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Zeit zur Erziehung
Lehren heißt, in die Gesamtwirklichkeit mit all ihren Faktoren einführen
Don Luigi Giussani

Der Aufruf mit dem Titel Würde das Volk eine Erziehung erhalten, ginge es allen besser wurde gleichzeitig mit der neuen Ausgabe des Buches Das Wagnis der Erziehung von Don Giussani veröffentlicht. Rund 50 Persönlichkeiten aus Kultur und Wirtschaft in Italien haben diesen Aufruf vorgeschlagen, für den Tausende von Unterschriften gesammelt wurden. Der Appell stellt den Beginn einer kulturellen Kampagne zum Thema der Erziehung und ihres Wagnisses dar: Ziel ist es, die Frage der Erziehung wieder zum Thema in der Gesellschaft zu machen. Denn es geht um eine Notwendigkeit, die alle betrifft, nicht nur Schüler und Lehrer. Die Kampagne zum Thema der Erziehung soll an Schulen und Universitäten, am Arbeitsplatz und in den Medien mit Konferenzen und Podiumsdiskussionen fortgeführt werden. Jeden Monat wird Spuren einige Aspekte dieser kulturellen Auseinandersetzung dokumentieren. Lehren heißt, in die Gesamtwirklichkeit mit all ihren Faktoren einführen
Wir veröffentlichen Aufzeichnungen, die während eines Gesprächs zwischen Don Giussani und einer Gruppe von Lehrern am 27. Januar 1987 gemacht wurden. Es ist ein Beispiel eines erzieherischen Wagnisses. Dabei gibt Don Giussani methodische Hinweise, die nicht nur für Lehrer von Interesse sind.

Die Begegnung soll ein erster Versuch sein, auf folgende Frage zu antworten: Wie können wir in unserem Beruf den Schülern Erkenntnisse vermitteln, ohne uns damit zu begnügen, dass sie über bestimmte Dinge nur eine oberflächliche Meinung haben?

Meinen und erkennen
Die Begriffe «meinen» und «erkennen» werden oft als Synonym betrachtet. Sie müssen aber unbedingt unterschieden werden. Diese Unterscheidung ergibt sich aus der Tatsache, dass eine Meinung die Wirklichkeit nicht berücksichtigen muss und so zu einer Ideologie werden kann.
Die Erkenntnis verlangt dagegen nach der vollständigen Erfahrung eines Gegenstandes. Nur das Erkennen kann zur Kultur führen. Denn der Mensch schafft Kultur, nur insofern er mit der Wirklichkeit in Beziehung tritt. In genau diesem Sinn bedeutet für den Papst Kultur soviel wie Erziehung, das heißt Einführung in die Wirklichkeit.
Diese Definition von Kultur löst das viel diskutierte Problem der Autonomie der Kultur. Die Kultur ist autonom, sofern sie von einer Ideologie absieht, das heißt von einer Meinung, die nicht im Bezug zur Wirklichkeit steht. Sie ist aber nicht in dem Sinne autonom, dass sie von der Wahrheit, von der Gesamtheit der Wirklichkeit absehen könnte.
Die Kultur besteht nicht darin, eine Einzelheit zu analysieren, sondern darin, die Einzelheit im Licht der Gesamtheit zu betrachten. Richtig verstanden ist die Kultur somit Ausdruck des religiösen Sinns. Sie ist der religiöse Sinn, insofern er tätig wird. Und die Erziehung besteht darin, dass der Jugendliche in sich den religiösen Sinn erkennt und anerkennt.

Die Didaktik
Besteht die Erziehung also darin, jemanden etwas erkennen zu lassen, dann sind auf didaktischer Ebene vor allem mit Blick auf den zu vermittelnden Inhalt zwei Dinge dringend nötig:
1.Die Aufrichtigkeit beim Gebrauch der Vernunft und damit das Befolgen der Methoden, die die Wirklichkeit vorgibt, wie bereits Aristoteles lehrte. Die Methode ist in der Tat ein Koordinatensystem, das mich in die richtige Beziehung zur Wirklichkeit und zu jedem ihrer Teile versetzt und mir bei deren Interpretation hilft.
2.Die ständige Ausrichtung auf das Ganze und das Bemühen, die Einzelheit in das Ganze einzuordnen und im Licht der Ganzheit zu betrachten.

Eine authentische Beziehung
Doch dies reicht noch nicht aus. Das Unterrichten wird zur Erziehung, wenn es zu einer authentischen Beziehung führt. Es stellt sich also die Frage: Wie versuche ich, in meinem Fachgebiet, den Schülern Erkenntnisse zu vermitteln und meine Worte zu einer Erfahrung werden zu lassen? Das heißt: In welcher Hinsicht fördert das, was ich lehre, auf einem bestimmten Gebiet das Bewusstsein, das die Schüler von sich haben?
Hieraus ergibt sich eine dreifache Aufgabe:
1)Ich muss von der Begriffs- und Vorstellungswelt des Schülers ausgehen, um dem Schüler, das, was ich sage, angemessen zu vermitteln.
2)Dabei muss ich den Zusammenhang zwischen dem, was ich sage, und der Ganzheit verdeutlichen.
3)Ich muss den Schülern konkret erklären, was das Gesagte mit ihnen und ihrer konkreten Erfahrung zu tun hat. Dieser Punkt ist wesentlich, denn die Kultur ist eine Lebensweise, keine Denkweise.

Einheit unter den Lehrern
Ein derart intensiver Unterricht kann sicher nicht von Lehrern erteilt werden, die unkoordiniert arbeiten. Die Einheit unter den Lehrern ist entscheidend. Aufgrund des Individualismus, von dem auch unser Berufsleben bestimmt ist, entsteht diese Einheit unter den Lehrern nur mühsam und bleibt meist nur ein guter Vorsatz. Mir scheint, dass sich die Einheit aus der Möglichkeit ergibt, eine gemeinsame Hypothese zu verifizieren. Ohne das Prinzip der Freiheit der Lehre zu verletzen, muss sich diese Hypothese auch auf die Didaktik beziehen. Im Dialog unter uns müssen wir auch den Mut aufbringen, die Didaktik der Kollegen zu beurteilen. Nicht in dem Sinne, weniger Respekt voreinander zu haben, sondern gerade aufgrund des gegenseitigen Vertrauensvorschubs, auf dem die Beziehung unter den Lehrern basieren muss.

In einer katholischen Schule
Was das Besondere einer katholischen Schule anbelangt, so gründet sie auf dem gemeinsamen Glauben an Christus. Hieraus erwächst das Vertrauen unter den Kollegen, das es erlaubt, sich auch auf der Ebene der Didaktik mit der gemeinsamen Hypothese, das heißt dem Glauben, auseinander zu setzen. Im Übrigen kann der Glaube sehr gut das letzte Fundament der Einheit in der Didaktik sein. Denn «alle Wissenschaften basieren auf dem Glauben, besonders deshalb, weil jegliche Methode auf der Methode des Glaubens basiert», wie Papst Johannes Paul II. in seiner Ansprache an die Wissenschaftler sagte.
Das gegenseitige Vertrauen entsteht also aus dem, was uns verbindet und zusammengeführt hat, um gemeinsam eine Schule zu gründen. Wahres Vertrauen beruht auf der gemeinsamen Zugehörigkeit zu etwas Größerem. Bei unserem letzten Treffen haben wir dies als die «Struktur» der Schule bezeichnet, nämlich die Einheit unter den Lehrern und mit der Gesamtkirche. In der Tat kann man nicht vertrauen, wenn man nicht die Autorität anerkennt.

Dem Jugendlichen etwas von sich selbst enthüllen
Dieses Vertrauen kommt auf existenzieller Ebene in einer Freude zum Ausdruck, in einer Leidenschaft für das Unterrichten, in der Anerkennung, dass unsere Arbeit der schönste Beruf der Welt ist. Denn sie zwingt uns, uns selbst zu ändern, und daher bietet sich auch den Jugendlichen, die wir vor uns haben, die Möglichkeit, sich zu ändern.
Mir scheint, dass es entscheidend darauf ankommt, uns auf dieser Ebene wirklich zu fragen, wie wir konkret in unseren Fächern versuchen, die Jugendlichen etwas «kennen lernen» zu lassen, das heißt, ihnen etwas von sich selbst zu enthüllen.