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Thema - Erziehung und Institutionen
Demokratie, Caritas, Gegenseitigkeit
Luca Antonini

«Das Grundprinzip des Staates muss die Verfolgung der Gerechtigkeit sein und das Ziel einer gerechten Gesellschaftsordnung ist es, unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips jedem seinen Anteil an den Gütern der Gemeinschaft zu gewährleisten. ... Nicht den alles regelnden und beherrschenden Staat brauchen wir, sondern den Staat, der entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip großzügig die Initiativen anerkennt und unterstützt, die aus den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften aufsteigen und Spontaneität mit Nähe zu den hilfsbedürftigen Menschen verbinden» . Benedikt XVI., Deus caritas est
Es heißt, die Demokratie sei in der Krise. Aber was heißt das wirklich? Hier einige Auszüge aus Texten von Don Giussani, um Bedeutung und Wert der Demokratie wiederzuentdecken. Und das in einer Zeit, wo mancher schon von «Post-Demokratie» spricht.

«Erfreut ein Begriff sich einer so allgemeinen Heiligung wie gegenwärtig der Begriff "Demokratie", dann fange ich an mich zu fragen, ob er überhaupt etwas bedeute, da er gar zu vielerlei bedeutet.» (T.S. Eliot, Die Idee einer christlichen Gesellschaft) In der Tat: Je mehr man zu Begriffen wie «Diktatur» oder «Rassismus» auf Distanz geht, umso größer ist die Furcht, für Begriffe wie «Demokratie» Partei zu ergreifen. Sogar die am wenigsten glaubwürdigen Regime des real existierenden Sozialismus, wie das kambodschanische unter Pol Pot, benutzten demonstrativ den formellen Begriff «demokratisch» in ihren offiziellen Verlautbarungen.
Abgesehen von diesen historischen Paradoxa sind die Krise der Repräsentation und der Rechtfertigungsdruck, unter den die Kategorie der Staatsbürgerschaft geraten ist, auch in modernen demokratischen Ländern zu Besorgnis erregenden Faktoren geworden.
In Harvard wurde beispielsweise eine Untersuchung mit dem Titel Der Wähler, der verschwindet gestartet. Darin wird als Index die helpless gemessen, das heißt das Ausmaß der Ohnmacht von Wählern in demokratischen Prozessen. Bezogen darauf sprechen Dahrendorf und Crouch bereits von «Post-Demokratie», womit eine unvollständige Demokratie gemeint ist, die sich weit von der ursprünglichen «Herrschaft des Volkes» entfernt hat. Andere, wie Giddens, halten eine «Demokratisierung der Demokratie» für geboten. Die Zukunft der Demokratie steht also in Frage und viele stimmen in der Ansicht überein, dass Wahlen und Parlamente nicht mehr die Bedürfnisse der demokratischen Meinungsfindung erfüllen. Aufgrund dieser offenen Frage zur Zukunft der Demokratie ist es nützlich, einige Auszüge von Don Giussani erneut zu lesen, die von außergewöhnlicher Aktualität sind, wenn es um darum geht, die existenzielle Bedeutung von Demokratie wiederzugewinnen.

Wesentlicher Faktor
In Das christliche Ereignis wird der wesentliche Faktor einer grundlegenden Demokratie folgendermaßen auf den Punkt gebracht: «Die Freiheit für eigene Vorstellungen oder eigenes Handeln ist für die Demokratie eine Frage auf Leben oder Tod. Von diesem Freiraum für die Arbeit wird das Herz geboren und durch die Teilhabe unterstützt. Dieser Freiraum, der Respekt vor der Freiheit ist für jegliche Macht das Maß verwirklichter Demokratie. Wobei das Recht Versammlungsrecht dem Zugriff der Macht diametral gegenübersteht.»
Diese Aussagen werden in einigen Abschnitten von Das Ich, die Macht und die Werke vertieft. Don Giussani spricht hier von einer «Kultur der Verantwortlichkeit», die «jenes ursprüngliche Bedürfnis des Menschen wach halten muss, dem die Sehnsüchte und Werte entspringen: Die Beziehung zum Unendlichen, die den Menschen zu einem wahrhaften und aktiven Subjekt der Geschichte werden lässt.» (S. 168) Weiter unten erläutert Giussani: «Was meines Erachtens grundlegend im Menschen ist, nenne ich Sehnsucht. Die Sehnsucht ist wie der Funke, der den Motor in Gang setzt. Alle menschlichen Regungen entstehen aus diesem Phänomen, aus dieser Dynamik, die den Menschen kennzeichnet. Die Sehnsucht entzündet den Motor des Menschen. Also beginnt er, Wasser und Brot zu suchen, eine Arbeit zu suchen, eine Frau, einen bequemeren Sessel und eine angemessenere Wohnung. Gerade aufgrund des Wachsens und der Weitung dessen, aufgrund des Reifens jener Regungen, die er in sich trägt und welche die Bibel als ´Herz´ bezeichnet, fragt er sich, wieso die einen Besitz haben und die anderen nicht. Deshalb fragt er, wieso einige in einer bestimmten Weise behandelt werden und er nicht.» (S. 173) Auf den möglichen Einwand, dass die Gefahr einer Diktatur der Wünsche aufkommen könnte, antwortet er: «Es gibt ein Wort, das der Idee des wahren Menschen entspricht und daher auch der wahren Politik: Das Wort Freiheit. Die Freiheit ist das Gegenteil von dem, was vorher genannt wurde (Recht auf Abtreibung, Scheidung und so weiter), denn Freiheit ist nicht das, was die Macht festlegt und durch die Massenmedien verbreitet wird.»

Das Prinzip der Subsidiarität
Somit wird das Vorherrschen der Gesellschaft als Bedingung für eine Kultur der Verantwortlichkeit als grundlegend für die Demokratie angesehen: «Die Macht hat mit Menschen zu tun. Und der Mensch ist komplexer als das, was die jeweiligen Listen der Soziologen oder Psychologen an Bedürfnissen anführen. Der Mensch hat beispielsweise das absolute Bedürfnis, auf irgendeine Weise die eigene Wirklichkeit zu ergründen. Um dies besser zu verstehen, stellt euch einmal vor, was passieren würde, wenn der Staat für euch die Frau und die Familie aussuchen würde, die Anzahl der Kinder, den Wohnort und so weiter. Es wäre die Hölle! Denn der Mensch ist Protagonist seiner selbst. Wir müssen stets bedenken, dass die Macht eine menschliche Gesellschaft leitet, also eine komplexe Gesellschaft. Der Mensch ist auf keinerlei vorgefertigtes Schema zu reduzieren. Unter Johannes XXIII. und später Paul VI. hat die Soziallehre der katholischen Kirche den weisen Aufruf an die Macht unternommen, die Initiative der Menschen zu fördern, ihr zu helfen und daher wertzuschätzen. Dies ist das Prinzip der Subsidiarität. [...] Die Macht, die zum Dienen berufen ist (Prinzip der Subsidiarität), kann aufgrund der Natur des Menschen, sehr rasch zum Kerkermeister oder Despoten werden, auch wenn es nicht dazu kommt, dass, wie in Auschwitz, Gaskammern errichtet werden oder Lager wie in der Sowjetunion.» (S. 176)
Aus dem Raum, der einer Kultur der Verantwortlichkeit zugestanden wird, entwickelt sich das Kriterium zur Beurteilung der Macht und der politischen Projekte, sodass am Ende die Alternative steht: «Entweder wird etwas aufgebaut, weil dies der Ausgang des denkerischen und tätigen Schaffens des Menschen in der Gegenwart ist; denn der Mensch sucht das, was ihn hoffen lässt, die Sehnsüchte zu befriedigen. Oder es gibt ein zukünftiges politisches Konstrukt nach einem vorgefertigten Plan, einem ideologischen Programm (also einer Vorstellung von der Wirklichkeit, die von bestimmten intellektuellen Sorgen ausgeht), das die Wirklichkeit aufgrund dieses Vor-Verständnisses analysiert und sie demgemäß benutzt, verletzt und vergewaltigt.
Ich ziehe immer einen dramatischen Vergleich, besonders in diesen Zeiten: Könnte die Macht nicht so verrannt in ihre Vorurteile sein, dass sie eine neue, kreative Menschheit errichten möchte, die frei von der Last des Alters ist? Wer könnte dann dieser Macht verbieten, ein allgemeines Gesetz zu erlassen, wonach man mit dreißig Jahren getötet werden muss? [...] Niemand. Was für ein Unterschied besteht doch zwischen einem Projekt mit dem Menschen, das aus dem hervorgeht, wofür der Mensch geschaffen ist (Sehsucht, Bedürfnis, Drang, Evidenz, Herz) und einem politischen Projekt, das von Intellektuellen erfunden wurde und auf einer Vorstellung vom Menschen und seinen Beziehungen mit der Welt errichtet wurde.» (S. 174)

Falsche Demokratie
Don Giussani spezifiziert das Wesen der Demokratie in Der Weg zur Wahrheit ist eine Erfahrung (S. 120-124): «Die Demokratie ist ihrem Geist nach nicht zuerst eine soziale Technik, ein bestimmter Mechanismus äußerer Beziehungen. [...] Der Geist einer wahrhaften Demokratie mobilisiert hingegen die Haltung eines jeden in Bezug auf den Nächsten in aktiver Weise, durch eine Entsprechung, die dazu neigt, den anderen in seinem Wert und seiner Freiheit zu bejahen. Man könnte diese Weise der Beziehung zwischen den Menschen, die die Demokratie herstellen möchte, ´Dialog´ nennen. Aber der Dialog schlägt dem anderen etwas vor, was ich lebe. Gleichzeitig schließt er eine Aufmerksamkeit für das ein, was der andere lebt. Das geschieht aufgrund einer Wertschätzung für die Menschlichkeit des anderen und einer Liebe zum anderen, was keineswegs einen Zweifel an mir selbst bedeutet und nicht beinhaltet, dass ich in dem, was ich bin, gefährdet bin. [...] Das, was wir mit dem anderen gemeinsam haben, ist nicht so sehr in seiner Ideologie zu finden als vielmehr in jener angeborenen Struktur, [...] jenen ursprünglichen Kriterien, aufgrund derer er genauso Mensch ist wie wir.» Aus diesem Blickwinkel revolutioniert Giussani die verbreitete Tendenz, «den Relativismus als die Konzeption der Welt [anzusehen], welche die Idee der Demokratie verlangt» (Kelsen). Giussani spricht diesbezüglich von «falscher Demokratie» und erläutert, dass «die Demokratie nicht auf eine Menge von gemeinsamer Ideologie gegründet sein kann. Sie muss vielmehr auf der Caritas gegründet sein, das heißt auf der Liebe zum Menschen, die durch die Beziehung zu Gott angemessen begründet ist.» Daraus entsteht das Zusammenleben als «Gemeinschaft unter Identitäten, die sich auf verschiedene Weise ideologisch einsetzen». Es ist notwendig, dass der «Sozialvertrag (Verfassung)» sich bemüht, «immer perfektere Normen zu geben, die dem Menschen das Zusammenleben als Gemeinschaft ermöglichen und ihn dazu erziehen». Der Pluralismus ist also die «ideale Anweisung».

* Vizepräsident der Stiftung für Subsidiarität