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Thema - das Herz
Das Christentum ist eine Bejahung
Massimo Borghesi

Wiedergabe eines Artikels, der am 11. Juni in der Zeitung L'eco di Bergamo erschienen ist.

Während der Versammlung der Diözese von Rom in San Giovanni in Laterano hat Benedikt XVI. unterstrichen: «Der christliche Glaube und die christliche Ethik wollen die Liebe nicht ersticken, sondern gesund, stark und wirklich frei machen. Das ist genau der Sinn der Zehn Gebote, die keine Anreihung von "Nein", sondern ein großes "Ja" sind, zur Liebe und zum Leben.» Es ist eine Bejahung, die nicht einfach erhebend ist, die jedoch den wirklichen, wenngleich umstrittenen Brennpunkt des Verhältnisses zwischen Christentum und Modernität erfasst. Die vergangenen 150 Jahre sind von der «psychologischen» Anklage gegen das Christentum gekennzeichnet, wie sie die moderne Kultur erhebt. Der christliche Glaube wird gar nicht so sehr als falsche Doktrin abgelehnt, sondern als eine Einstellung, die angeblich den Geist schwer krank macht. Das Christentum stelle eine geistliche Krankheit dar, eine Pathologie in einem ansonsten gesunden Organismus, eine Schwächung der Energien. Nietzsche ist bekanntermaßen der Urheber derartiger Kritik. Er hat daraus die Stütze seiner anhaltenden Zerstörung des Christentums gemacht. Die christliche Revolution habe die Mächtigen erniedrigt und die Niedrigen erhöht. Das heißt, in der Sprache von Nietzsche, sie hat die Besten geschwächt, den Menschen auf das niedrigste Niveau gebracht, die Geltung der heldenhaften und lebenskräftigen Tugenden der Heiden aufgehoben. Indem die Werte der Antike auf den Kopf gestellt wurden, triumphiert die Krankheit über die Gesundheit. «Das Christentum - schreibt Nietzsche - hat die Krankheit nötig, ungefähr wie das Griechentum einen Überschuss von Gesundheit nötig hat, - krank-machen ist die eigentliche Hinterabsicht des ganzen Heilsprozeduren-Systems der Kirche. [...] Das Christentum steht auch im Gegensatz zu aller geistigen Wohlgeratenheit, - es kann nur die kranke Vernunft als christliche Vernunft brauchen, es nimmt die Partei alles Idiotischen, es spricht den Fluch aus gegen den "Geist", gegen die superbia des gesunden Geistes.» (Der Antichrist, § 51 und 52).

Die Ganzheit des Seins
Das, was die Worte des Papstes wahr werden lässt, ist die Erziehung zu einer Bejahung, die allem vorausgeht. Wenn diese Bejahung, Jesus Christus, anerkannt wird, ist Er es, der es ermöglicht die Ganzheit des Seins, von Raum und Zeit wertzuschätzen. Er, der es erlaubt den verlorenen Bruchstücken des Lebens und der Absurdität des Todes wieder Sinn zu geben. Das Christentum führt in die gesamte Wirklichkeit ein. Es wird zum Prinzip einer Erfahrung, bei der Menschen die Übereinstimmung zwischen dem Geheimnis, dem wir in seiner menschlichen Form begegnen, und den allertiefsten Bedürfnissen der eigenen Seele überprüfen können. Bei dieser Überprüfung kann der Mensch das Wachstum an Menschlichkeit, Freude, Geduld, Zärtlichkeit und Kraft, die ihm geschenkt wurden, ermessen. Wegen dieser Zunahme ist die Anziehungskraft des Christentums mächtiger als die der ganzen Welt. Das begründet auch die Ergebenheit gegenüber «Dem», der die Quelle aller Freude ist. Die christliche Liebe entsteht aus Ungeschuldetheit, nicht aus Pflicht. Es ist die Liebe, die in der Erfahrung einer Veränderung entspringt. Ein Christentum, das von «Nein» ausgeht, kann auf die Provokation der Moderne nichts erwidern. Nur die Erfahrung des Übernatürlichen kann das.
Der Christ, gleichgesetzt mit dem Prinzen Myskin, der Hauptfigur des Romans von Dostojevski, ist ein «Idiot». Jemand, der auf das Leben verzichtet, der gut nennt, was krank macht und schlecht, was gesund macht. Das Christentum nimmt eine unnatürliche, gegen die Natur gerichtete Position ein, als Antithese zum antiken, heidnischen und sonnengewandten Naturalismus. Die Anschuldigung von Nietzsche, der sich in die Reihen der deutschen Klassik von Goethe bis zu Walter Otto stellt, wäre es nicht wert, wieder hervorgeholt zu werden, wenn sie nicht das Vorurteil hinter einem großen Teil der laizistischen Kultur so deutlich machen würde. Der Laizismus gründet in großem Umfang nicht so sehr auf soliden theoretischen Grundlagen, als vielmehr auf der psychologischen Überzeugung, dass das Christentum «menschlich» unangemessen sei. Ein Teil der modernen Kultur warnt vor der christlichen Haltung als «restriktiv» und unterdrückend. Christ zu sein, bedeute keine Erfüllung der Menschlichkeit, sondern führe zur ihrer Verringerung. Diese Überzeugung hält viele junge Menschen davon ab, sich der Kirche zu nähern. Wir könnten auch feststellen, dass eine derartige Position oft auch im Inneren der Kirche anzutreffen ist. Für viele Christen führt der enttäuschende Eindruck, der Modernität nicht zu genügen, von den Möglichkeiten, Moden und gegenwärtigen Ideologien ausgeschlossen zu sein, zu einer Art «Minderwertigkeitskomplex». Diese nährt dann den Wunsch nach Anerkennung, den Wunsch, nicht anders zu sein als die anderen, sondern so zu sein, wie die anderen. Ein Wunsch, der solchermaßen Nietzsches Interpretation bestätigt.

Das moralistische Christentum
Wenn die Christen sich selber auf menschlicher Ebene als nicht vollständig erfüllt ansehen, so erscheint die Anklage der modernen Atheisten vollkommen gerechtfertigt - wonach das Christentum nicht die Erfüllung der Menschen, sondern seine Demütigung ist. Die Feststellung von Benedikt XVI. rückt diese Perspektive zurecht. Der Glaube ist es, der den Menschen gesund, stark und frei macht. Das ist eine Feststellung, die ganz bewusst auf Nietzsche und den modernen Atheismus antwortet. Genauso geht sie auf jene Haltung in der Kirche ein, die in gewisser Weise die Reaktion des Laizismus, wenn nicht gerecht-fertigt, so doch zumindest verständlich erscheinen ließen. Gemeint sind Einstellungen, denen zufolge das Christentum im Wesentlichen aus Verneinungen besteht, aus Entsagungen, aus Askese ohne Freude, sozusagen als ein übernatürlicher Feind der Natur. Das moralistische Christentum der letzten Jahrhunderte ist ein «naturalistisches» Christentum, das auf die Befolgung von «Regeln» zurückgeworfen ist. Deswegen, so schreibt Emmanuel Mounier in seinem Buch Das christliche Abenteuer, «wird der junge Christ, statt von Anfang an in die komplette Perspektive der Liebe geworfen zu werden, in acht von zehn Fällen vor allem mit einer massiven Dosis von «Moralin» geimpft, und das erste Wort dieser moralistischen Taktik ist das Misstrauen und die Unterdrückung: das Misstrauen gegen den Instinkt und der Kampf gegen die Leidenschaften. Das erste Gefühl, dass denjenigen eingeschärft wird, die dann ein Beispiel moralischer Gesundheit und ein leidenschaftlicher Anhänger des Unendlichen sein sollen, ist Angst vor der Kraft, die als Grundlage ihres individuellen Schwungs dienen muss. Das Ergebnis ist die Galerie moderner Gottesmänner und Ordensleute, die bei beachtlichen Ausnahmen - man denke an Filippo Neri oder an Giovanni Bosco - nicht von Frohsinn und Freude, sondern von Traurigkeit gezeichnet sind. Dabei kommt etwas zu kurz.

Die Erfahrung der Veränderung
Ohne Anziehungskraft wird das christliche Leben ein Ort des Widerstandes, der «Reaktivität». Es ist bestimmt von etwas Negativem, nicht in erster Linie von einer Positivität. Das Christentum schlittert den Abhang des Grolls, der Unzufriedenheit herunter. Es wird zu einer Lösung für alte Leute, für die jüngere überwiegt die Empfindung, im Laufe der Jahre Gelegenheiten verpasst zu haben, weniger genossen zu haben. Zu alledem gibt es, auf der Ebene eines moralistischen Christentums, keine Alternative. Auch darf man nicht meinen, dass der Ausweg in einer «hedonistischen» Religiosität bestehe, ästhetisch und postmodern. Die theatralische Reduzierung des Glaubens auf eine naive Jugendlichkeit, ist einfach nur peinlich. Was den Worten des Papstes ihre Wahrheit gibt, ist die Erziehung zu einer «Bejahung», die allem vorausgeht. Wenn diese Bejahung, Jesus Christus, anerkannt wird, ist Er es, der es ermöglicht die Ganzheit des Seins, von Raum und Zeit wertzuschätzen. Er, der es erlaubt, den verlorenen Bruchstücken des Lebens und der Absurdität des Todes wieder Sinn zu geben. Das Christentum wird zur Einführung in die gesamte Wirklichkeit, zum Prinzip einer Erfahrung der Überprüfung der Übereinstimmung zwischen dem Geheimnis, dem wir in seiner menschlichen Form begegnen und den allertiefsten Bedürfnissen der eigenen Seele. Bei dieser Überprüfung kann der Mensch die Zunahme von Menschlichkeit, Freude, Geduld, Zärtlichkeit, Kraft, die ihm geschenkt wurde, ermessen. Wegen dieser Zunahme ist die Anziehungskraft des Christentums mächtiger als die der ganzen Welt. Das begründet die Ergebenheit «Dem» gegenüber, der die Quelle aller Freude ist. Die christliche Liebe entsteht aus Ungeschuldetheit, nicht aus Pflicht. Es ist die Liebe, die in der Erfahrung einer Veränderung entspringt. Ein Christentum, das von «Nein» ausgeht, kann auf die Provokation der Moderne nichts erwidern. Nur die Erfahrung des Übernatürlichen kann das.