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Kirche - Bewegungen
Die Überraschung einer Begegnung
Joseph Ratzinger

Einige Fragen und Antworten bei der Versammlung der Bischöfe mit dem Präsidenten der Glaubenskongregation anlässlich des vom Päpstlichen Rat für die Laien organisierten Seminars über «Kirchliche Bewegungen und neue Gemeinschaften in den pastoralen Schreiben der Bischöfe» Rom, 16. Mai 1999*

Vor 40 Jahren gab es eine katholische Kultur, die den Glauben stützte, die aber nun zerstört ist. Was kann man tun?
Nach 1968 gab es eine Explosion des Säkularismus, der einen seit 200 Jahren in Gang befindlichen Prozess radikalisiert hat: Das christliche Fundament ist kleiner geworden. Bis vor 40 Jahren war beispielsweise eine Gesetzgebung, die homosexuelle Verbindungen nahezu wie eine Ehe behandelt, undenkbar. Nun müssen wir unsere Gründe neu formulieren, um erneut das Bewusstsein des Menschen von heute zu erreichen. Wir müssen auch einen Konflikt der Werte akzeptieren, weshalb wir, wie der Papst in vielen seiner Enzykliken schreibt, den Menschen - und nicht nur die Kirche - verteidigen müssen. Angesichts der Säkularisation und um dem Menschen von heute Zeitgenosse zu sein, darf man aber nicht die Gleichzeitigkeit mit der Kirche zu allen Zeiten verlieren. Daher bedarf es einer sehr klaren Glaubensidentität, die von einer freudigen Erfahrung der Wahrheit Gottes inspiriert wird. Und so kommen wir auf die Bewegungen zurück, die diese freudige Erfahrung anbieten. Die Bewegungen haben folgende Besonderheit: In unserer Massengesellschaft helfen sie dabei, in einer Kirche, die wie eine große internationale Organisation erscheinen kann, eine Heimat zu finden, wo man die Vertrautheit der Familie Gottes findet und gleichzeitig innerhalb der großen universalen Familie der Heiligen aller Zeiten bleibt. In unserer Zeit bemerkt man eine gewisse Vorherrschaft des protestantischen Geistes in kultureller Hinsicht, denn der Protest gegen die Vergangenheit scheint modern und eine bessere Antwort auf die Gegenwart zu sein. Daher muss von uns gezeigt werden, dass der Katholizismus das Erbe der Vergangenheit für die Zukunft trägt, auch wenn er dadurch momentan zur Gegenströmung wird.

Am 30. Mai 1998 endete die erste Phase der Geschichte der Bewegungen, in der die kirchliche Institution versuchte, ihnen Raum zu geben. Jetzt sind wir in der zweiten Phase: der Anerkennung der substantiellen Einheit der charismatischen Wirklichkeiten und der Institution. Wenn der Papst sagt: «Die Kirche selbst ist Bewegung», was bedeutet das für uns Bischöfe?
Der Bischof wird weniger Monarch und mehr Hirte einer Herde. Er steht der Herde von Angesicht zu Angesicht gegenüber und ist Pilger mit den Pilgern, wie der heilige Augustinus sagte: Wir sind alle Schüler in der Schule Christi. Auch wenn er Repräsentant des Sakramentes ist, wird der Bischof mehr zum Bruder in einer Schule, in der es nur einen Vater und nur einen Meister gibt. Er garantiert, dass die Kirche kein Markt ist, sondern eine Familie. Er bezeichnet die Teilkirche und die Universalkirche. Er ist nicht Quelle des Rechts und des Gesetzes, sondern agiert als Lenker und als Zeuge der Einheit im Kontext der Vertrautheit der Kirche mit einem einzigen Meister. Daher muss man die Gefahr einer Überinstitutionalisierung vermeiden: Viele «Räte» können, auch wenn sie nützlich sind, nicht wie eine Regierungsgruppe sein, die das Leben der Gläubigen verkompliziert und die Hirten den direkten Kontakt zu ihnen verlieren lässt. Einmal hat mir jemand erzählt: «Ich möchte mit meinem Pfarrer sprechen, aber man sagt mir, dass er stets auf Versammlungen sei!» Man muss eine Zusammenarbeit mit allen Bestandteilen des Volkes Gottes suchen, damit die Einheit bereichert wird.

Wird die Kirche immer mehr zur Minderheit? Und worin liegt die Bedeutung der Bewegungen?
Die Entwicklung der letzten 50 Jahre zeigt, dass die Religiosität nicht verschwindet, denn es ist ein unauslöschliches Bedürfnis des menschlichen Herzens. Dieses darf jedoch nicht fehlgeleitet werden, sonst entstünde eine religiöse Pathologie. Daher haben wir die Verantwortung, die wahre Antwort anzubieten, und dies ist eine historische Verantwortung der Kirche in dieser Zeit, wo die Religion eine Krankheit werden kann, die nicht das Antlitz Gottes anbietet, sondern Ersatzelemente, die nicht heilen. Auch wenn wir in der Minderheit sind, ist das Wichtigste für uns die Verkündigung. Im Abendland geht die Anzahl der Gläubigen laut Statistik zurück. Wir erleben einen Glaubensabfall; die Einheit zwischen der europäisch-amerikanischen Kultur und der christlichen Kultur löst sich fast auf. Die Herausforderung heute ist, dass der Glaube sich nicht in geschlossene Gruppen zurückzieht, sondern dass er alle erleuchtet und zu allen spricht. Denken wir an die Kirche der ersten Jahrhunderte: Die Christen waren wenige, aber sie haben Zuhörer gefunden, denn sie waren keine geschlossene Gruppe, sondern brachten eine allgemeine Herausforderung für alle, die alle berührt hat. Auch heute haben wir eine universale Mission: Die wahre Antwort auf die Bedürfnisse eines Lebens, das dem Schöpfer entspricht, gegenwärtig werden zu lassen. Das Evangelium ist für alle und die Bewegungen können eine große Hilfe sein, denn sie haben den missionarischen Elan des Anfangs, auch wenn ihre Anzahl gering ist, und sie können das Leben des Evangeliums in der Welt unterstützen.