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Gegen den Virus des Nihilismus
Laientum zwischen Relativismus und Etatismus
Javier Prades

Die in der Öffentlichkeit vorherrschende Meinung ist in zwei entgegengesetzte Tendenzen gespalten: den etatistischen Laizismus, der im Namen der Verteidigung des Rechts jede kulturelle und religiöse Zugehörigkeit in die Privatsphäre verbannt; den Multikulturalismus, der im Namen des Minderheitenschutzes eine allgemeine menschliche Erfahrung leugnet.
Die christliche Erfahrung zeigt den Weg zur Überwindung der Widersprüche unserer Zeit: die Grunderfahrung des Menschen, Wurzel eines authentischen Laientums. Dazu hat Javier Prades für Spuren den folgenden Beitrag geschrieben. Sein Ausgangspunkt ist das Lehrschreiben Benedikts XVI. über Kirche und die Moderne.

Um ein Urteil über unsere Gesellschaft zu fällen, benötigen wir ein Kriterium. Eine Analyse der Symptome von Müdigkeit und Befremdung in der westlichen Welt kann nämlich zu sehr unterschiedlichen Diagnosen führen. Diese Feststellung weckt das Interesse für das Kriterium das Benedikt XVI. für die Deutung des Verhältnisses von Kirche und moderner Welt anlässlich des vierzigsten Jahrestages der Schließung des II. Vatikanischen Konzils vorgeschlagen hat (am 22. Dezember 2005).
Der Papst erklärte, dass die Beziehung zwischen Kirche und Moderne auf sehr problematische Weise mit dem Prozess gegen Galileo begonnen habe, um dann mit Kant und der Französischen Revolution in einen dramatischen Bruch zu münden. Es war ein frontaler Zusammenstoß und eine Verständigung schier unmöglich. Dennoch unterstreicht der Papst, war und ist einerseits die Neuzeit in ständiger Entwicklung: die amerikanische Revolution hat zu einem anderen Staatsmodell geführt als die französische, die Naturwissenschaften haben begonnen, über ihre eigenen Grenzen nachzudenken und nach dem Zweiten Weltkrieg sind die ersten Beispiele eines modernen, weltlichen Staates entstanden, dessen ethische Quellen dem Christentum gegenüber offen sind. Andererseits erkennt die Kirche selbst eine gewisse Diskontinuität in ihrer Einstellung zur Neuzeit an, nicht im Grundsätzlichen, aber sicher im konkreten Verhalten. Die Kirche hat einige historische Entscheidungen überprüft und korrigiert, auch wenn sie bei dieser «Diskontinuität» ihre Natur und Identität beibehalten hat.
Der Papst rät zu einem grundsätzlichen «Ja» zur Neuzeit. Aber - fährt er fort - das setzt nicht voraus, dass automatisch die Spannungen zwischen der Kirche und der Moderne verschwinden, weil einerseits innerhalb der Moderne selbst Widersprüche existieren und man andererseits die Schwäche der menschlichen Natur nicht vergessen darf. In dieser Hinsicht ist das Evangelium immer noch «Zeichen des Widerspruchs» angesichts der Fehler des Menschen und der Gefahren, denen er in allen Zeiten ausgesetzt ist (Lk 2, 34). Die Kirche will die Streitigkeiten mit der Moderne, die aus Missverständnissen entstanden oder sinnlos sind, überwinden, dabei aber diesen grundsätzlichen Widerspruch aufrecht erhalten, mit derselben Aufgeschlossenheit und Klarheit der Unterscheidung wie in früheren Zeiten: etwa die Haltung des hl. Petrus den Heiden gegenüber beim Eintreten für den eigenen Glauben (1Petr 3, 15) oder der Dialog mit den Vertretern des Aristoteles, den Juden und den Moslems im Mittelalter, wie Thomas von Aquin ihn beispielhaft dargestellt hat.

Ein innerer Widerspruch der vorherrschenden Mentalität
Wenn, wie der Papst sagt, das Evangelium uns auffordert, die inneren Spannungen der Moderne aufzuklären und zu verstehen, ist es vielleicht als Ausgangspunkt zu verstehen, welche Stellung die herrschende Kultur heute angesichts der religiösen Traditionen und, ganz allgemein, angesichts der religiösen Dimension eines jeden Menschen bezieht. Man kann leicht feststellen, dass die «progressistische» Mentalität heute zwei entgegengesetzte Tendenzen zeigt: einerseits einen etatistischen Laizismus und andererseits einen Multikulturalismus. Keiner der beiden einander entgegengesetzten Einstellungen gelingt es die Gesamtheit der relevanten Faktoren zu erfassen und zu erklären. Nehmen wir Bezug auf das, was Kardinal Ratzinger am 1. April 2005 bei seiner letzten Ansprache vor der Wahl zum Papst in Subiacco sagte, dann verstehen wir sofort, dass die aufklärerische Vernunft wegen ihrer Herkunft vom Rationalismus nicht wirklich universal noch in sich vollständig sein kann und dass sie deshalb nicht für sich in Anspruch nehmen, kann mit der Vernunft eines jeden Menschen völlig übereinzustimmen. Aber untersuchen wir ganz kurz die beiden Einstellungen.

Etatistischer Laizismus
Diese erste Einstellung betont nachdrücklich den universalen Aspekt der menschlichen Identität und verabsolutiert zu diesem Zweck die Beziehung zwischen Bürger und Staat, so wie sie in der Erklärung der Menschenrechte formuliert ist. Um ihre Wirksamkeit zu garantieren, muss sie jede kulturelle und religiöse Zugehörigkeit, die eine von anderen verschiedene Identität definiert, in die Privatsphäre verbannen mit dem Ziel, alle Bürger vor dem Gesetz gleich zu machen. Von dieser Einstellung leitet sich in der Tat der Etatismus her, bei dem der Staat dazu tendiert, einen absoluten Wert anzunehmen und sich zur legitimierenden Quelle der Bürgerrechte zu erheben. Zugleich beschränken die Bürger ihre Stellung innerhalb der gelebten Wirklichkeit und definieren sie allein aufgrund der Rechte, die sie vom Staat verlangen. Was die Religionsfreiheit betrifft, so verneint sie der Staat zwar nicht, ihre Anerkennung ist aber sehr formal und starr, geht wenig ein auf die gesellschaftlichen Kräften, die sie fordern und mit Leben füllen: so ist zum Beispiel die Erwähnung Gottes und der christlichen Wurzeln Europas in der Präambel der Europäischen Verfassung verweigert worden.

Multikulturalismus
Die zweite Einstellung der progressistischen Kultur ist anscheinend flexibler und weniger laizistisch. Tatsächlich betont sie Unterschiede (zum Beispiel kultureller, religiöser, ethnischer Art) als Grundlage kollektiver Wirklichkeiten, die zwischen Individuum und Staat stehen und in der Rechtsordnung berücksichtigt werden sollen. Auf den ersten Blick überwindet man so die abstrakte Auffassung vom Bürger und lässt besonderen Identitäten, auch den Religionen, mehr Raum. Die offensichtlichste Einschränkung ist in diesem Fall aber die Schwierigkeit, die Einheit all dieser Identitäten zu begründen und daher das Unvermögen, Allgemeingültigkeit zu erreichen. Man kann nicht eine allen gemeinsame menschliche Erfahrung akzeptieren, die erlauben würde, Kriterien für den Vergleich der verschiedenen kulturellen und religiösen Ausdrucksgestalten zu finden. So verfestigt sich ein unüberwindbarer kultureller und anthropologischer Relativismus. Die negativen Auswirkungen dieser Sicht der Dinge treten zu Tage bei gewissen Strategien zur positiven Integration der Europäischen Union oder bei der Verschärfung kultureller und ethnischer Differenzen durch den Nationalismus in gewissen Ländern Europas.

Die Grunderfahrung des Menschen, Fundament echten Laientums
Man muss anderen gegenüber Rechenschaft geben über den eigenen Glauben durch unermüdliches Zeugnis in Wort und Tat, damit die Möglichkeit der Existenz einer menschlichen Kultur sichtbar wird, die fähig ist, die echten Anliegen der beiden oben genannten Einstellungen aufzunehmen und zugleich ihre jeweiligen Grenzen zu überwinden. So kann man aufzeigen, welche Vorstellung ein wirklicher Laie von Gesellschaft und Staat hat, eine Vorstellung, die hilft, uns aus den Schwierigkeiten zu befreien, in die der Westen sich verstrickt hat.
Die beiden Einstellungen nehmen echte Elemente der menschlichen Grunderfahrung auf, aber sie erweisen sich beide als unzureichend. Es ist also wesentlich, ihre Forderungen mit der konkreten Erfahrung lebendiger Menschen, eines jeden wirklichen Menschen zu vergleichen. Hier beschränken wir uns auf zwei grundlegende Beobachtungen. Erstens ist jeder Mensch ein einmaliges Individuum, als Person mit einer unantastbaren Würde ausgestattet. Zugleich ist er ein integrierendes Mitglied der menschlichen Gemeinschaft. Beide Dimensionen ergänzen sich gegenseitig in einer «dualen Einheit». Man kann deshalb das Leben des Menschen nicht willkürlich in eine öffentliche und eine private Sphäre trennen, da die sozialen Dimensionen Teil der Person sind. Deshalb misst Benedikt XVI. zum Beispiel der Verteidigung der Familie, der Achtung vor dem Leben und der Erziehung der Kinder entscheidende Bedeutung bei. Da die öffentlichen Einrichtungen ihrem Wesen nach im Dienst an der Person stehen, ist Subsidiarität in Politik, Wirtschaft und Sozialwesen entscheidend für eine Begrenzung des Etatismus.
Zweitens taucht, wenn man den konkreten Menschen beobachtet, eine rätselhafte Dimension auf, die seine Grunderfahrung durchzieht: die Öffnung hin zu einem unendlichen Bedürfnis nach Sinn und Glück, das jeden Augenblick seines Lebens kennzeichnet. Diese Öffnung führt auf einem Weg der Vernunft und der Freiheit zum Erkennen und Erfahren eines persönlichen und transzendenten DU, zu dem, was wir Gott nennen. Der Mensch schein so begabt zu sein mit einem unendlichen Dynamismus aus Sehnsucht und Suche nach diesem geheimnisvollen Fundament, von dem er abhängt und das der Horizont ist der sein Leben möglich macht. Kein Mensch, und auch nicht der Staat, können sich zu Recht anmaßen, die letzte Quelle dieses unendlichen Dynamismus zu sein, denn weder der Mensch noch der Staat sind Gott. Deshalb bietet die Anerkennung der Grunderfahrung die Basis für ein echtes Laientum, das die Gesellschaft vor dem kulturellen Relativismus und dem laizistischen Etatismus schützt.

Ein notwendiger und mühsamer rationaler Dialog in der Gesellschaft
Die Grunderfahrung, so wie sie hier beschrieben wurde, bietet ein Kriterium für die Bewertung der Modelle für ein rechtes persönliches und gesellschaftliches Leben und für ein Urteil über die Rechtsordnung. In der Tat entfalten sich um dieses grundlegende anthropologische Kriterium - dessen Schlüssel die Religionsfreiheit ist - die anderen Werte, mit ihrem eigenen unbestreitbaren Anspruch auf Universalität.
Diese Kriterien können nur als Ergebnis eines echten und freien Dialogs zwischen Menschen unterschiedlicher Identität vorgeschlagen werden. Ausgangspunkt dieses Dialogs muss die Selbstgewissheit der eigenen persönlichen und gemeinschaftlichen Identität sein und die Passion für die Identität des Anderen, in seiner Verschiedenheit von mir und seiner Gemeinsamkeit als Mensch, offen für das Geheimnis. Nur so kann man die schwerwiegenden ethischen Probleme angehen, die Wissenschaft und Technik uns für unser Verhältnis zum Leben stellen und die Fragen, die uns das Zusammenleben im Zeitalter der weltweiten Emigration stellt. Sowohl die verschiedenen religiösen Traditionen wie auch die laizistischen Auffassungen müssen letztlich Antwort geben vor dem universalen Tribunal der Vernunft und der menschlichen Erfahrung. Nur die Gesellschaften, die diesen Gesichtspunkt aufnehmen, wird man als echtem Laientum verpflichtet ansehen können. Nur sie werden ihren Bürgern ein kulturelles Umfeld gewährleisten, das sie vor religiösem Integralismus und laizistischem Fundamentalismus schützt, sowie das rechte Unterscheidungsvermögen und die richtige Bewertung der Wertschätzung des Menschen in den verschiedenen kulturellen und religiösen Traditionen.
Vielleicht ist das die richtige Interpretation dessen, was Benedikt XVI. im Sinn hat, wenn er sagt, dass die Kirche aufgerufen ist, den modernen Gesellschaften ein entscheidendes Urteilskriterium anzubieten, dabei jenes fundamentale «Zeichen des Widerspruchs» zu sein und durch einen mühsamen und notwendigen Dialog alle Missverständnisse und Irrtümer zu überwinden, die sich zwischen Kirche und Moderne gestellt haben.