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CL - Brasilien
Es geschieht jetzt
Paolo Perego und Paola Ronconi

Ein Seminar der Gemeinschaft in Sao Paolo, zu dem 15.000 Studenten kommen - jeweils in Gruppen zu 600 -, und «Schönheitssalons» in Vierteln, wo ehemalige Favelabewohner leben: Man kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Erfahrung von Cleuza und ihrem Mann Marcos, die die Bewegung der landlosen Arbeiter gegründet haben, teilt sich weiter mit. In der Begegnung mit der Bewegung haben sie eine Leidenschaft für den ganzen Menschen entdeckt. Neuanfang folgt auf Neuanfang.

Während einer Versammlung beim Treffen der Verantwortlichen von Comunione e Liberazione in La Thuile vergangenes Jahr im August hatte Cleuza eine Frage gestellt, als Carrón betonte, dass es darum gehe das Seminar der Gemeinschaft ernst zu nehmen. «Wenn nur 10 Prozent unserer Freunde dem Vorschlag folgen, wie machen mein Mann und ich das dann mit 10.000 Leuten?» Cleuza Ramos und ihr Mann Marcos Zerbini sind Gründer der Bewegung der landlosen Arbeiter, eines Vereins, dem in der brasilianischen Hauptstadt Sao Paolo rund 100.000 Personen angehören (vgl. Spuren Juni 2005). «Irgendwie wird es gehen», ist die knappe Antwort von Giancarlo Cesana.
Wir haben Cleuza und Marcos getroffen, als sie zum Treffen des Papstes mit den Bewegungen und neuen Gemeinschaften kamen. Mit dabei waren auch Alexandre, ein Arzt aus Sao Paolo, der zum Gruppo Adulto gehört. Sie berichteten von den unglaublichen Veränderungen in ihrem Leben und ihrem neuen Seminar der Gemeinschaft.

Ihr habt in La Thuile eine Frage gestellt ?
Cleuza: Wir glauben, dass unsere Arbeit eine Mission ist, und wenn wir nach La Thuile eingeladen worden sind, dann nicht als Touristen, sondern um Erfahrungen auszutauschen. Die Begegnung dort hat mich sehr berührt. Ich möchte, dass alle diese Schönheit erfahren, die mir begegnet ist. Als ich Don Giussanis Spuren christlicher Erfahrung las, - ein Buch, das mir sehr gefällt - fragte ich mich: Wie können alle dies kennen lernen? Auf einer Seite des Buches heißt es, dass alle Christen die Pflicht haben, die Botschaft ihres Glaubens auf möglichst einfache Art und Weise weiterzugeben. In unserem Verein verteilen wir bei unseren Versammlungen ein Blatt mit Hinweisen. Dieses Prinzip haben wir aufgegriffen und bereiten jetzt immer ein Textblatt zu einem bestimmten Thema vor: Wir drucken ein brasilianisches Volkslied zum Thema ab und einen Abschnitt aus Don Giussanis Spuren christlicher Erfahrung.

Wie ist dieses Seminar der Gemeinschaft entstanden?
Marcos: Da muss ich jetzt ein bisschen weiter ausholen. In dieser Gruppe von Personen (der Bewegung der landlosen Arbeiter, A.d.R.), die jetzt ein Stück Land besitzen und ein Haus haben, ergaben sich mit der Zeit andere Bedürfnisse. Eines davon war, dass die Schulabgänger keinen Studienplatz bekamen. In den staatlichen Universitäten in Brasilien gibt es einen Numerus clausus, und die Aufnahmeprüfung ist so schwer, dass sie nur Leute schaffen, die eine Privatschule besucht haben. Wer arm ist, hat nur die Möglichkeit, an eine private Universität zu gehen. Die staatlichen Schulen in Brasilien sind nicht besonders gut. Wer von dort kommt, schafft die Aufnahmeprüfung an der Uni nicht. Das Problem ist also, dass die, die Uni umsonst besuchen können, die sind, die das Geld haben eine Privatschule zu bezahlen, und nicht die, die wirklich arm sind. Deshalb haben wir uns nach Alternativen umgeschaut. In der Zeit gab es ein Treffen der Compagnia delle Opere in Rio, an dem wir teilnahmen. Dort hörten wir, welche Erfahrung Tista an der Universität in Lima in Peru machte. (vgl. Spuren, Oktober 2003). Zuerst verfolgten wir die Idee, eine eigene neue Fakultät in Sao Paolo zu gründen, aber das mussten wir wegen der ganzen Bürokratie und der großen Probleme bei der Anerkennung durch das Bildungsministerium wieder verwerfen. Wir haben dabei jedoch entdeckt, dass es an den privaten Universitäten viele freie Plätze gab. Auch bei ihnen gibt es Zulassungsprüfungen, theoretisch gibt es auch bei ihnen einen Numerus clausus, aber die Nachfrage ist zugleich auch nicht so groß, da man Studiengebühren zahlen muss. So werden nur fünfzig Prozent der Studienplätze tatsächlich genutzt.

Und was habt ihr gemacht?
Marcos: Wir begannen, mit ihnen zu verhandeln: «Wie viel könnt ihr an Studiengebühren nachlassen, wenn wir viele Studenten an eure Universität schicken?» Sie haben uns geantwortet: «Wenn sich mehr als 1.000 Studenten bei uns immatrikulieren, dann werden euch zwischen 30 und 60 Prozent der Studiengebühren erlassen.» 1.800 Studenten haben über uns an die Uni gefunden, meist Kinder von Familien unserer Bewegung der landlosen Arbeiter. Viele von ihnen sind zu uns gekommen und haben uns gesagt: «Ich hätte da noch einen Freund» oder «Ich hätte da einen Verwandten, der gerne studieren würde, aber er kann es sich finanziell nicht leisten.» Einige sind vielleicht nicht von unserem Verein, sie wohnen auch nicht in unseren Stadtvierteln, aber sie wollen studieren. Wir begannen also uns mit diesen jungen Leuten zu treffen. Mit der Zeit sind immer mehr Leute dazu gestoßen. Inzwischen sind es 10.000 Leute, die schon an der Uni sind. Das alles ist in zweieinhalb Jahren entstanden. Weitere 3.000 Schulabgänger, die zu unserem Verein gehören, werden im August mit dem Studium beginnen. Aus diesen Treffen ist inzwischen ein Seminar der Gemeinschaft geworden, zu dem rund 15.000 Leute kommen. Es findet einmal im Monat statt, immer in Gruppen zu 600. Sie laufen folgendermaßen ab: Am Anfang verteilen wir ein Blatt mit einem Abschnitt aus Spuren christlicher Erfahrung und einem brasilianischen Lied, das das Thema des Textabschnitts von Don Giussani aufgreift. Dann gibt es eine Einführung in den Text von einem von uns, woraufhin sich alle in Gruppen zu zehn Personen zusammen- tun, denen einige Studenten der Bewegung, die von Gruppe zu Gruppe gehen, bei der Diskussion helfen. Jede kleine Gruppe formuliert eine Frage und bestimmt einen Gruppensprecher. Dann werden die 60 Fragen alle in der Großgruppe vorgelesen oder vorgestellt. Das ist für viele eine Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen, dadurch dass sie den Mut aufbringen müssen, vor allen zu sprechen. Wer die Versammlung leitet, geht dann auf drei oder vier Fragen ausführlicher ein, wobei er versucht, möglichst zum Kern der Frage vorzudringen. Es ist beeindruckend, welche Stille dabei herrscht. Und es ist noch erstaunlicher zu sehen, wie diese Stille und Spannung jedes Mal wächst, je länger wir das machen.

Was für Räumlichkeiten stehen euch zur Verfügung, wenn ihr euch einmal im Monat mit 15.000 Leuten zum Seminar der Gemeinschaft versammelt?
Cleuza: Wir treffen uns in einem großen Lagerhaus, das auch als Versammlungsraum dient, in dem genau 600 Personen Platz finden. Die Treffen dauern jeweils zweieinhalb Stunden. Wenn die erste Gruppe fertig ist, dann sind die nächsten 600 dran. Das Treffen ist einmal im Monat, danach arbeitet man den Monat über am Text. Es sind insgesamt 29 solcher Treffen. Dann gibt es daneben auch noch die Treffen unseres Vereins, so dass mein Mann und ich 132 Versammlungen im Monat abhalten.
Alexandre: Dieser Gestus ist aus der Zugehörigkeit zu einem Volk heraus zu verstehen, denn es ist klar, dass es darum geht, eine andersartige Person heranzubilden, die von einem Bedürfnis ausgeht, ohne aber dabei stehen zu bleiben.
Cleuza: Wir sagen den Leuten, die zu uns kommen: «Ihr kommt zu uns, weil ihr ein Stück Land erwerben oder studieren wollt; wir wollen dem Leben auf den Grund gehen: Wenn ihr mitmachen und dem Leben auf den Grund gehen wollt, seid ihr herzlich willkommen, wenn nicht, dann sucht anderswo.»

Das sieht nach Erpressung aus ?
Cleuza: Am Anfang kommen sie widerwillig, aber mit der Zeit beginnen sie zu verstehen, dass es ein interessanter Vorschlag für ihr Leben ist. Die jungen Leute sind so groß geworden, dass es für sie normal ist, nur persönliche Interessen zu verfolgen. Wenn einer zu verstehen beginnt, dass sein Glück vom Glück des anderen abhängt, wird der Weg einfacher und es macht mehr Sinn, die Dinge gemeinsam anzugehen. Viele junge Leute kamen zu uns und sagten: «Ich bin hierher gekommen, weil ich nicht so hohe Studiengebühren zahlen wollte, aber das, was mich heute am wenigsten interessiert, ist genau das.» Denn das, was am Ende unter ihnen entsteht, ist eine Gemeinschaft. Sie verstehen, dass das, was uns am Herzen liegt, das Beste für sie ist, und dass sie ein Leben führen können, wie es besser nicht sein könnte.

Und wie wirkt sich die Präsenz dieser jungen Leute an der Uni aus?
Alexandre: Ich will nur ein Beispiel machen: Sie tragen die Flugblätter, die wir bei unseren Treffen austeilen, oft bei sich und diskutieren dann am Arbeitsplatz oder zu Hause weiter darüber. Es kommt auch vor, dass ein Professor sie bei seinen Vorlesungen einsetzt. Einer der Texte ist sogar bei der Aufnahmeprüfung in einer der Fakultäten, mit denen wir den genannten Vertrag gemacht haben, verwendet worden. An einer Uni gehören von 50.000 Studenten 5.000 zu uns, zu unserem Verein, so dass die Arbeit über den Text am Ende Einfluss auf die ganze Einrichtung hat.
Marcos: Die Rektoren der Universität sagen uns: «Die Studenten, die zu euch gehören, sind anders.» Unser nächstes Vorhaben ist nun, selbst eine geisteswissenschaftliche Fakultät zu gründen, in der wir keine Labore brauchen; so werden wir Studiengänge anbieten können, zu denen die jungen Leute noch leichter Zugang haben.

Aber warum macht ihr das alles?
Cleuza: Ich war vorher noch nie aus Brasilien herausgekommen. Als ich letztes Jahr das erste Mal nach La Thuile in Italien reiste, kam ich - wie gesagt - nicht als Tourist, sondern um Erfahrungen auszutauschen. Ihr, die ihr aus den reichen Ländern kommt, habt eine falsche Vorstellung von Armut, als ob es uns nur am Essen fehlen würde. Das stimmt nicht. Wir haben Hunger und Durst nach dem Schönen, nach Kunst, Geschichte, guten Erfahrungen. Vor diesem Hintergrund ist dieser Erfahrungsaustausch für uns sehr wichtig. Zum Beispiel haben wir heute Leute von der Cusl getroffen [eine Kooperative an den Universitäten, die innerhalb der Bewegung entstanden ist; A.d.R.]. Wenn wir nach Brasilien zurückkehren, wird diese Erfahrung für uns sehr wichtig sein, denn Bücher und Unterrichtsmaterial sind dort sehr, sehr teuer. Die Leute, die an der Regierung sind, wollen dem Volk «Almosen» geben, aber das brauchen die jungen Leute nicht, sie brauchen moderne Technologien, Kommunikation und Information, die Kunst. Das, was wir am meisten brauchen, ist Wissen. Wenn ich nach Hause zurückkomme, werden mich meine Familie und meine Freunde fragen: «Wie ist es in Rom? Wie sind die Museen? Wie schaut diese oder jene Gottesmutter aus?» Das «Älteste», was wir haben, ist gerade 200 bis 300 Jahre alt und es ist alles zerstört worden. Die jungen Leute wollen Museen, denn sie wollen verstehen, wie es hier läuft. Unsere Regierenden können sich nicht vorstellen, dass die jungen Leute, die in den Armenvierteln am Rande der Stadt wohnen, Interesse an Museen, an klassischer Musik, an Leonardo da Vinci haben. «Das ist für die Reichen», sagen sie. Für sie haben die Armen solche Bedürfnisse nicht! Ich war beeindruckt, als Vittadini uns von Don Giussani erzählt hat, wie unter den ersten Leuten, die in den Vororten Mailands Caritativa gemacht haben, einige waren, die einer Frau ein wenig Geld gegeben hatten und dann herausfanden, dass sie sich dafür einen Lippenstift gekauft hatte. Sie waren zu Don Giussani gegangen, um sich bei ihm zu beschweren: «Das ist doch ein starkes Stück! Die Frau hat kaum was zu beißen und mit dem Geld, das wir ihr geben, kauft sie sich einen Lippenstift.» Darauf antwortete Don Giussani: «Was bildet ihr euch eigentlich ein? Meint ihr, ihr könntet wissen, was das echte Bedürfnis dieser Frau ist?»
Ich hatte schon 30 Jahre mit den Armen gearbeitet und dabei nur ein Haus, ein Stück Land im Blick ? ich hatte mir nie diese Frage gestellt. So haben wir angefangen, in den Bürgerhäusern unserer 25 Stadtviertel für die Frauen Beauty-Angebote zu machen: Die Möglichkeit, zum Friseur zu gehen, zur Fußpflege, Gymnastik- oder Tanzkurse zu besuchen.

Wie habt ihr das gemacht?
Cleuza: Wir haben einige Friseure und Kosmetikerinnen der Schönheitssalons aus den Reichenvierteln dafür gewinnen können, in unsere Viertel zu kommen und für unsere Leute gratis ihren Service anzubieten. Und für unsere Frauen, von denen einige unter Depressionen leiden, war das wichtiger, als ein Haus zu finden. Eine sechzigjährige Frau hat uns ganz gerührt gesagt: «Ich bin nun 60 Jahre alt und es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich zum Friseur gehe.» Es ist die Erfahrung, an der wir sie teilhaben lassen, die das Leben der Leute verändert. Und das bestätigt auch die Tatsache, dass viele Frauen angefangen haben, ihr Haus mehr in Ordnung zu halten, es schöner einzurichten. Auch was die Produktion im Handwerk anbelangt, hat sich einiges getan: Es hat sich eine qualitativ hochwertige Produktion entwickelt, besonders in der Textilbranche.

Hat sich euer Leben verändert?
Cleuza: Vor einigen Tagen hat mich ein Journalist, der ein Buch über Volksbewegungen schreibt, interviewt und mich gefragt: «Du sagst immer wieder, dass sich in den letzten fünf Jahren dein Leben verändert hat, nachdem du CL kennen gelernt hast. Was genau hat sich denn verändert?» Ich antwortete ihm, dass wir unsere Arbeit vorher «aus Mitleid» gemacht haben, weil die Leute uns Leid taten. Heute tun wir es aus Liebe zu ihnen, denn sie haben dieselben Sehnsüchte, dieselben Bedürfnisse wie alle.
Marcos: Die Leute sagen uns: Ihr habt euch verändert, wir können nicht genau sagen warum, aber ihr seid anders geworden. Ich würde sagen, dass wir heute die Leidenschaft zurück gewonnen haben, mit der wir diese Arbeit zu Beginn aufgenommen haben.
Cleuza: Und jeden Tag entdeckst du etwas mehr. Die Leute fragen mich oft: «Was ist der Unterschied zwischen katholisch sein und von CL sein?» Katholisch zu sein bedeutete für mich, in die Messe zu gehen und zu Hause zu beten. Heute heißt es für mich, überall, wo ich bin, katholisch zu sein: In der Arbeit, im Zug, indem ich allen von Jesu Christus erzähle als dem, der lebt. Von unserer Bewegung oder von CL zu erzählen, heißt von einer Leidenschaft zu sprechen: Das ist fast schon gefährlich! Es ist, wie wenn man von einer großen Liebe erzählt, es scheint, als gäbe es keinen Makel an ihr. Ich habe in mir einen Wunsch nach dem Unendlichen entdeckt und die Aufgabe, es allen weiter zu sagen: Kommt!