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Thema - Der neue Laizismus
Das Beispiel Amerika
Paolo Carozza

Der religiöse Charakter der amerikanischen Kultur und die Rolle der Kirche in der öffentlichen Diskussion machen nach Ansicht des Rechtswissenschaftlers Paolo Carozza ein Konkordat zwischen Staat und Kirche in den USA eigentlich überflüssig.

Freie Kirche und begrenzter Staat
Ein Europäer, der nicht längere Zeit in den Vereinigten Staaten verbracht hat, wird sich schwerlich bewusst sein, dass wir Amerikaner weitgehend ein sehr religiöses Volk sind. Wer sich dessen nicht bewusst ist, dem kann die amerikanische Gewohnheit, häufig Gott öffentlich anzurufen, nur als zynische Instrumentalisierung und die Stellungnahmen führender Kirchenvertreter zu Fragen von öffentlichem Interesse als Korrumpierung demokratischer Politik erscheinen. Religion spielt aber im Leben der großen Mehrheit der Amerikaner eine entscheidende Rolle. Wer also versuchen würde, religiöse Äußerungen aus dem politischen Leben zu verbannen und öffentliche Beiträge führender Kirchenvertreter zu zensieren, der würde leugnen, was tatsächlich für viele Menschen der Sinn ihres Lebens ist. Auch in den Vereinigten Staaten gibt es viele Befürworter eines solchen anti-humanistischen Laizismus. Allerdings erscheint mir diese Tendenz in jüngster Zeit in Italien weiter verbreitet und ideologisch aggressiver. Selbst der starke Anti-Katholizismus während eines großen Teils der amerikanischen Geschichte hat nie zu einer allgemeinen Feindseligkeit gegenüber der Religion geführt; es sei denn in allerjüngster Zeit.

Eine Frage der Geschichte
Obwohl der religiöse Charakter der amerikanischen Kultur ein notwendiger Ausgangspunkt ist, reicht er alleine nicht aus, um die Rolle der Kirche in der öffentlichen Debatte der Vereinigten Staaten zu verstehen. Sie ist auch eine Frage der Geschichte, des Rechts, der typisch amerikanischen Auffassung vom Staat und schließlich der Bedeutung, die der Vernunft beigemessen wird. Seit ihren Anfängen ist unsere Geschichte immer wieder vom starken Einfluss religiöser Erfahrung auf alle wichtigen öffentlichen Ereignisse gezeichnet: angefangen von der Gründung der Kolonien durch Flüchtlinge, die ihr Land aus Gründen religiöser Überzeugung verlassen mussten, über die zentrale Rolle der Christen beim Kampf für die Abschaffung der Sklaverei und der daraus folgenden Bürgerrechtsbewegung, bis hin zu den aktuellen Debatten über die Rolle Amerikas in der Welt.
So hat die religiöse Auffassung vom Leben den Amerikanern während ihrer gesamten Geschichte Sinn vermittelt und Gründe dafür geliefert, wie sie Freiheit, Gleichheit, Verantwortung und Gemeinwohl verstehen. Sie hat geholfen, Antworten auf die Fragen zu geben, was für Menschen wir sind und was wir anstreben zu sein, Fragen, die jede wichtige öffentliche Auseinandersetzung zumindest implizit stellt. Diesseits des Atlantiks scheint ein Konkordat eine Antwort auf die Notwendigkeit zu sein, die Kirche gegen den Anspruch des Staates zu verteidigen, der danach strebt, Träger exklusiver und definitiver Macht und Autorität zu sein. In einem Kontext wie dem unsrigen aber, wo die Freiheit der Kirche durch die strukturelle Begrenzung des Staates weitgehend garantiert ist, scheint ein Konkordat überflüssig zu sein. Ein Beispiel: Das Recht der Kirche, ein eigenes Erziehungswesen einzurichten, bedarf keines besonderen Abkommens, weil der Staat kein Erziehungsmonopol innehat und die Gründung und Tätigkeit religiöser Schulen nicht verbieten kann.

Ein offener Austausch von Ideen
Unsere Auffassung von Religions- oder Redefreiheit fördert ganz entschieden einen offenen und unbeschränkten Austausch von Ideen. Dagegen unterliegt die Rolle religiöser Gruppierungen in der öffentlichen Diskussion Regeln und Einschränkungen, wie das amerikanische Steuerrecht (vielleicht für Europäer überraschend) deutlich zeigt. Gemeinnützige Körperschaften einschließlich religiöser Organisationen genießen Steuerfreiheit, nur solange sie nicht politisch Partei ergreifen. Deshalb achten die Kirchen und andere religiöse Organisationen bei ihren Stellungnahmen stets darauf, nicht die Wahl einer bestimmten Partei oder eines bestimmten Kandidaten zu begünstigen. Sie konzentrieren sich statt dessen auf die grundsätzlichen und praktischen Fragen, um die es bei der Diskussion gesellschaftlicher Interessen geht.

Religiöse Freiheit
Das Gesetz respektiert und verteidigt die zentrale Rolle, die die Religion im öffentlichen Leben gespielt hat. Wir haben eine weitreichende Auffassung von Religionsfreiheit, die anerkennt, dass ein wichtiges Element der Freiheit religiöser Gemeinschaften in der Möglichkeit besteht, öffentlich zu reden und zu handeln. Gleichzeitig ist in Amerika der Begriff «Freiheit des Wortes» wesentlich weiter gefasst als in Europa. Unsere Toleranz gegenüber gegensätzlichen Meinungen zu sozialen Fragen aufgrund unterschiedlicher religiöser Überzeugungen rührt zum großen Teil von der Vorstellung her, jeder Meinung müsse Raum für öffentliche Präsenz gegeben werden, gleich wie unpopulär oder unangenehm sie für einige sein mag. Das ist besonders wichtig angesichts der großen Vielfalt an Ethnien und religiösen Praktiken, die unter Amerikanern zu finden sind. Es ist nicht Sache des Staates zu bestimmen, was als Argument in der Öffentlichkeit akzeptabel ist. Deshalb verteidigt das Gesetz die Freiheit aller, die eigene Meinung zu sagen.
Hier gibt es eine enge Verbindung zwischen der Meinung der Amerikaner über die Rolle der Religion in öffentlichen Angelegenheiten und ihrer Ansicht vom Staat. Während die vom 19. Jahrhundert geerbten Verfassungstheorien Kontinentaleuropas das Monopol des Staates als Verkörperung des öffentlichen Interesses hervorheben, folgen die Vereinigten Staaten einer Verfassungstradition, die sehr viel mehr dazu neigt, im Staat nur einen Mitspieler innerhalb des sozialen Gefüges zu sehen. Es gibt die Trennungslinie zwischen allgemein akzeptierten und als unerlaubt angesehenen Stellungnahmen religiöser Gruppen.
Diese Unterscheidung zwischen inakzeptabler politischer Parteinahme und akzeptablen öffentlichen Stellungnahmen beruht auf der Überzeugung, dass Urteile über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse, die auf religiösen Überzeugungen gründen, vernünftig sein können. Man geht davon aus, dass die Urteile möglicherweise andere zu der Einsicht führen, dass sie letztlich auf gemeinsamen Überzeugungen über das Wohl der Gesellschaft beruhen, und diese somit von ihrer Wahrheit überzeugen. In Amerika und wenn vielleicht auch in geringerem Maße in Europa haben jene, die leugnen, dass man aus einer Sicht der Dinge, die auf religiösen Überzeugungen beruht, nicht in angemessener Weise über Fragen von öffentlichem Interesse sprechen kann, ein ziemlich oberflächliches Verständnis der Vernunft. Denn hierum geht es letztlich bei der Auseinandersetzung um die Teilnahme der Kirche an öffentlichen Diskussionen in der Demokratie. Denn wer diese Teilnahme zulässt und verteidigt, der bejaht die Fähigkeit der Vernunft, die Wahrheit zu begreifen, mitzuteilen und zu fördern.

Zitate aus Veröffentlichungen Benedikts XVI.
«Der zum Äußersten getriebene Versuch, die menschlichen Dinge vollständig ohne Gott zu gestalten, führt uns immer mehr an den Rand des Abgrunds, hin zur totalen Beseitigung des Menschen. Wir sollten also das Axiom der Aufklärer auf den Kopf stellen und sagen: Auch wem es nicht gelingt, den Weg zur Annahme Gottes zu finden, der sollte jedenfalls versuchen, so zu leben und sein Leben so auszurichten, "als wenn es Gott gäbe". Das ist der Rat, den wir auch heute dem geben möchten, der nicht glaubt. So wird niemand in seiner Freiheit eingeschränkt, aber all unsere Dinge finden eine Stütze und einen Maßstab, die sie dringend benötigen.»
(aus: Fare la verità nella carità, Interview mit Giuseppe De Carli, Ares 2005)

«Die grundlegende Befreiung, die die Kirche uns geben kann, ist das Stehen im Horizont des Ewigen, ist das Heraustreten aus den Grenzen unseres Wissens und unseres Könnens. Der Glaube selbst, in all seiner Größe und Weite, ist deshalb immer von neuem die wesentliche Erneuerung, die wir nötig haben. Davon ausgehend müssen wir stets neu jene Institutionen überprüfen, die wir selbst in der Kirche geschaffen haben. Das bedeutet, dass die Kirche die Brücke zum Glauben sein muss und nicht Selbstzweck werden darf.»
(aus: La bellezza, la Chiesa, Itaca libri, 2005)

«Beim Dialog von Laizisten und Katholiken müssen wir Christen darauf achten, folgender Grundlinie treu zu bleiben: Wir müssen einen Glauben leben, der aus dem Logos kommt, aus dem Bereich des Schöpfers, und der deshalb auch offen ist für alles, was wahrhaft vernünftig ist.»
(aus: L´Europa di Benedetto nella crisi delle culture, Verlag Cantagalli, 2005)