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Alain Finkielkraut - Die Schule heute
Es lohnt sich nicht, für Nichts zu sterben. In der Schule eines unbeirrbaren Realisten
Rodolfo Casadei und Flora Crescini

Der französische Philosoph Alain Finkielkraut setzt sich mit dem Thema der Erziehung auseinander. Dabei geht es um die Lage der Schule, die Rolle der Vernunft und die Risiken eines rein instrumentalen Unterrichts, sowie die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler. Finkielkraut beklagt vor allem eine Wende in der Erziehung hin zum Materialismus. Der französische Intellektuelle Alain Finkielkraut, der kürzlich aufgrund einiger Äußerungen zu den Unruhen in den Pariser Vororten international in die Schlagzeilen geriet, nahm Ende 2005 an einem Treffen des Kulturzentrums von Mailand teil zum Thema Wir anderen, die Modernen. Spuren hat ihn bei dieser Gelegenheit interviewt.

In Ihrem Buch Nous autres, Modernes / Wir anderen, die Modernen beschreiben Sie die Entwicklung der modernen Welt, die im Relativismus und im post-modernen Individualismus endet. Wie steht es um die Frage der Erziehung, die zugleich modern und post-modern ist? Ist Erziehung im Verständnis von Hannah Arendt noch möglich, als Integration der neu Geborenen in die Welt, die es vor ihnen schon gab, und als Weitergabe von Wissen?
Man braucht auf diese Frage keine allzu kategorische Antwort zu geben, aber sagen wir ruhig, dass die Schule in der Welt von heute nicht mehr zu Hause ist.
Die Schule scheint immer mehr eine Ausnahme, etwas Bizarres, ein Anachronismus zu sein. Für die Moderne war die Schule etwas sehr Wichtiges, aber heute scheint Schule unmodern zu sein. Zwischen ihr und der Gesellschaft hat sich ein Riss aufgetan: Schule und Gesellschaft sprechen nicht mehr dieselbe Sprache. Die Schule spricht von Geduld, vom graduellen Aufnehmen, die Gesellschaft spricht vom Augenblick, von sofortigem Genuss. So ist die Versuchung groß, darauf zu verzichten, die Ausnahmestellung der Schule zu bewahren oder zu bestärken, sondern sie vielmehr zu beenden und die Schule den Regeln der Gesellschaft zu unterwerfen. Das ergibt eine völlig profane Schule, die im gleichen Takt geht wie die Gesellschaft und die den Werten der Gesellschaft gehorsam ist. Was von der liberalen Erziehung übrig geblieben ist, unterliegt dem Vorteil des Nutzwertes und des Unmittelbaren, was von der Wissensweitergabe übrig geblieben ist, unterliegt der Kommunikation.
Mich verwirrt die Selbstaufgabe der Institution. Man kann ja verstehen, dass die Schule sich in Schwierigkeiten befindet, dass die Beziehungen zur übrigen Welt schwierig sind. Darauf könnte man versuchen, sich einen Reim zu machen. Das Problem besteht aber darin, dass die Institution selbst darauf verzichtet, sich zu verteidigen. Alle Reformen der vergangenen Jahre, in die sich die Schule ja durchaus eingebracht hat, zielen darauf ab, die Schule immer mehr zu entschulen. Dabei wird die schulische Kultur immer stärker durch die gewöhnliche Kultur ersetzt, die sich die Anpassung zum Vorbild genommen hat. Die Anpassung an den Markt, an das gesellschaftliche Klima, an die vorherrschenden Werte des Unmittelbaren und des Nutzens und schließlich die Anpassung an die Bedürfnisse des Schülers, der in der heutigen Sprache nicht mehr «der Schüler», sondern «der Jugendliche» genannt wird. Ich finde, dass diese sprachliche Neuerung sehr aufschlussreich ist. In einer Institution gibt es Schüler, weil der Schüler der Partner im institutionellen «Spiel» ist: Es gibt Schüler, weil es Lehrer gibt. Man bildet die Schüler innerhalb der Begrenzung der Schule, man bringt sie nicht anderswo hin. «Jugendlicher» ist hingegen ein allgemeiner Ausdruck, der in allen Situationen des Lebens Anwendung findet und der somit dazu beiträgt, die Institution der Schule im Gesellschaftlichen aufzulösen. Und wenn es keine Schüler mehr gibt, sondern Jugendliche, dann gibt es auch keine Lehrer mehr, sondern Animateure und Ausbilder. Albert Thibaudet hat von der III. Republik als einer «Republik der Professoren» gesprochen. Im 21. Jahrhundert sieht man in Frankreich die Geburt der «Republik der Ausbilder».

In den Empfehlungen der EU an die Mitgliedstaaten zur Erziehung geht es hauptsächlich um mathematische, naturwissenschaftliche Kompetenzen, um das Studium der Soziologie, darum «das Lernen zu lernen». Was bedingt diese Wende in der Erziehung?
Das Ziel des Lehrens war die Erkenntnis. Die Kultur musste Ziel ihrer selbst sein. Man geht nicht zur Schule, um angestellt zu werden, man geht zur Schule, um «kultiviert» zu werden. Diese Bedeutung gerät heute in Vergessenheit. Vor allem im Innersten der großen Weltbürokratie, von der die Unesco eine der eindrücklichsten Ausprägungen ist.
Mathematische Kompetenz, Soziologie: Es handelt sich um eine instrumentale Sicht von Schule und Intelligenz. Andererseits ist der Aufstieg der Soziologe eine der zahlreichen Formen beim Anbruch des Reiches des Unmittelbaren. Die Soziologie betrachte die Gesellschaft so, wie sie jetzt ist. Sie entwickelt sich auf Kosten der Geschichte. Der erste und größte Soziologe, August Comte, sagte, dass die Gesellschaft mehr aus Toten als aus Lebenden besteht. Die Gegenwartssoziologie ist allein auf die Lebenden gegründet und entwickelt sich um sie herum. Einstmals war die Kultur eine Art Kult für die großen Toten, dieser Religion entledigen wir uns zugunsten eines «common sense», einer Art von Existenz, in der nur die Lebenden als lebendig angesehen werden. Wir neigen dazu, die Toten zu vergessen, und damit auch das, was wir ihnen verdanken. Die Schule war einmal ein Kampf gegen dieses Vergessen. Jetzt kämpft die Schule nicht mehr, sondern beteiligt sich am allgemeinen Vergessen der Toten.

Zum Jahrestag der Einweihung der Katholischen Universität von Mailand hat Papst Benedikt XVI. beklagt, dass die Vernunft auf das Experiment reduziert worden sei. Auf diese Weise seien auch die grundlegenden Fragen des Menschen nach Leben und Tod, aus dem Bereich der Vernunft ausgeschlossen worden ...
Ich würde sagen, dass die Moderne sich tatsächlich vor allem als ein Raum des Experimentes entwickelt hat. Mit anderen Worten, einer der Auswirkungen der Aufklärung war es, die Erfahrung durch die Expertise zu ersetzen. Auf der anderen Seite befindet sich die Moderne in einer Falle. Mit Descartes wollte sie die Vernunft der Methode unterwerfen, aber die Methode hat eine Welt errichtet, die sich ihr in vielerlei Hinsicht entzieht. Es ist eine Welt, in der die Technik fabriziert wird, wo man sich von Unsicherheit umgeben fühlt und wo die Risiken direkt von der Technik selbst kommen und weniger von der umgebenden Natur. Von hier ergibt sich für den Menschen die Notwendigkeit, die Tugend der Vorsicht wieder zu entdecken. Die Welt der Methode ist eine unkontrollierbare und unsichere Welt geworden, die von uns verlangt, was die Griechen fronesis nannten, also die praktische Weisheit, die auf die Besonderheiten der Fälle angewendet wird, um die Probleme zu lösen, denen sich der Mensch stellen muss.

Das Problem der Erziehung scheint vor allem in der instrumentalen Haltung zu bestehen. Ist es möglich heute an eine Erziehung zu denken, die nicht nur rein instrumentalisiert ist, die der Wirklichkeit gegenüber offen ist und sie zu Wort kommen lässt?
Das ist möglich, weil die Tradition uns das in jedem Fall vorschlägt. Aber es braucht Lehrer und Schüler, die in der Lage sind, diese zu begreifen. Das Problem ist: Gibt es Platz für Leidenschaft und Askese in der Welt von heute? Und ich möchte eines ergänzen: eine der Schwierigkeiten, auf welche die Schule heute stößt, hat etwas mit der Entwicklung der Leidenschaft für die Gleichheit zu tun und mit ihrem Kreisen um sich selbst. Es ist die Leidenschaft, die uns alle beherrscht. Doch die Schule bildet hier eine Ausnahme. Damit die Weitergabe des Wissens gelingen kann, muss es eine Asymmetrie zwischen Schüler und Lehrer, aber auch zwischen Schüler und Werk geben. Es ist notwendig, dass sich die Fähigkeit zur Bewunderung entwickelt, und nicht nur einfach die Fähigkeit, die Würde eines jeden zu respektieren. Es bedarf der Fähigkeit, die Überlegenheit eines anderen zu bewundern. Nur wenige merken, dass der demokratische Respekt, zu dem immer aufgerufen wird, die Bewunderung tötet. Und wenn es keinen Platz mehr gibt für die Bewunderung, dann ist das humanistische Lehren, das liberale Lehren nicht mehr möglich. Heute ist die vorherrschende Tendenz, nicht nur schlechte Noten, die man erhalten kann, als erniedrigend anzusehen, sondern auch den Vergleich der Schüler untereinander, in all ihrer Unvollkommenheit, mit der beeindruckenden Schönheit der großen Werke der Menschheit. Der aktuelle Trend führt zur Gleichmacherei im Namen der Gleichheit. Eine derartige Gleichmacherei ist offensichtlich fatal für die Schule oder jedenfalls für die schulische Kultur.

Sie haben gesagt, dass die Schule heute den Schülern das Wort erteilt, ohne ihnen vorher eine Sprache gegeben zu haben. Warum kommt es zu dieser Niederlage der Sprache in der Welt von heute?
In der Tat glaube ich, dass die gesamte moderne Pädagogik auf dem Prinzip des Ausdrucks beruht. Sein Imperativ ist, die Hindernisse zu bekämpfen, deren Opfer die Schüler sind, und sie in die Lage zu versetzen, sich selbst auszudrücken. Es handelt sich um das Endstadium des Subjektivismus: Wir sind alle in der Lage, autonom zu denken, das ist das schöne und grundlegende Prinzip der Aufklärung. Heute ist dieses Prinzip jedoch verrückt geworden. Während die Aufklärung zwischen Erwachsenen und Kindern unterschied, wird das Prinzip der Autonomie sofort auf alle angewendet, einschließlich die Kinder. Deswegen meint die Schule mit einer dämlichen Großzügigkeit, den Schülern das Wort erteilen zu können, bevor ihnen eine Sprache gegeben wird. Dabei wird vergessen, dass niemand aus sich selbst heraus denkt, sondern nur innerhalb einer Welt, die uns vorausgeht und die durch uns hindurchgeht, und vor allen Dingen innerhalb einer begrifflichen Welt. Und es ist von entscheidender Wichtigkeit, dass alle Menschen in dieser begrifflichen Welt wohnen können. Denn je mehr man reden lässt, je mehr wird geschaut. Die Qualität unseres Blickes hängt von der Qualität unserer Syntax ab. Man muss dem, was man sieht, einen Namen geben können, um es sehen zu können. Man muss die Empfindungen herausarbeiten und dekonstruieren, um Empfindungen zu haben. Die Qualität unserer Aufnahmefähigkeit hängt von der Qualität unserer Sprache ab. Die Logik des Ausdrucks über allem führt hingegen dazu, jene reden zu lassen, die keine Sprache haben. Diese Tragödie zeichnet sich besonders in Frankreich ab, wo sich die französische Sprache verliert. Immer weniger Franzosen sprechen die eigene Sprache. Das Fernsehen, also die TV-Wirklichkeit der Talkshows, zeigt das. Das ist eine nationale Katastrophe.

Der Gedanke, die Sprache, der Blick: alles führt zu einem Urteil. Was ist für Sie das Urteil?
Hier muss man auf Hannah Arendt Bezug nehmen: Der Gedanke führt zum Urteil. Das heißt, man kann nicht in jeder beliebigen Weise urteilen, es bedarf eines aufgeklärten Urteils. Letztlich muss man zu unterscheiden wissen, gegenüberstellen und hierarchisch ordnen können. Eines der Ziele der Erziehung müsste es sein, die Aufmerksamkeit zu entwickeln, wie es Simone Weil gesagt hat, und ebenso die Haltung zu einem gewissenhaften Urteil. Aber in Wirklichkeit lässt sich die heutige Kultur von einem banalisierten Christentum inspirieren, um zu sagen «urteilt nicht». Und «urteilt nicht» ist die Parole der Toleranz geworden. Das ist die Herausforderung, die wir heute austragen müssen: Der erschreckende Gegensatz zwischen dem Urteil und der Toleranz, denn urteilen heißt, zu unterscheiden, zu diskriminieren.
Zu was werden wir ununterbrochen eingeladen und aufgefordert? Jegliche Diskriminierung zurückzuweisen. Und also als Modell, im Namen der Toleranz, den Tod zu errichten. Denn der Tod macht alle gleich, er ist der große Gleichmacher. Niemand kommt ihm darin gleich. Unsere Epoche, um dem Prinzip der Offenheit und der Toleranz, das ihr eigen ist, treu zu bleiben, rückt dem Tod immer näher. Und das ist das Ende.