dass es sich ihm unauslöschlich einprägt. Es ist so faszinierend, dass nur derjenige sich nicht davon mitreißen lässt, der Gewalt an sich übt, um diese Attraktivität nicht anzuerkennen.
Angesichts dieser Tatsache erscheinen alle Versuche zwangsläufig unbeholfen und zwecklos, das Weihnachtsfest im Bereich des Übersinnlichen oder der vielgestaltigen Ausdrucksformen menschlicher Religiosität ansiedeln zu wollen, in einem Bereich also, der nichts mit dem wirklichen Alltagsleben zu tun hat und einer Traumwelt entspringt. Dass wir es tatsächlich nicht mit einem 2000 Jahre alten Traum zu tun haben, beweist eine Tatsache: Seine Gegenwart ist unter uns wirksam. «Der christliche Glaube ist eine subversive und überraschende Art, die gewöhnlichen Dinge zu leben», sagt Don Giussani. Dass Christus real und gegenwärtig ist, erfahren wir dadurch, dass Er das verändert, was sich für gewöhnlich jeder Veränderung entzieht: die normalen Dinge. Es ist eine Intensität des Lebens, ein nicht in Worte zu fassendes, ganzheitliches Ergriffensein von der Welt und den Menschen, eine Dichte des Augenblicks in Zeiten der Platitüde, die uns zeigen, dass Péguy zurecht schreibt: «Er ist da./ Er ist da wie am ersten Tag./ Er ist da, unter uns, wie am Tag seines Todes./ Ewiglich alle Tage / Er ist da, unter uns, alle Tage seiner Ewigkeit».
Das Christentum ist einfach und ohne Grenzen. Man braucht nur seiner siegreichen Anziehungskraft nachzugeben, so wie es die Hirten auf dem Feld taten, die zum Symbol dafür geworden sind, dass das Christentum einfach ist. Es bedarf nur der Einfachheit, das anzuerkennen.
ER ist da. Das beweist auch mit letzter Klarheit Papst Benedikt XVI. Er fordert die Welt von heute mit seinem Zeugnis für die Freude und Schönheit des Christseins heraus. Er zeigt, dass das Glück ohne das Böse möglich ist und die Langeweile besiegt werden kann, wenn wir Christus in unser Leben eintreten lassen. Entsprechend groß ist unsere Verantwortung als Christen.