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CL - Don Giussani
Die Herausforderung des Nihilismus
Marina Corradi

Mit weniger als Gott gibt sich der Mensch nicht zufrieden. Ein Interview mit Don Julian Carrón in der italienischen Tageszeitung Avvenire

Ein Jahr ist seit dem Tod von Don Giussani vergangen. "Er war für viele ein Vater", sagte der damalige Kardinal Ratzinger in seiner Predigt während des Trauergottesdienstes, den er zusammen mit Erzbischof Tettamanzi im Mailänder Dom zelebrierte. Aber, so schreibt Don Julian Carrón, der als Nachfolger Giussanis die Leitung der Bewegung übernommen hat, in einem Brief an die Fraternität von Comunione e Liberazione: «Wir fühlen uns nicht als Waisenkinder.» Wenn er daran zurückdenkt, wie viele Leute den Dom an jenem Tag vor einem Jahr füllten, ist er noch immer berührt. Und dennoch jene geradezu fröhlich vorgetragene Bekräftigung, eben keine Waisen zu sein: «Sein Vermächtnis ist gegenwärtig und eine beständige Herausforderung.»

Zumeist lässt der Tod nur traurige Erinnerungen zurück. Worin zeigt sich für Sie heute, Don Carrón, die Gegenwart Giussanis?
Eben jener Ratzinger hatte in seiner Predigt gesagt, dass Giussani die Personen nicht an sich selbst, sondern an Christus band und dadurch die Herzen an Ihn. Diese Gegenwart Christi können wir anhand so vieler Aspekte sehen, die sich in diesem Jahr unter uns ereigneten. Und das auf eine Art und Weise, die uns einfach nur staunen lässt. Anhand unserer Einheit, anhand dieser Lebensintensität unter uns und anhand dessen, was weiterhin alles geschieht. Wir durften erkennen, dass Giussanis Vermächtnis lebendig ist und er dadurch unter uns gegenwärtig bleibt.

Sie selbst sind Giussani sehr dankbar, dass er Ihnen das Bewusstsein dafür vermittelte, welch tiefe Sehnsucht im Menschen verankert ist. Ist es nicht gerade die Fülle dieser Sehnsucht, die Giussani den Jugendlichen nahe brachte und die sie auch heute noch fasziniert?
Ja, denn in den Herzen der Jugendlichen ist die Sehnsucht noch nicht ausgelöscht. Sie verlangen danach, dass ihr Herz den Gipfel dieser Sehnsucht erklimmen möge. Hingegen ist es schwierig einen Erwachsenen von 40 Jahren zu treffen, der noch nicht vom Zweifel besiegt worden wäre. Die Jugendlichen halten Ausschau. Sobald sie aber sehen, dass nacheinander all ihre Erwartungen nach Glückseligkeit ohne Antwort bleiben, fangen sie an zu glauben, dass es eine solche vielleicht gar nicht gebe, und resignieren. Wem daher die eigene Glückseligkeit am Herzen liegt, den kann es nicht kalt lassen, wenn er auf eine Person trifft, die das ganze Leben mit einer Intensität lebt, die diese Sehnsucht nie aus den Augen lässt. Giussani war eine solche Person.

Vor kurzem nahmen sie ein Thema wieder auf, das ihm sehr wichtig war. Sie schrieben, wir lebten in einer Kultur, die das Geheimnis vergessen habe und die die Wirklichkeit auf ihren bloßen Schein reduziere, einem Nihilismus ohne Unterlass. Wie soll man darauf reagieren?
Wir können den Nihilismus nur herausfordern durch etwas, das real und gegenwärtig ist und das imstande ist, die Herzen mitzureißen. Die Menschen werden immer gleichgültiger, weil es an Vorschlägen fehlt, die ihr Ich zu begeistern wissen. Allein wenn das Geheimnis sein Antlitz offenbart, bringt der Mensch die Entschlossenheit und Energie auf, sich ihm anzuschließen. Wir haben die Gegenwart des Geheimnisses so nötig. Denn nur in etwas, das gegenwärtig und lebendig ist, können wir uns verlieben. Mit weniger als einer Anziehungskraft von Fleisch und Blut, so wie das Kind für die Mutter, gibt sich der Mensch nicht zufrieden.

Wie ist es also demnach möglich, sich in Christus zu verlieben?
Das geht nur mit Hilfe der Gegenwart eines Menschen. Das Geheimnis muss Fleisch geworden sein. Das ist das Wesen des Christentums, wie es Benedikt XVI. in seiner Enzyklika Deus caritas est formuliert. Zuvor rein abstrakte Konzepte bekamen in Christus Fleisch und Blut. Es ist ein geradezu provokanter Realismus. Aber nur wer sich vom Geheimnis ergreifen lässt, kann gerettet werden. Ein Christentum, das nur auf Spiritualität und Ethik reduziert wird, kann es daher niemals schaffen, die Menschen wieder wachzurütteln. Giussani wiederholte tausendmal einen Satz Johannes Paul II.: «Wir glauben an Christus, der gestorben und wieder auferstanden ist, gegenwärtig, hier und jetzt.» Dieses "Hier und Jetzt" macht ihn zum Zeitgenossen jedes Menschen. Und, so bekräftigt er in Veritatis splendor, nur durch die Kirche bleibt Christus Zeitgenosse des Menschen. Durch sie wird Sein Leib, in dessen Schoße sich das Geheimnis birgt, für uns in der Geschichte konkret.

Dennoch aber ergreift uns Christen oft ein Gefühl der Schwermut und der Niederlage, als würde uns die verheißene Fülle ständig entschwinden.
Gerade deshalb brauchen wir Menschen, die uns die Fülle des Lebens immer wieder aufzeigen. Wir brauchen Zeugen, wie Johannes Paul II. einer war. Giussani hat uns bis zuletzt bewiesen, dass diese Fülle des Lebens möglich ist. Denn das Christentum ist imstande, unsere gesamte Menschlichkeit, wirklich ohne jeglichen Abstrich, zu umarmen und sie zur Vollendung zu führen.

Liegt darin nicht letztendlich der Wert von Deus caritas est?
In der Tat! Denn in seiner Enzyklika zeigt der Papst uns, wie die Erfahrung des Christentums in Dialog mit Nietzsche treten kann und wie sie dem Eros gegenübertritt, ohne dem Menschen auch nur den Hauch seiner ihn so stark durchdringenden Sehnsucht zu nehmen. Leider wurde das Christentum in der Vergangenheit immer wieder auf eine Moral verkürzt, ja auf ein ethisch korrektes Gerede. Wir haben das Staunen angesichts des Evangeliums durch Regeln ersetzt, wie Johannes Paul II. sagte. Die Lektüre der Enzyklika versetzt uns wieder in die Möglichkeit darüber zu staunen, welche Neuheit am Anfang von allem stand. So wie damals. Das Staunen angesichts des Evangeliums wird uns neu zum Geschenk gemacht. Wir sehen die Fähigkeit Christi, den Menschen Antwort zu geben, zu verzeihen, wir empfinden seine Zärtlichkeit und können nicht anders als anzuerkennen, nie zuvor einen Menschen getroffen zu haben wie diesen.

Der Beitrag der Bewegung, so schreiben Sie, besteht vor allem in der Herausforderung, zu beweisen, dass es vernunftgemäß ist zu glauben. Wie gehen Sie dabei vor?
Wir müssen gegen diesen Mangel an geistiger Orientierung vorgehen, aufgrund derer viele ihre Sehnsucht nach Glück vergessen haben. Die Teilnahmslosigkeit, welche die Lehrer unter ihren Schülern sehen, als ob diese nicht mehr verstünden, wieso es vernünftig ist zu lernen. Die Probleme in Ehe und Familie. Dem müssen wir ein Christentum entgegenhalten, dem nichts von seiner Natur geraubt wurde. Doch das eigentliche Problem besteht in der Methode. Wir müssen das Christentum so vorschlagen, dass wir zugleich Raum dafür geben, seinen Wahrheitsgehalt zu überprüfen und so beweisen, dass es vernünftig ist, sich ihm anzuschließen.

Es ist also eine Frage der Erziehung?
Die Frage der Erziehung ist für uns sicherlich die dringendste Notwendigkeit. Derzeit schlagen wir wieder überall Giussanis Buch Das Wagnis der Erziehung vor. Wir müssen wieder anfangen zu erziehen, um vom fröhlichen Nihilismus eines Augusto Del Noce zum «cor inquietum», zum unruhigen Herz, des Hl. Augustinus zurückzukehren. Nur etwas Reales und Gegenwärtiges kann uns wieder wachrütteln. Dafür gilt es zu streiten.

Der Papst hat vor kurzem Nihilismus und Fundamentalismus als die zwei Seiten der einen Medaille bezeichnet, die den Menschen bedroht. Wie sehen Sie die Welle antichristlicher Gewalt in einigen islamischen Ländern?
Zunächst dürfen wir die Gefahr dieser Bedrohung nicht unterschätzen. Wir müssen diese Situation aber auch zum Anlass nehmen, das Bewusstsein unserer Identität wieder zu schärfen. Es muss uns klar sein, dass dies der einzige Weg ist, um Zeugnis für das Christentum abzulegen. Dazu hat auch der Papst nach der Ermordung des italienischen Priesters Don Santoro ermuntert: «Möge der Herr bewirken, dass das Opfer seines Lebens dazu beitrage, den Dialog zwischen den Religionen voranzutreiben und den Frieden untern den Völkern zu stärken.» Was natürlich nicht heißt, dass nicht alles unternommen werden müsste, um ein Ausbreiten der Gewalt zu verhindern. Ebenso müssen die Machthaber der einzelnen Länder dazu aufgerufen werden, die Religionsfreiheit zu respektieren, gerade auch durch die internationalen Organisationen.

Wie beobachten Sie die Lage in Italien angesichts der anstehenden Neuwahlen?
Wir erwarten von der Politik nicht, dass sie uns Antwort gibt, auf die tiefgreifende Krise, von der ich eben gesprochen habe. Wir hoffen jedoch, dass die Politik die nötigen Freiräume schafft für all diejenigen Träger der Gesellschaft, die einen Beitrag leisten können, um diesem Missstand entgegenzutreten. Eine Politik, die die Macht des Staates dort einschränkt, wo er den Initiativen aus der Gesellschaft die Beine entziehen würde.

Fürchten Sie keine Offensive des Laizismus, wie sie gerade Ihr Heimatland Spanien erlebt?
Zapatero ist in Spanien auf wenig Gegenwehr gestoßen. In Italien dagegen behaupten sich die einzelnen gesellschaftlichen Gruppierungen und Verbände weitaus stärker gegenüber dem Staat. Aber ein gewisses Risiko dazu besteht ganz sicherlich, wenn wir uns nicht ernsthaft dem Problem der Erziehung stellen. Die beherrschende Kultur Italiens drängt sehr stark nach vorne, wenn es darum geht ihr Ideal vom absoluten Selbstbestimmungsrecht des Menschen durchzudrücken. Wir konnten dies gerade wieder beim Referendum über die künstliche Befruchtung sehen. Daher besteht die Herausforderung für die Bewegung darin, das Vermächtnis, das Giussani uns hinterlassen hat mit Leben zu erfüllen. Indem wir uns dazu erziehen, uns als Söhne zu fühlen und uns ständig neu bekehren. Das ist auch die einzige Möglichkeit, um nicht zu altern.