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Islam - Interview mit Samir Khalil Samir
Eine erzieherische Renaissance wäre nötig
Giorgio Paolucci

Wo beginnen, um dem islamischen Fundamentalismus entgegenzutreten? Auf diese Frage antwortet der Jesuit Samir Khalil Samir, Dozent für Islamkunde an der Saint Joseph University in Beirut und am Päpstlichen Orient-Institut in Rom.

Der Islam steht in Flammen, aber das Feuer schwelt schon lange. Die gewalttätigen öffentlichen Proteste gegen die Mohammed-Karikaturen, der Terrorismus und die Selbstmordattentäter sind das Ergebnis einer Bewegung, die von weither kommt und dabei ist, die muslimische Welt zu vergiften. Man muss schon bis zu den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zurück blicken, um jene lange Welle entstehen zu sehen, die sich islamischer Fundamentalismus nennt. Sie ging von den arabischen Ländern aus und verbreitete sich in der ganzen islamischen und westlichen Welt, wo Einwanderer und ihre Gemeinden von ihr erfasst wurden. Mindestens zwei Faktoren waren an ihrer Entstehung beteiligt: die Enttäuschung über das Scheitern der Entwicklungsmodelle und die Illusion, die vorhandenen Probleme (Armut, technologische und kulturelle Rückständigkeit) könnten mit der magischen Formel einer «Rückkehr zum Islam» gelöst werden.

Schulunterricht
«Aber eine Formel löst kein Problem. Nötig ist eine erzieherische Renaissance, eine Reform, die die Mentalität ändert und die Vernunft wieder ins Zentrum rückt», erklärt Samir Khalil Samir. Stattdessen überwiege «eine wörtliche und mechanistische Auslegung des Koran. Zugleich verschließt man sich gegenüber allem, was für unislamisch gehalten wird. Die Folgen sind verheerend: In der Schule beruht der Unterricht auf dem Wiederholen und Auswendiglernen von Begriffen, anstatt auf logischer Argumentation. Zuhause müssen die Kinder blind und bedingungslos Befehlen gehorchen, nicht etwa Vernunftgründen. In der Gesellschaft fehlen freie Auseinandersetzung und Demokratie.» Zwar haben sich in den letzten Jahren auch liberale Meinungen entwickelt, die für eine offene Auseinandersetzung und moderne Forschungsmethoden eintreten. Allerdings stellen sie eine absolute Minderheit dar. Ihre Vorkämpfer werden zudem oft als Verräter des Islam gebrandmarkt und öffentlich bloßgestellt. Die Vorwürfe reichen bis zum Glaubensabfall und Verrats des Glaubens, was sogar Freiheitsstrafen nach sich ziehen kann. Der Westen sollte sich stärker für ihre Arbeit einsetzen, zumal sie auch die Mentalität beeinflussen kann.

Bildungsarbeit
«Die islamische Welt lebt dem Westen gegenüber mit einem Gefühl, das zugleich aus Anziehung und Ablehnung besteht», erläutert Khalil. «Beim gemeinen Volk spürt man ein verbreitetes Streben nach Freiheit, technischem und wissenschaftlichem Fortschritt, Entwicklung und Demokratie. Dieses Streben ist begleitet von der Missbilligung moralischer Dekadenz einer Gesellschaft, die Gott ablehnt oder ihn als einflusslos betrachtet, und von der Feindseligkeit gegenüber Staaten, die man für schuldig hält, moslemische Völker auszubeuten. Terroristen und Selbstmordattentäter sind extreme Anzeichen dieser Feindseligkeit. Gefährlicher als sie sind aber diejenigen, die sie erzogen haben und die ihre Taten mit Versen des Koran rechtfertigen. Deshalb wird immer offensichtlicher, dass ein wirklicher Wandel bei der Erziehung ansetzen muss, bei einer Bildungsarbeit, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt». Auch deshalb bietet die Anwesenheit von 15 Millionen muslimischen Einwanderern in der Europäischen Union eine gute Gelegenheit. Denn sie können konkrete Erfahrungen mit jenen Werten machen, die das Fundament der abendländischen Kultur bilden und sie sich aneignen. Das fängt bei der jungen Generation an, die in die Schule kommt.

Wertvolle Früchte
«Anstatt euch in der Utopie des Multikulturalismus zu wiegen, müsst ihr entschlossen im Interesse der Integration handeln. Die Achtung vor dem Menschen, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, Gewissensfreiheit, Demokratie, eine authentische Laizität, die Religion und Politik trennt, aber den Wert der religiösen Erfahrung vertritt: Das alles sind wertvolle Früchte, die die Moslems vom Baum Europas ernten können, auch wenn die Wurzeln dieses Baumes durch schuldhafte Vergesslichkeit geschrumpft sind. Die Anwesenheit der Moslems ist deshalb in gewissem Sinn ein Zeichen der Vorsehung. Sie zwingt den Westen das wieder zu entdecken, was ihn kennzeichnet, wenn er überleben und neue Formen des Zusammenlebens schaffen will.»