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Meeting 2006
Das Meeting
Alberto Savorana

«Die Vernunft ist Bedürfnis nach Unendlichem und gipfelt in der Sehnsucht und der Vorahnung, dass dieses Unendliche sich zeigt». Einführende Gedanken zum Titel des diesjährigen Meetings

1.Bedürfnis, Seufzer, Vorahnung

Abgesehen von dem Grundgedanken, dass die Vernunft in Beziehung zum Unendlichen steht, beeindrucken an der Aussage des Titels drei Worte: «Bedürfnis», so als könne die Vernunft gar nicht ohne Beziehung zum Unendlichen bestehen; «Sehnsucht» und «Vorahnung» (dass dieses Unendliche sich zeigt), denn in diesen zwei Worten liegt die ganze Menschlichkeit Don Giussanis, seine Beziehung zum Unendlichen und seine Religiosität.
Auch die Erfahrung der Freiheit wird oft eingeengt auf etwas Unpersönliches, «während die Freiheit wie ein Aufatmen ist, ein langer und tiefer Atemzug der auch dann befreiend wirkt, wenn man ein eingeengtes Leben führt; denn der menschliche Horizont wird vom Verhältnis zu den Dingen und dem Unendlichen bestimmt» (Don Giussani). So gewinnt bei der Beziehung zur Wirklichkeit immer das Unendliche die Oberhand, denn es gibt - wie wir in unserem eigenen Leben erfahren - viele Möglichkeiten, eingeengt zu leben.
In seinen Bekenntnissen schreibt der heilige Augustinus: «O ewige Wahrheit, o teure Ewigkeit, Du bist mein Gott, zu Dir seufze ich Tag und Nacht». Und der heilige Paulus sagt in seinem zweiten Brief an die Korinther: «Wir wissen: Wenn unser irdisches Zelt abgebrochen wird, dann haben wir eine Wohnung von Gott, ein nicht von Menschenhand errichtetes ewiges Haus im Himmel. Im gegenwärtigen Zustand seufzen wir und sehnen uns danach, mit dem himmlischen Haus überkleidet zu werden. Solange wir nämlich in diesem Zelt leben, seufzen wir unter schwerem Druck, weil wir nicht entkleidet, sondern überkleidet werden möchten, damit so das Sterbliche vom Leben verschlungen werde».
Wir können im Licht dessen, was Don Carrón 2005 bei den Exerzitien der Fraternität von der Sehnsucht gesagt hat, diese Vorstellung der Sehnsucht und des Seufzens aktualisieren, denn sicher ist im Wort «Seufzer» die Sehnsucht enthalten. Aber in diesem Seufzer liegt auch viel Schwermut: Es ist als ergreife uns die Sehnsucht ganz und gar - was wäre es sonst auch für eine Sehnsucht? Zugleich aber ist es, als wären wir uns letztlich bewusst, dass die Sehnsucht in diesem irdischen Leben nicht vollständig befriedigt werden kann. In der Tat bleibt das Geheimnis bis zuletzt Geheimnis.
Man muss an diesem Geheimnis als dem Wesen der Vernunft festhalten. Im Kapitel XV des Buchs Der religiöse Sinn erklärt Don Giussani, das Wesen der Vernunft sei die Kategorie der Möglichkeit und deshalb bestehe wahre Religiosität nicht darin, an Gott zu glauben, sondern für die Möglichkeit der Offenbarung offen zu sein. Und er fügt hinzu, das große Dogma der herrschenden Kultur sei die Unmöglichkeit der Offenbarung, also die Vernunftwidrigkeit.
Das Wort «Seufzer» im Sinne der Sehnsucht enthält nichts Sentimentales, sondern etwas sehr Dramatisches. In den Psalmen wird das deutlich: «Wie der Hirsch nach Wasser lechzt, so seufzt meine Seele nach dem lebendigen Gott». In der Tradition Dantes und der mittelalterlichen Dichtung meint das Wort «Seufzer» (italienisch sospiro) eine Anspannung in Richtung auf eine lebendige Gegenwart.

2. Die Feindschaft zwischen Vernunft und Geheimnis

Der Titel des Meeting rührt an den Kern der Moderne, die Feindschaft zwischen Vernunft und Geheimnis, wie Maritain feststellte. Der Rationalismus ist diese Leugnung der Beziehung Vernunft-Geheimnis, das heißt einer Vernunft, die nicht als Öffnung gegenüber allem verstanden wird. Vom kulturellen und existenziellen Gesichtpunkt aus liegt hier die große Herausforderung: Don Giussani hat einzig und allein dies versucht: eine Bresche in die Mauer einer rationalistischen Mentalität zu schlagen.
Sagt man, die Vernunft bedarf des Unendlichen, so heißt das, sie bedarf einer angemessenen Antwort. Das ist auch das Thema des Buchs Das Wagnis der Erziehung: Wenn man unter Erziehung nicht «hörig machen» versteht, sondern Einführung in die ganze Wirklichkeit und ihren Sinn, dann folgt aus der Frage nach der Vernunft als Bedürfnis nach dem Unendlichen auch die Bejahung der Vernunft als das Bedürfnis, vor der Wirklichkeit zu stehen und zu begreifen, was die Wirklichkeit ist, mit allen Folgen, die dies vom erzieherischen Gesichtspunkt aus hat.
Thomas von Aquin bemerkt, man könne von einem Bedürfnis vernünftigerweise zu der Behauptung gelangen, dass alles, wessen der Mensch bedarf auch existiert, weil es unmöglich ein sinnloses natürliches Verlangen geben kann. Wenn also der Mensch natürliches Verlangen nach Gott ist, dann existiert Gott. Denn sonst ist der Mensch ein sinnloses Verlangen. Das alles steht dem Nihilismus entgegen, denn die moderne Kultur behauptet mit Sartre: «Der Mensch ist also eine sinnlose Leidenschaft»; er ist Bedürfnis von etwas, das es nicht gibt.

3. Die Vernunft

Demgegenüber behauptet Dante, dass die Vernunft gerade als Vernunft zur Wahrheit gelangen kann (Paradies, IV). Das ist unter anderem ein katholisches Prinzip, das sogar in einem Dogma des I. Vatikanischen Konzils bestätigt wird.
Die Vernunft ist hier als Öffnung beschrieben, weil das Geheimnis keinen Dialog mit dem Ich führen kann, wenn das Ich nicht präsent ist. Und dadurch, dass wir Christen werden, schalten wir die Vernunft nicht aus. Gerade weil wir die wahre Vorstellung von Vernunft haben, können wir die Rationalisten herausfordern. Denn sie kennen das Wesen der Vernunft nur unvollständig.
Es gehört Mut dazu, die Vernunft in einem Augenblick aufzuwerten, in dem behauptet wird, sie habe nichts mehr zu sagen, sie sei am Ende, und wir müssten andere Ausdrucksformen finden, um uns verständigen zu können.
Der Titel des Meeting weist auf etwas sehr Wertvolles des Charismas von Don Giussani hin: die gefühlsmäßige Erkenntnis. Damit ist gemeint, dass die Vernunft mit dem ganzen Ich verbunden ist und der Wahrheit anhängen muss. Das wiederum weist darauf hin, wie sich das Ich auf die ganze Wirklichkeit zubewegt. Und das gilt nicht nur für die Zeit vor der Offenbarung, sondern auch für den, der Christus begegnet ist (das Wort Seufzer kommt nicht zufällig aus dem Neuen Testament). Die Verbindung der Vernunft mit dem ganzen Ich betont also den positiven Charakter der Wirklichkeit als ein Zusammenfallen von Zeichen und Geheimnis.
Wir können den einen oder anderen finden, der aufgrund vernünftiger Überlegungen das Geheimnis für möglich hält. Aber nur sehr wenige werden die Vorahnung, dass es mir als Mensch begegnet, für den Gipfel der Vernunft halten, den Gebrauch der Vernunft also an seinem Höhepunkt sehen, wenn man wahrnimmt, dass etwas geschieht. In diesem Sinn ist die christliche Erfahrung, wie wir ihr begegnet sind und wie der Papst sie beschreibt, die größte Aufwertung der Vernunft tout court. Das wahre Drama des Menschen ist nicht, ob er an Gott glaubt oder nicht, sondern ob dieser Gott sich zeigen kann oder nicht.
In diesem Zusammenhang sagt Don Giussani, das große Dogma der modernen Kultur sei die Unmöglichkeit der Offenbarung.

4. Der Nihilismus

Der Titel des Meeting spricht auch das Drama an, dass Politik und moderner Staat für sich in Anspruch nehmen, Glück zu bringen, und die Vernunft dabei in ein Schema pressen. Dabei besteht das ganze Problem darin, die Vernunft offen zu halten für das Unendliche und dem Menschen zu helfen, seinen Weg als Person und als Glied einer gesellschaftlichen Struktur zu gehen.
So gelangt man zu einem der großen Themen der letzten Jahre: dem Wert der westlichen Zivilisation und einer Demokratie, die das Ich schützt. Denn ohne einen Entwurf, der die Vernunft in ihrer Beziehung zum Unendlichen respektiert, endet man im Nihilismus. Wenn dagegen die Vernunft Verlangen nach dem Unendlichen ist und sie irgendwie objektiv vorgeht, dann kann auch ein (nicht christlicher) Laie Dinge vertreten wie das Recht auf Leben, das Existenzrecht und so weiter. Deshalb öffnet sich das Meeting für das Thema des Laizismus und die Frage, was ein laizistischer Staat ist, der alle schützt.
Wenn der Nihilismus herrscht, wenn also die Wirklichkeit ohne Sinn ist, wenn sie nicht positiv ist, dann wird alles zum Feind. Eine rationalistische Vernunft zerstört, denn sie begrenzt.
Ohne einen Sinn können wir die Wirklichkeit letztlich nicht bejahen. Und eine rationalistische Vernunft kann keinen voll befriedigenden Sinn anbieten. Der Nihilismus ist der wahre Feind des Menschlichen, denn eine beschränkte Vernunft ist unfähig, der Wirklichkeit Sinn zu verleihen, bis zum Sinn vorzustoßen. Wenn Erziehung Einführung in die gesamte Wirklichkeit ist - wie wir in Das Wagnis der Erziehung lesen - dann gibt es ohne diese Einführung keine Bejahung der Wirklichkeit. Deshalb ist der wahre Feind nicht die Ethik, die nur das Vorzimmer des Nichts ist, vor dem dann tatsächlich alle ethischen Ermahnungen Halt machen, die als «vorletzte» Antworten unbrauchbar scheinen für eine Lösung des wirklichen Problems vor dem wir stehen.
Denken wir an die Jugendlichen. Wir stehen da vor einer paradoxen Situation: einerseits scheinen sie alles zu haben, mehr als die vorhergehenden Generationen, aber zugleich finden wir sie apathisch angesichts der Wirklichkeit. Warum? Weil die Wirklichkeit - die wir immer als attraktiv wahrgenommen haben, als Auslöser jeder Art von Forschung - einen Menschen, der sich wie ein Nihilist verhält, nicht mehr interessiert. Die Jugendlichen werden skeptisch, weil eine Gesellschaft wie die unsrige keine Wahrheit anbieten kann: Wir haben nichts anzubieten, wie im Appell zur Erziehung geschrieben steht. Es fehlt an Zuneigung, es fehlt an Energie, denn das Ich begegnet keiner Gewissheit mehr.
Fehlt die Zuneigung, blockiert man die Vernunft, man hindert sie, ihr Wesen als Vernunft zu entwickeln, nämlich den Sinn der Wirklichkeit zu entdecken.

5. Das Problem des Sinns

Wie Don Giussani lehrt, ist das einzige Mittel gegen diesen Sinnverlust eine Begegnung. Denn bei der Begegnung wird die Vernunft als uns entsprechend wahrgenommen, nämlich als Zuneigung zu uns selbst. Sie durchbricht die Blockade. Und das Ich antwortet. Die Begegnung verleiht eine Energie, die man alleine nicht hätte.
Der Sinn gehört zur Wirklichkeit. Warum gelingt es uns nicht mehr, eine Beziehung zur Wirklichkeit herzustellen? Weil die Moderne den Sinn im Subjekt angesiedelt hat, als Produkt des Subjekts. Während doch der Sinn zur Wirklichkeit gehört, Teil der Wirklichkeit ist, so sehr dass die Vernunft, wie sie Der religiöse Sinn definiert, zugleich Verlangen nach dem Unendlichen und Bewusstsein der Wirklichkeit als der Gesamtheit ihrer Faktoren ist. Und der Sinn ist der wichtigste Faktor dieser Gesamtheit. Deshalb kann uns die Wirklichkeit ohne einen Sinn nicht interessieren.
So oft haben wir Don Giussani sagen hören, dass er die Vernunft verteidigen wolle. Der Titel des Meetings schöpft genau daraus seine Kraft: In einer Zeit, in der die Vernunft ihre Kraft verliert, weil man jetzt meint, sie könne nicht mehr zur Wahrheit gelangen, verteidigen wir, loben wir die Vernunft, nämlich ihre Fähigkeit, die Wirklichkeit zu erfassen. Wie ist die Moderne dazu gekom-men zu sagen, die Vernunft müsse schwach sein? Weil sie götzendienerisch die Wahrheit mit einem Produkt der Vernunft identifiziert hat. Wir verteidigen die Vernunft, indem wir sie zu ihrem Wesen zurückführen, im Sinne jener Freundschaft mit dem Geheimnis, jener Wesensverwandtschaft zwischen Vernunft und Ganzheit, zwischen Vernunft und Geheimnis. Ohne die Ganzheit gibt es in der Tat keine Vernunft mehr.