Logo Tracce


Aufmacher
Lassen wir Christus in jedem Umfeld, in jeder menschlichen Wirklichkeit in unserem Fleisch gegenwärtig werden
Luigi Giussani

Aufzeichnungen aus einem Gespräch zwischen Don Giussani und Erwachsenen von Comunione e Liberazione. Cesena, 6. Oktober 1986

Das Menschsein, die Bewahrung unserer Menschlichkeit, um einen nicht allein religiösen Begriff zu gebrauchen, stellt in allem, was wir tun, explizit oder implizit das letzte Kriterium dar. Auch wenn wir Fehler machen, tun wir dies aus Freude an der Bewahrung unserer Menschlichkeit, und zwar in der Illusion, so unsere Menschlichkeit besser zu verwirklichen. Unsere Menschlichkeit! Sie ist das Kriterium, mit dem wir alles wahrnehmen und beurteilen. Wir könnten auch ein anderes Wort gebrauchen: glücklicher sein! Unsere Menschlichkeit bewahren heißt so viel, wie sie verwirklichen. Und diese «Perfektion» (denn «verwirklichen» heißt auf Lateinisch perficere, was man im Italienischen mit «Perfektion» übersetzen würde) nennt sich aus psychologischer Sicht «Glück» oder «Genugtuung», was ein Synonym für «Perfektion» und somit Glück ist. Die Sehnsucht nach Glück, nach der völligen, vollständigen Erfüllung unserer Menschlichkeit ist das Kriterium, nach dem man einen bestimmten Film auswählt, eine bestimmte Arbeit ergreift, Zeit und Energie investiert und die Frau auswählt, dann eine Familie gründet und sich für oder gegen Kinder entscheidet. Das Kriterium ist immer ein und dasselbe: jene Menschlichkeit, die wir mitbekommen haben, und die wie etwas Unvollkommenes ist, das nach seiner Vervollkommnung strebt.
Die Epoche, in der wir leben, führt gleichsam jene Zweideutigkeit zum Äußersten, die aus dem Verständnis und Empfinden Menschlichkeit erwachsen kann. Sie besteht in der Frage, ob wir unsere Menschlichkeit selbst aufbauen und vollständig ausfüllen können, oder ob es etwas anderem und Größerem bedarf, um sie zu bewahren und zu verwirklichen. Diese Alternative, vor der man in allen Zeiten gestanden hat, kann man mit dem Wort übersetzen, das letztes Jahr im Seminar der Gemeinschaft thematisiert worden ist, nämlich mit dem Wort «Zugehörigkeit». Es geht um die Frage, ob der Mensch sich selbst gehört oder zu etwas anderem gehört. Derjenige Mensch, der beansprucht, sich selbst zu gehören, wird eine Vision des Menschen und der Welt umzusetzen versuchen, in der sich seine Menschlichkeit als Werk seiner eigenen Hände verwirklicht. Er wird unvermeidlich von einem bestimmten Gesichtspunkt ausgehen, und sein Streben wird unvermeidlich einseitig sein. Deshalb wird es auch als Ideologie bezeichnet.
Wir leben in einer Zeit, die diese Zweideutigkeit zu ihren letzten Konsequenzen führt. Der erste Faktor der genannten Alternative hat in seiner letzten Konsequenz alle Ideologien schachmatt gesetzt. Wir leben in einer Zeit, in der alle Ideologien zusammengebrochen sind. Genau dort, wo man wie 1968 auf erbitterte Weise versuchte, diese Ideologien zu bekräftigen, ist alles in einem Abgrund versunken. Die großen Rebellionen sind ganz unspektakulär in eine Anhängerschaft an das «Stabilisierte», an die machthabenden Parteien zurückgeführt worden. Diese Wahl hat freilich eine weitere Konsequenz. Denn nach dem Zusammenbruch der Ideologien mit ihrem Anspruch, die Ungerechtigkeiten des menschlichen Daseins zu beseitigen, muss man trotz allem irgendwie weiterleben. Und man kann nicht in einer völligen Unordnung weiterleben! Daher ist der jeweilige Machthaber insbesondere daran interessiert, dass keine Unruhe entsteht, die ihn in seiner eigenen Position schachmatt setzen könnte. Kurz gesagt, diejenigen, die heutzutage in allen Bereichen und in jeglichem Sinne die Macht innehaben (weiter ins Detail zu gehen verbietet mir der Anstand), diese Leute wollen eine neue Schöpfung hervorbringen, eine neue Art von Mensch, und zwar durch eine Erziehung, der man auch noch die 40- und 50-Jährigen unterziehen kann, indem man durch die Massenmedien auf sie einhämmert, Verbote und Tabus etabliert und sie dann zur allgemeinen Meinung werden lässt. Man will einen neuen Menschen schaffen, der sich in der Wirklichkeit bewegt wie ein Bolzen oder irgendein anderes mechanisches Teil in den Händen eines Arbeiters, der es für seine Zwecke benutzt. Bestimmte Werte werden einfach als Schlagworte akzeptiert, und ebenso leicht nimmt man hin, dass andere Werte ausgeschlossen werden. «Wenn wir zu viele werden, wie kann man dann noch geordnet leben!»; also müssen wir die Zahl der Menschen reduzieren. Wer viele Kinder hat, wird demzufolge lächerlich gemacht, während der, der keine haben will, in Ruhe und mit dem besten Gewissen lebt. Er entspricht der Art von Mensch, den die vorherrschende Mentalität durchsetzen will. Wer daher über die Werte des Lebens nicht so denkt wie die vorherrschende Mentalität, der ist ein gefährlicher Träumer oder besser gesagt ein Psychopath. In Russland kommt das buchstäblich zur Anwendung: Wer aufrichtig religiös ist, muss oder kann zumindest ins Irrenhaus gesteckt werden, da er offensichtlich nicht der Norm, der normalen Mentalität entspricht. Er ist anormal und muss folglich wieder in die Norm zurückgeführt werden.
Was daher heutzutage von der Macht - die uns formt, ohne dass wir uns dessen bewusst werden - an Werten definiert wird, lässt sich in einem einzigen Wort zusammenfassen (das ist ganz logisch, wenn es kein Paradies mehr gibt und nur noch das zählt, was wir berühren und sehen können): der Wohlstand hier auf Erden. Alles muss dem Wohlstand dienen. Das Wort «Konsum» ergibt sich hieraus als Konsequenz, doch alles muss dem Wohlstand dienen, alles zielt hierauf ab. Es ist besser, dass 25 Menschen in Wohlstand leben und ihn genießen, als dass 250 Menschen leben, die nicht genießen! Das ist ganz logisch und vernünftig! Daher versuchen wir auch, mittels der Genetik bis zur Entstehung des Menschen vorzustoßen und mit den geeigneten Methoden einen Menschen hervorzubringen, der ein bestimmtes Maß an klar begrenzten Bedürfnissen hat und nicht mehr, so dass man ihn bestens lenken kann! Die Macht versucht heutzutage zu verwirklichen, was Aldous Huxley vor Jahren in seinem Roman Schöne neue Welt vorausgesehen und beschrieben hat.
Genau hier liegt die letzte Alternative zu jener menschlichen Würde, die jede Mutter und jede normale Person verspürt, und die alle Religionen der Welt stets gepriesen haben, der letzte Schritt der Alternative zu dieser menschlichen Würde: Das Ideal, nach dem man strebt, ist eine Welt, die von der Anzahl der Menschen her genau begrenzt ist, und in der die Bestrebungen der Menschen ebenso begrenzt sind, so dass alle «zufrieden» und «befriedigt» leben können. Und alles, was nicht in diesen vorausgeplanten Prozess hineinpasst, muss an seiner Entstehung gehindert oder aus dem Weg geschafft werden. Was nützen die alten Menschen? Was nützen die Behinderten? Also müssen sie daran gehindert werden, zur Welt zu kommen, oder eliminiert werden, wenn sie auf der Welt sind. Und selbstverständlich muss jeder zum Schweigen gebracht werden, der Einwände hat oder «Unordnung» verursacht. Denn wie könnte man all die feinen Mechanismen richtig beherrschen, die den Menschen behandeln müssen wie einen Diamanten oder einen wertvollen Stein, oder wie ein Atom oder Neutron, ohne dass Ruhe herrscht? Daher bedarf es eines Gleichgewichts, es bedarf - dieses Wort fasst alles zusammen - des «Friedens». Es bedarf des Friedens!
Doch auf der anderen Seite gibt es gleichsam eine seltsame «Vergeltungsstrafe», wie der gute alte Dante sagen würde. Es entsteht ein Gegengewicht gegenüber dieser widerwärtigen Autonomie, die der Mensch über die eigene Menschlichkeit und die der anderen zu besitzen beansprucht, und die es den Mächtigen erlaubt, alles umzubringen und zu eliminieren, was auf ihrem Weg der «Ordnung» hinderlich ist.
Vor einigen Jahren gab es eine breite öffentliche Diskussion über Hitler und den Nationalsozialismus. Man sprach von der Unmenschlichkeit dieser «Theorie», die zum Mord an so vielen Juden führte, einfach weil sie die vorhin genannten Ideen in die Tat umsetzte. In der Tat hat der Nationalsozialismus all diese Ideen vorweggenommen: Wenn das Wohlergehen der Welt im Blut der deutschen Rasse begründet liegt, muss in der Tat alles eliminiert werden, was nicht dem Blut der deutschen Rasse angeglichen werden kann.
Gerade in dieser Zeit erschienen im Corriere della Sera ein Beitrag vom Bruder des oben erwähnten Schriftstellers, Huxley, in denen er nach einer Verurteilung Hitlers schrieb: «Gerade um einen neuen Hitler und ein neues Auschwitz in dieser Welt zu verhindern, muss man genetische Methoden finden, um Menschen herzustellen, bei denen wir noch vor der Geburt alle Fehler eliminieren. Die Genetik kann dies als Wissenschaft erreichen und so hätten wir eine perfekte Rasse.» Huxley wandte damit im Kampf gegen Hitler genau dasselbe Denkmodell an. Nur dass das Ideal der Auslese bei Hitler das deutsche Blut und bei Huxley die wissenschaftlich erzeugte perfekte Rasse ist. Die Wissenschaft soll somit bestimmten Menschen und Denkströmungen als Machtmittel dienen. Denn auch die Wissenschaft unterteilt sich wie die Politik in verschiedene Strömungen.

In diesem Augenblick höchster Verirrung, wo das Ideal des Menschen in der Zerstörung des Menschen zu Gunsten einer neuen Daseinsform zu liegen scheint, erweist sich das religiöse Empfinden stärker denn je zuvor gleichsam als «Vergeltungsstrafe». Nie war der religiöse Sinn so gegenwärtig und beunruhigte so sehr die Menschen aller Rassen und Altersgruppen. Niemals war er so lebendig wie heute. Er ist zwar unklar, konfus und furchtbar verwirrt, aber doch so gegenwärtig in der Seele des Menschen wie nie zuvor.

Was verstehen wir aber unter Religiosität und religiösem Sinn? Repetita iuvant. Der religiöse Sinn ist jene unzerstörbare Eigenschaft des menschlichen Herzens, der tiefsten Natur des Menschen, auf Grund derer ihn nichts, von allem, was man ihm geben oder anbieten kann, befriedigt, vervollkommnet oder erfüllt - außer der Illusion des Augenblicks. Der Mensch hat etwas, dass er nicht erfassen kann. Es gelingt ihm nicht, vollständig zu sein. Denn der Mensch ist Beziehung zu etwas Unendlichem. Wir können es nennen, wie wir wollen, (die Geschichte der Religionen hat es Gott genannt), aber der Mensch ist von Natur aus Beziehung zu etwas ihm gegenüber Unermesslichem.
Was auch immer der Mensch ergreift, während er es in die Hand nimmt, sagt es ihm «Adieu!», schreibt der Dichter Clemente Rebora, dessen hundertster Geburtstag soeben begangen wurde. Und je mehr man es zu ergreifen sucht, desto mehr entschwindet es. Es ist so, als habe dieser Mensch eine eigenartige Bestimmung. Deshalb sind auch die Ausflüchte in alle Ausflüsse indischer und fernöstlicher Mystik zur Mode geworden. Dieses dem menschlichen Herzen eigene Empfinden, diese unlösbare Unruhe, ist Zeichen einer Bestimmung, die über alle Werke und Projekte hinausragt. Gerade dieser religiöse Sinn richtet sich auf, und zwar während die Macht den Menschen zu ersticken droht - und zwar nicht aus Zynismus und mit zynischen Methoden, sondern damit es der Menschheit «wohl ergeht», damit es ihr «besser geht».
Gerade in diesem Augenblick, in dem das Herz des Menschen aufwallt, weiß er nicht, wo er Schutz finden soll. Er versteht diese Unruhe nicht, er weiß nicht, womit er den Inhalt des Zieles identifizieren soll, er kennt das Ziel, auf das er hingedrängt wird, er weiß nicht, wozu das Ganze dient.
Wir erinnern uns in diesem Augenblick, an das, was Johannes in seinem Evangelium geschrieben hat: «Niemand hat Gott je gesehen», die Bestimmung zu der der Mensch berufen ist, hat niemand gesehen - und gleich wie vage diese Aussage ist, so existiert doch keine Aussage die entscheidender, offensichtlicher ist als diese. «Der eingeborene Sohn des Vater hat uns dies geoffenbart»: Diese Bestimmung ist einer unter uns geworden. Die Bestimmung, aufgrund derer der Mensch, das Herz des Menschen, geschaffen ist; aufgrund derer die Frau für den Mann nicht ausreicht und der Mann für die Frau, die Mutter für die Kinder und die Kinder für die Mutter; aufgrund derer das Geld, für den, der viel davon hat, nicht ausreicht, und ebensowenig für den, der an die Spitze der Pyramide gelangt ist - diese Bestimmung ist eine von uns geworden. Dies ist der große und unvergleichliche Eindruck, den jeder von euch, der im Heiligen Land war, empfindet, wenn er die Überreste des Hauses oder der Grotte sieht, wo Maria im Alter von 15 Jahren die Verkündigung des Engel empfing. Und je mehr die Grabungen und wissenschaftlichen Untersuchungen fortschreiten, desto mehr wird die Tradition bis in die Einzelheiten bestätigt. Es läuft einem die Gänsehaut über den Rücken, wenn man an diesem Ort auf einer Mauer liest: Verbum caro hic factum est, «Das Wort ist hier Fleisch geworden». Das Wort, das heißt, das, wofür das Herz geschaffen wurde, das, wofür die Mutter das Kind großzieht, wofür es sich zu leben lohnt, weshalb es kein Leben gibt, gleich wie unglücklich es auch sein mag, das unnütz wäre. Jedes Leben ist es Wert, gelebt zu werden, denn jedes menschliche Sein, das in diese Welt kommt, ist Beziehung zum Unendlichen, es ist Beziehung zu jenem Menschen, der sich zum Samen im Schoße jener kleinen Frau machte. Und wer erkennt schon einen Samen, der gerade in die Erde gelegt wurde? Niemand. Man verwechselt ihn mit der Erde. Wer weiß, wie es möglich ist, dass im Laufe der Zeit daraus eine so riesige Pflanze wird! Vor der Mauer, wo die Gottesmutter die Verkündigung empfing, steht heute so eine Pflanze, wenige Meter entfernt vom Haus des Joseph, mit seinen sieben rituelle Stufen am Eingang zum Arbeitsraum. Vor diesen Mauerresten oder diesem Felsstück, bekommt man noch mehr Gänsehaut, wenn man bedenkt, was Alessandro Manzoni in der Hymne an Maria sagt: «Aber schaut, alles ging aus diesem Samen hervor, wie ein Same im Boden, den man nicht erkennt. Wer hätte sich das je ausgedacht? Wer hätte sich das je ausdenken können? Und wer hätte an dieses Mädchen gedacht, die mehr als hundert Kilometer über die bergige Steinwüste zurücklegte, um zu ihrer Cousine Elisabeth zu gelangen, die in diesem geheimnisvollen Augenblick wusste, dass auch sie schwanger war, trotz ihres Alters. Und als sie ihre Cousine traf, rief sie biblische Worte wiederholend aus: «Selig werden mich von nun an preisen alle Geschlechter.» Wir selbst bewahrheiten noch an diesem Abend diese Prophetie! Aus dem Nichts - das ist der größte Eindruck, den ich von der Reise in das Heilige Land mitbrachte - aus dem Nicht, regelrecht aus dem Nichts, wie ein Same, der die Erde bedeckt hat, nach dem Gleichnis des Evangeliums, der sich über die ganze Welt ausgebreitet hat, und gleichzeitig auch die ganze Geschichte herausfordert: «Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen.» Welche Macht der Welt kann aber die geschichtliche Zeit herausfordern, indem sie sagt: «Auch wenn die Geschichte Milliarden Jahre dauert, wenn ich vergehe, dann bin ich nicht mehr wahr - ich fordere diese zwei Milliarden Jahre heraus»? Das ist das Bewusstsein der Kirche, des geheimnisvollen Leibes Christi. Und in der Tat ist in diesem Leib das Wort Fleisch geworden und gegenwärtig. Er ist hier, wie am ersten Tag ist er hier.
Wie ist er hier? Berühren wir nun das, was uns zutiefst begeistert, gleich wie alt wir sind, berühren wir das, was uns mehr als jede Blutsbande vereint, berühren wir das, was uns Hoffnung schenkt (wie viele haben wir in dieser Hoffnung sterben sehen, die für uns ein Zeichen waren, das kein Wort zum Ausdruck bringen kann!): Er ist hier, wie am ersten Tag, in uns, unter uns. Denn darin besteht die Methode, mit der jener Mensch, der Mensch gewordene Gott, sich in der Zeit und im Raum ausbreitet und so in jedem Augenblick von Raum und Zeit zur Gegenwart wird: durch Menschen, die der Vater ihm in die Hände legt, oder die Er erwählt - der getaufte Mensch, der berufene Mensch, wir. In unserer Gemeinschaft, in unserer Einheit ist seine Gegenwart hier wie am ersten Tag und sie wirkt wie am ersten Tag, sie wirkt als Höhepunkt seines Ausdrucks. Er wirkt unter uns, er verändert, wandelt, wirkt wahre Wunder, damit der Mensch mehr Mensch wird. Er bewirkt das großartigste Schauspiel, nämlich das einer brüderlichen Menschheit. Er wirk die Herrlichkeit einer Reinheit des Lebens, die Herrlichkeit der Fähigkeit zur Armut, das nicht im Verzicht auf Geld besteht, sondern darin, sie für das zu verwenden, was größer ist als wir, für das wenn auch nur vorläufige Wohl dieser Menschheit unterwegs.

Denn die Menschheit ist unterwegs. Diesen Gedanken kann keine Ideologie und auch die derzeit vorherrschende Macht nicht einmal erfassen. Wir sind Menschen, die unterwegs sind auf dem Weg zu ihrer Bestimmung. Jeder für sich? Nein! Jeder mit dem anderen, jeder mit dem Schritt des anderen. Und niemand verliert mehr etwas von dem, was er berührt und umarmt: «Auch die Haare auf eurem Kopf sind gezählt, und selbst ein im Scherz gesprochenes Wort geht nicht verloren.»
Deshalb müssen wir uns der Verantwortung erneut bewusst werden, die uns berührt hat, und die niemand abwerfen kann. Denn die Würde meines Lebens und deines Lebens ist die gleiche. Und sie besteht nicht in dem, was du tust, nicht im Beruf oder der Rolle, die du in der Gesellschaft spielst: Sie liegt in dieser großen «Vertretung» des Geheimnisses Christi, zu der du berufen wurdest. Andere antworten Gott auf eine andere Weise. Wir können Gott allein in der Erwählung antworten, die er an uns vollzog, in der christlichen Berufung, die er uns gegeben hat und die alles einbeziehen muss. So gewinnt alles an Bedeutung, Beruf, Vaterschaft, Mutterschaft, Weggemeinschaft, Freundschaft, Studium, Arbeit, Freizeit, ja selbst das Atmen. Alles wird nützlich und wichtig, wenn es in dieses tiefe und klare Bewusstsein von der christlichen Berufung, die an uns erging, einbezogen ist.
Wenn wir das Seminar der Gemeinschaft dieses Jahres aufnehmen, dann werden wir uns immer mehr der großen Aufgabe bewusst, die wir angesichts aller Menschen haben, einer Aufgabe, die unsere Weggemeinschaft gegenüber dem ganzen Menschengeschlecht, der ganzen Gesellschaft hat.
Die erste Aufgabe besteht darin, Christus in jedem Lebensbereich, in jeder menschlichen Wirklichkeit gegenwärtig werden zu lassen. Das heißt Christus gegenwärtig werden lassen durch das Selbstbewusstsein, das durch das Gedächtnis an ihn bestimmt ist, durch das höchste Beispiel, das dem Menschen unmögliche Wunder, nämlich das Geheimnis der Einheit unter den Menschen, die sich ansonsten fremd geblieben wären. Denn dem Menschen, der allein gelassen wird, ist selbst die wirkliche Einheit zwischen Mann und Frau nicht möglich. Die erste Verantwortung besteht also darin, Christus zu vergegenwärtigen. Und wenn du in einem Lebensbereich alleine bist, dann ist dies so, als ob deine ganze Persönlichkeit, mit aller Sehnsucht nach dem ermutigenden und mit Frieden erfüllenden Schauspiel der christlichen Gemeinschaft ruft. Und die Art deines Verhaltens wird unweigerlich den anderen etwas von dem mitteilen, was in dir ist.
Zum Zweiten besteht die Verantwortung unserer Weggemeinschaft angesichts der Menschheit von heute darin, den Menschen vor des Despotie der Macht zu bewahren, gleich welcher Natur sie auch ist oder auf welcher Ebene sie sich ausdrückt. Denn der Mensch ist Beziehung zu Gott, zum Unendlichen. Unsere Weggemeinschaft hat diese «Freiheit», die nicht darin besteht, das zu tun, was einem gerade beliebt: die Freiheit besteht in der Bejahung der Beziehungen, die uns konstituieren. (So versteht man auch die Bedeutung des Vaters und der Mutter für das Kind, vor allem aber den Wert Gottes für Vater und Mutter.)
An erster Stelle steht also das Bewusstsein der Verantwortung, das wir haben: Christus in unserem Fleisch zu vergegenwärtigen durch unser Zeugnis: Das Zeugnis ist eine Art, sich aus einem Selbstbewusstsein heraus zu verhalten, das von jenem Gedächtnis erfüllt ist, dem jenes Gedächtnis gegenwärtig ist. Zum Zweiten geht es darum, den Menschen von jeder Art von Despotie zu befreien, von der Macht, damit die Macht zu dem zurückkehrt, was sie für Christus war: Dienst, ein Dienst.
In wenigen Tagen, am 27. Oktober, wird in Assisi das große vom Papst initiierte Treffen der Vertreter aller Religionen stattfinden. Die wesentliche Bedeutung dieses Gestus ist klar: Nur der Mensch, der mit Blick auf den religiösen Sinn wahrgenommen wird, nur der Mensch, der in seinem Wesen, das heißt im Wesen seines Herzens wahrgenommen wird, das durch den religiösen Sinn bestimmt ist, kann zum Werkzeug des Friedens werden, zum Friedensstifter. Die Substanz des menschlichen Herzens, kann nur dann auf leuchtende und bewundernswerte Weise wertgeschätzt werden, wenn das Bewusstsein von Christus durchdrungen ist, also nur im christlichen Bewusstsein. Auch dies ist Paradox. Man könnte hinzufügen, dass unsere Weggemeinschaft zur Erhaltung des Friedens, als Bedingung für einen menschlicheren Weg, gegen den Atheismus im konkreten Leben kämpfen muss. Es mag einen theoretischen Atheismus geben, der immer mehr an die Kette gelegt wird. Aber es gibt einen konkreten Atheismus, nämlich das Leben als Hedonismus, das Leben als «Befriedigung». Wir haben bereits vorher gesagt, dass diese Form des Atheismus immer größer wird und die ganze Kirche einbezieht, wie Johannes Paul II. in seiner Rede über Evangelisierung und Atheismus sagte. Der Kampf gegen diese falsche Befriedigung macht uns zu Brüdern mit allen, denen wir begegnen. Aber diese Suche nach einer falschen Befriedigung, die ein Ideal ist, das die Machthaber ihren Völkern vorschlagen können, dieses Ideal einer falschen Befriedigung, macht die Mensch einsam wie Hunde, es macht sie zu Egoisten. Der praktische Atheismus, der alltägliche Atheismus ist ein Egoismus, der die Menschen immer mehr in eine schreckliche Einsamkeit verschließt.
Nachdem ich das aufgewiesen habe, was nach meiner Überzeugung die wesentlichen Charakteristika unserer Zeit sind, und was die vom erneuerten Bewusstsein getragene erschütternde, große, mächtige aber sanfte Aufgabe ist, nämlich die, «Vorwand» für die Gegenwart Christi zu sein; nachdem ich dargelegt habe, was unsere Aufgaben sind, die dreifache Aufgabe (Christus zu vergegenwärtigen, den Menschen aus der Sklaverei der Macht zu befreien, in der Freiheit seiner Beziehung zur Bestimmung; die Ausmerzung des militanten, praktischen Atheismus in unserem Leben), erlaube ich mir, mit folgender Aussage von Johannes Paul II. zu schließen. Es handelt sich um eine Rede an polnische Einwanderer in Deutschland: «Nur heilige Menschen (für das Christentum wie für die Bibel ist der Heilige der, der die Gegenwart Gottes anerkennt; Gott, der in seinem Leben gegenwärtig ist, der Gott des Bundes) sind in der Lage, Brücken zwischen den Nationen zu bauen, weil nur die Heiligen ihr Handeln auf der Liebe gründen. Wenn die Stelle der Gläubigen und Heiligen von Menschen ohne Gott besetzt wird, dann werden der Egoismus und der Hass zum Gesetz, wie die folgende Geschichte des Zusammenlebens zwischen der deutschen und der polnischen Nation bezeugt.»