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Gesellschaft - Untersuchungen Wirtschaft
Wie das Christentum zum Erfolg des Westens führte
Graziano Tarantino

Es geht um die kontroverse These von Rodney Stark, einem der wichtigsten Religionssoziologen, dass die Entwicklung des Abendlandes, einschließlich der Wissenschaften, religiöse, christliche Wurzeln hat. Sie liegen im Mittelalter.

Die ersten Kapitalisten waren nicht die Protestanten Nordeuropas, sondern die mittelalterlichen Klöster. Die Banken, die Versicherungen und der Handel sind nicht in Holland im 16. Jahrhundert entstanden, sondern in den italienischen Städten. Und die Leidenschaft für die Wissenschaft hat sich nicht im 17. Jahrhundert entwickelt, sondern an den großen Universitäten des Mittelalters wie Padua und Bologna. Ohne den ausschlaggebenden Beitrag des Katholizismus und der mittelalterlichen Gesellschaft hätte das Abendland niemals so eine außergewöhnliche Entwicklung erlebt. Das sagt kein Katholik, sondern ein amerikanischer Professor, Rodney Stark, der an der Universität Waco lehrt, und der den Ruf hat, einer der wichtigsten lebenden Religionssoziologen zu sein, in seinem Buch The Victory of Reason. «Wie kann das sein? Man hat uns doch immer beigebracht, das nach Max Weber die moderne Wirtschaftsordnung und der Kapitalismus aus dem Protestantismus hervorgegangen sind», so reagiert ein Freund von mir, der Leiter einer Bank ist, als ich ihm die These von Stark erzählte. Und tatsächlich lautet die landläufige Vorstellung, die auf Max Weber zurückgeht, dass die Entwicklung des Abendlandes der Emanzipation von den religiösen Bindungen der mittelalterlichen Gesellschaft geschuldet sei. So liest man es noch heute in fast allen Schulbüchern. Für Stark sind das einfach «Dummheiten», «der Erfolg des Abendlandes, einschließlich der Entstehung der Wissenschaft, beruht vollständig auf einem religiösen Fundament, und die Personen, die am Anfang standen, waren gläubige Christen.

Fortschritt und Erkenntnis
Für den amerikanischen Soziologen besteht die wahre Erklärung dieses Erfolges im Wert, den das Christentum als einzige Religion der Vernunft zuschreibt. Von hier ergibt sich die Idee des Fortschritts und einer Erkenntnis, die in der Zeit heranwächst. Ebenso die Entdeckung eines von Gott geschaffenen und gemäß rationalen Gesetzen geordneten Universums. Diese Wertschätzung der Vernunft, vereint mit dem Konzept, das auch von Christentum eingeführt wurde, der menschlichen Person, die mit Freiheit und Verantwortung versehen ist, ist für Stark auch die wirkliche Basis der so genannten modernen Wirtschaftsordnung, die aber richtigerweise als «mittelalterliche» Wirtschaftsordnung bezeichnet werden müsste. Und aus historischer Sicht dokumentiert das Buch in überraschender Weise die Entstehung dieser Wirtschaftsordnung, die im Klima der politischen Freiheit, das in den italienischen Städten vorherrschte, Wurzeln schlagen konnte. In den Ländern, wo dagegen ein zentralistisches und absolutistisches und staatliches Politikmodell vorherrschte, wurde diese Entwicklung gebremst.

Verbreitetes Unternehmertum
Über die neue historische Sichtweise hinaus, die Stark darlegt, stellen seine Thesen eine Perspektive von großem Interesse auch für das Verständnis der aktuellen Situation dar. Wenn man von einem weit verbreiteten Unternehmertum spricht, von jenem Netz von kleinen und mittleren Unternehmen, das die Stärke des italienischen Entwicklungsweges in den letzten hundert Jahren darstellte, dann sieht es nach vielen Untersuchungen zu urteilen so aus, als ob es sich um die Effekte eingeborener Fähigkeiten und um Gaben handelt, die uns die Natur geschenkt hat. In Wirklichkeit ist das nicht so. Der Wunsch danach, die eigenen Umstände durch die Fähigkeit, Arbeit und Reichtum zu schaffen, zu verbessern, der Wunsch, etwas Neues zu erfinden und das Risiko, dieses auf den Markt zu bringen, sind vielmehr der Ausdruck einer Kultur, die auf einer typisch christlichen Erziehung beruht, und die die Vernunft und die Freiheit der Menschen herausfordert, sich bis auf den Grund mit der Realität zu messen. Bespiele hierfür und faszinierende Geschichten hierzu könnte man Tausende nennen. Die Qualität des Lebens und der Wohlstand sind heutzutage die offensichtlichsten Auswirkungen. Sie sind jedoch nur die Konsequenzen von Handlungen, die es geschafft haben, das ursprüngliche Bedürfnis der Menschen wach zu halten und dabei im Inneren eine Annahme zu entwickeln, die in der Lage ist, eine mögliche Hoffnung anzubieten, mit der man das Leben angehen kann. Das war der Antrieb der Zivilisation.

Christliche Wurzeln
Um auf Stark zurückzukommen, er beobachtet, wie der Abstieg Europas in ziemlich merkwürdiger Art und Weise mit der Leugnung der christlichen Wurzeln einherzugehen scheint. «Das Christentum hat die westliche Gesellschaft erschaffen», es wäre eine Illusion zu glauben, man komme ohne das Christentum weiter. In anderen Teilen der Welt, fährt der amerikanische Soziologe fort, «ist für viele Nichteuropäer, Christ zu werden gleichbedeutend mit einem Schritt in die Modernität. Stark beschließt sein Buch mit dem Zeugnis eines chinesischen Intellektuellen, das der Journalist David Aikman wiedergegeben hat. «Wir waren aufgefordert worden, die Gründe der Vorherrschaft der westlichen Welt zu ergründen. Wir haben alles Mögliche aus historischer, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Sicht untersucht. Wir haben dann gedacht, dass ihr das am weitesten entwickelte politische System habt. Später haben wir uns auf das ökonomische System konzentriert. Aber in den letzten zwanzig Jahren sind wir zu dem Schluss gekommen, dass das Herzstück eurer Kultur eure Religion ist, das Christentum. Das ist der Grund, warum der Westen so mächtig geworden ist. Das christliche moralische Fundament des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens ist der Faktor, der die Entstehung des Kapitalismus und den Übergang zu einer demokratischen Politik möglich gemacht hat. Daran besteht für uns kein Zweifel mehr.»

Rodney Stark, The Victory of Reason: How Christianity Led to Freedom, Capitalism, an Western Success, geb., 281 Seiten, Random House, 2005.