Logo Tracce


Aufmacher
Im Glauben, Mensch und Volk
Luigi Giussani

Wir veröffentlichen einige Auszüge aus dem neuen Buch von Luigi Giussani Von der Utopie zur Präsenz (1975 - 1978). Es ist der erste der neuen Sammelbände mit dem Titel L'Équipe. Er gibt die Vorträge und Gespräche Don Giussanis bei den gleichnamigen Treffen mit den Verantwortlichen der Studenten von Comunione e Liberazione wider. Das Werk erscheint in der Reihe Die Bücher des christlichen Geistes, im Mailänder Verlag Rizzoli. Herausgeber ist Julián Carrón. Das Buch ist seit Anfang Juli im italienischen Buchhandel erhältlich und wird am Samstag, den 26. August, zum Abschluss des Meetings in Rimini vorgestellt.
Es gab zwei Équipes, nach jener von Rimini: eine in Florenz, im Februar 1976, und eine weitere wiederum in Rimini, im Mai. Der Vorschlag einer «Basisgmeinschaft» hatte zweifelsohne auf die Studenten gewirkt und wurde bei beiden Treffen besprochen. Aber man konnte kaum verstehen, was dies bedeuten sollte, weder für sich selbst, noch für die Gemeinschaft, obwohl man sich durchaus Fragen über die Dimensionen der Erfahrung des Christentums und über eine ganze Reihe von damit verbundenen Begriffen wie Erziehung, Unentgeltlichkeit, Verantwortung stellte. Ferner sah man es als dringlich an, die «Präsenz» in der Universität und die Gestalt der Gemeinschaft erneut in den Blick zu nehmen, um eine Art «Flucht aus der Universität» in äußere Bereiche einzudämmen. Damals war dieses Phänomen ziemlich weit verbreitet. Dennoch gelangte man im Allgemeinen fast immer nur zu Fragen der organisatorischen und kulturellen sowie «politischen» Wirkungen. (Im Januar fanden die Wahlen der Studentenvertreter in den Universitätsräten statt.) Dabei handelte es sich um die übliche Art und Weise, das Leben in der Universität aufzufassen und zu leben - was sich gleichzeitig als ziemlich schwierig darstellte. Don Giussani nahm an der Équipe von Florenz nicht teil, wohl aber an jener von Rimini. Den ganzen Nachmittag über verfolgte er dort die Diskussion über den kulturellen und politischen Einsatz an der Universität. Er saß zurückgezogen im hinteren Teil des Saales und nach einer Pause vor den Schlussbemerkungen bat er um folgende kurze Stellungnahme.

Es wäre interessant zu wissen, was jeder von euch auf die Frage antworten würde: «Was ist der Glaube?» Denn davon hängen meiner Meinung nach alle weiteren Problem ab. In meinen Augen fehlt es der Antwort an Klarheit. Wenn aber eine klare Antwort, eine Methode, das heißt, ein Weg fehlt, wie kann das Leben dann kreativ werden? Nur ein Mensch, der reif und sich seiner selbst bewusst ist, kann auch tatsächlich kreativ sein.
Welche Rolle spielt CL im heutigen Leben der Kirche und im Leben der italienischen Gesellschaft, wenn nicht als Ruf zum Glauben? Es gibt niemanden mehr, der sich auf die Inhalte des Glaubens beruft. Deshalb regen sich alle auf, aber es gelingt ihnen nicht, das eigene Subjekt zu finden, das eigene Gesicht, die eigene Identität. Wenn aber die Klarheit fehlt, dann neigt das, was Funktion und Werkzeug des Selbstbewusstseins ist, dazu, sich für etwas einzusetzen, was es nicht gibt.
Was aber ist der Glaube? Man versteht, was der Glaube ist, wenn man sich in die ersten Jünger hineinversetzt, in Andreas und Johannes, die ihm nachfolgten und ihn fragten: «Meister, wo wohnst du?» (Joh 1, 38). Was war der Glaube angesichts dieses Mannes? Er war das Anerkennen der göttlichen Gegenwart. Sie wagten nicht einmal, daran zu denken, sie hatten nicht die Klarheit, aber sie erkannten in jenem Mann die Gegenwart, die befreite und rettete.
Der Glaube, der unsere Identität definiert und uns zu aktiven und folglich kreativen Subjekten macht, besteht darin, sich dieser Gegenwart unter uns gewahr zu werden. Sie ist unsere Einheit und macht uns zu einem Volk. Meine angemessene Identität ist unsere Einheit als Volk. Wären wir uns dessen bewusst, würden sofort die größten Schwierigkeiten ganz und gar aus dem Weg geräumt werden, die es zwischen der Einschätzung des eigenen, individualistisch verstandenen Subjekts und dem Leben der Gemeinschaft gibt. Diese Schwierigkeiten vergeuden meines Erachtens ungeheure viel Energie. Die wahre Beziehung zu den Erwachsenen, das heißt, zur Autorität des CLU, ist die Beziehung zur Geschichte, so, wie sie geleitet wird: Jede andere Beziehung liefe in der Tat Gefahr, einer rein persönlichen und tendenziell innerlichen Beziehung zu verfallen (die nur durch eine außergewöhnliche Reinheit und Objektivität der reifen Person gerettet werden könnte; dies geschieht aber nur in außergewöhnlichen Fällen).
Das, was uns rettet, ist objektiv. Es ist objektiv, das heißt, es lässt uns zu Erwachsenen werden. Der Glaube besteht darin, die Gegenwart der Befreiung des Lebens anzuerkennen, die Gegenwart des Heils für alles. Das ist es, was eine frische und freudige Gewissheit aufblitzen lässt, die uns fehlt. Was die Welt besiegt und was uns fehlt, ist der Glaube. Es ist der Glaube, der diese Gegenwart anerkennt, die dich und gleichzeitig auch die Welt erlöst und befreit. Diese Gegenwart hatte vor 2000 Jahren das Gesicht jenes Mannes, und jetzt hat sie das Gesicht unserer Einheit, des Volkes, das sein Leib ist: Unsere wahre und angemessene Einheit mit diesem Leib.
Es ist so, als ob wir die Schwelle des Ereignisses noch nicht überschritten hätten, dessen Namen wir benutzen. Es ist, als ob es keine Wirklichkeit gäbe, sondern nur eine ideologische Bezeichnung, eine ideologische Anregung, die in aneinandergereihten Sätzen eine gewisse kulturelle und moralische Bedeutung einschließt.
Die Charakteristik eines Menschen, der sich als befreit und gerettet und daher als neu versteht, besteht dagegen darin, in der Geschichte mitzuspielen und froh und unbeschwert schöpferisch tätig zu sein.
Zum Zweiten sollte man sich bewusst sein, dass es kein Individuum gibt, das ohne jeden Zusammenhang existiert, sondern dass es nur eine inkarnierte Identität gibt: Es gibt keine Identität, wenn nicht in der Situation. Das Problem ist nicht die Einheit mit dem CLE [die Erzieher und Lehrer von Comunione e Liberazione; A.d.R.], mit dem CLU oder mit allen «Stufen» der Bewegung. Das Problem ist das Selbstbewusstsein dieser Neuheit, die wir sind und die in der Situation lebt. Man könnte also ohne vertiefte Einsicht an der Universität (in den Kursen oder Fakultätsräten) sein, und dennoch begeistert und voller Tatendrang sein, angesichts der Neuheit, die man in sich trägt.
Wenn die Zeit an der Universität zu Ende gegangen ist, gilt es, diese Begeisterung der Identität nach außen zu tragen, in das Leben der Kirche, im gesellschaftlichen, sozialen und politischen Engagement.
So wird auch der politische Einsatz als kulturelle Arbeit verstanden. Denn man ist sich bewusst, was Arbeit für die Kultur bedeutet. Es handelt sich um das Bewusstsein eines Volkes, das im Kontakt mit den Ereignissen immer mehr die Klarheit vertieft, dass es die Antwort auf die Krise in sich trägt.
Die Haltung beim kulturellen Engagement ist die eines Volkes, das sich immer mehr bewusst wird, das Prinzip der Lösung der Krise für alle in sich zu tragen. Wir bringen das Heil. «Der Herr ist mein Heil und mit ihm fürchte ich mich nicht mehr, weil ich im Herzen die Gewissheit habe: Das Heil ist hier mit mir» (A. Marani, «Lied der Erlösten», in Canti, Cooperativa Editoriale Nuovo Mondo, Milano 2002, S. 186). Dieser Satz ist nicht das Emblem der ästhetisierenden und moralisch oberflächlichen Reduktion, mit der wir leben: Dieser Satz definiert die Art des Bewusstseins, das ich von mir selbst habe. Diese Identität existiert nicht auf abstrakte Art und Weise, sondern inkarniert in den Situationen an der Universität, in der Politik, und so weiter. Es gibt keinen Standpunkt außerhalb dieser Probleme: Sie sind Teil meiner selbst, sie sind «ich».
Ich wollte mit diesen Begriffen wieder ins Gedächtnis rufen, was der Glaube ist - die Antwort auf jene Frage ist der Schlussstein von allem: Er besteht darin, die Gegenwart anzuerkennen, die uns selbst und die Welt befreit. Wir machen uns oft auf den Weg, um ganz Italien die christliche Verkündigung zu bringen, aber wir spüren sie nicht existenziell in uns. Wir anerkennen die Annahme dieser Antwort nicht wirklich existenziell. Das christliche Faktum ist die Verkündigung, dass eine neue Gegenwart in die Geschichte eingetreten ist; Gott hat sich zur Gegenwart gemacht, ein Mensch, der die Befreiung ist, ist in die Geschichte eingetreten. Indem wir uns ihm anschließen, werden wir als Geschichte befreit.
Die Zugehörigkeit zu diesem Volk ist meine Identität. Derjenige, der diese Beobachtung machte, war einer von uns: Aber er kam 1969 zur Bewegung, und zwar durch eine gewisse Gruppe von Freunden, die im selben Jahr der Bewegung den Rücken kehrte. Er hingegen nahm die Objektivität der Tatsache des Gottesvolkes wahr, der Einheit, die auch von dieser Gruppe von Freunden, die ihn zu CL gebracht hatten, unabhängig war. Seine Identität bestand darin, diesem Volk anzugehören. Um diese Selbstwahrnehmung muss man den Heiligen Geist bitten.
Diese Identität ist sich ihrer selbst bewusst und weiß darum, einem Volk anzugehören. Das ist alles, worum man bitten muss, damit die Reife beginnt, die uns Kreativität verleiht. Dieses Bewusstsein ist dringend notwendig, nicht nur für die Bewegung in der Universität, sondern für alle. Auch unzählige Erwachsene verstehen das nicht mehr. Viele sind ausgezeichnete Leute, aber sie verstehen nicht den vom christlichen Faktum herrührenden Wandel des Bewusstseins. Sie verstehen es mit fünfzig oder sechzig Jahren, auf verworrene Art und Weise, wenn das Wort «Einheit» kein Hindernis mehr in den eigenen Meinungen findet, weil einem im Leben dann nichts mehr bevorsteht. Dann lassen sie sich in einer Armut des Geistes zur Einheit herab, die sie als ein Geheimnis auffassen, aber ohne zu verstehen, was sie ist.
Auf jeden Fall können wir in der Situation, in die wir gestellt sind, mit einer echten Reife leben - auch wenn wir uns in nichts auskennen, werden wir doch «mitreißend» wirken. Niemand kann einen anderen aufgrund der Leistungen messen, die er jetzt erbringt. Denn das, was hier auf dem Spiel steht, ist eine Geschichte und die Geschichte ist das Hervorbringen des Sinnes in der zeitlichen Wirklichkeit für das Subjekt, das heißt der lebendigen Bedeutung, die sich mitteilt. Mein lebendiger Sinn ist die Einheit, die ich mit euch habe, das Geheimnis, das unter uns ist. Andernfalls bin ich ein nutzloser Zweig, getrennt vom Baum.
Das Volk Gottes mit seiner Geschichte ist eine reale Erfahrung von Freiheit, von Bewusstsein der eigenen Person, unabhängig davon, wieweit ich in der Lage bin zu reden oder zu handeln. Denn unser ganzer Bestand ist diese Gegenwart, deren Gesicht das Volk Gottes ist, die Einheit der Gläubigen, die dazu neigt, ein gegenwärtiger Leib in der jeweiligen Situation zu werden (in der Universität oder in der Bewegung, wie in der ganzen Kirche).