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CL - Meeting 2006
Die Vernunft ist Bedürfnis nach Unendlichem und gipfelt in der Sehnsucht und Vorahnung, dass dieses Unendliche sich zeigt


Der Titel des 27. Meetings für die Freundschaft unter den Völkern, ist einem Gespräch zwischen Don Giussani und Studenten im Jahre 1992 entnommen und stellt das Problem der Vernunft in den Mittelpunkt.
Die Vernunft ist Bedürfnis nach Unendlichem. Denn ihr entspricht das existenzielle Verlangen des Menschen, die eigene Vorstellung vom Leben nicht innerhalb messbarer Grenzen einzuschränken. Nur wenn sich die Vernunft und alle von ihr abgeleiteten Fähigkeiten auf etwas hin öffnen, das nicht «endlich» ist, und sich deshalb nicht anmaßt, das Maß aller Dinge zu sein, wird sie vollständig zur Geltung gebracht. Nur dann wird ihre Fähigkeit, die Wirklichkeit zu erkennen und sie zu beeinflussen, nicht gedemütigt. Das allein garantiert die Tatsache, dass der Mensch von Natur aus das Verlangen und Bedürfnis hat, sich nach etwas auszustrecken, das unendlich größer ist als er.
Umgekehrt schränkt der Mensch, der sich aus freien Stücken, aus kleinmütigem Selbsterhaltungsdrang oder wegen einer rein rationellen Berechnung nicht dem Unendlichen öffnet, die Tragweite der Vernunft ein. In der selbstherrlichen Anmaßung, alles im Licht der Vernunft erklären zu können, weist er die offensichtliche Tatsache zurück, dass das Unendliche (das Absolute oder das Geheimnis) die gesamte Wirklichkeit durchdringt. Schließlich endet er damit, der Vernunft einen wesentlichen Teil ihrer Erkenntniskraft abzuerkennen.
Das geschieht auch mit den Verirrungen der zeitgenössischen Vernunft, wie sie die Enzyklika Fides et Ratio beschreibt. Angefangen beim Szientismus, der Wissenschaftsgläubigkeit, der sich weigert, «neben den Erkenntnisformen der positiven Wissenschaften andere Weisen der Erkenntnis als gültig zuzulassen», bis hin zum Historismus, der «die Wahrheit einer Philosophie auf der Grundlage ihrer Angemessenheit für eine bestimmte Periode und eine bestimmte historische Aufgabe» definiert und dabei «die ewige Gültigkeit des Wahren» negiert. Schließlich gelangt man zum Nihilismus, dessen «Seinsvergessenheit unvermeidlich den Kontaktverlust mit der objektiven Wahrheit und daher mit dem Grund zur Folge hat, auf dem die Würde des Menschen fußt».
Wenn man der Vernunft aber die «unvermeidliche Bejahung» des Unendlichen abspricht - unvermeidlich, weil notwendig für die Bejahung der Größe der menschlichen Natur -, dann schränkt man die Intelligenz ein und der Rationalismus zersplittert sich in minuziöse Detailanalysen. Damit wird jeder Sehnsucht der Atem genommen, der unabdingbar ist, um sich dem Punkt zu nähern, wo es möglich wird, das unendliche Geheimnis zu verstehen. Die Fähigkeit zur «Vorahnung», die die erhabenste Stufe der Intelligenz darstellt, löst sich in Formen von Wahrsagerei auf. Sie ähneln der Vorahnung zwar, sind aber entleert. Denn die Wahrsagerei oder die Prognosen haben nichts mehr mit jener Fähigkeit zur existenziellen Ergriffenheit zu tun, die der Vorahnung eigen ist.
So wird auch die Erfahrung der Freiheit in ein aseptisches Maß eingeschlossen, während die Freiheit doch «ein großes Aufatmen, ein ausgedehntes und tiefes Aufatmen» ist, das auch «im Leben in begrenzten Räumen» möglich ist, «eben weil der Horizont des Menschen in seiner Beziehung zu den Dingen im Unendlichen besteht» (Don Giussani). Der Höhepunkt der menschlichen Intelligenz besteht gerade darin, dass man die begrenzten Räume durchbricht, in die der Mensch oft zu leben gezwungen wird, indem man sich nach dem unendlichen Geheimnis ausstreckt.
So gipfelt die Vernunft «in der Sehnsucht und in der Vorahnung, dass das Geheimnis sich offenbart». Damit überschreitet die menschliche Intelligenz ihre eigene Grenze. Die Sehnsucht ist eine Art und Weise, die Dinge voller Erwartung, Verlangen und Ergriffenheit zu empfinden. Aber die Sehnsucht kann nur ein von Melancholie verschleiertes Verlangen sein. Die Sehnsucht ist durchbohrt vom «Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können».
Die Vorahnung ist die positive und befreiende Fähigkeit, wahrzunehmen, dass die Wirklichkeit zeichenhaft ist und auf etwas anderes hinweist. Zuweilen gelingt es uns, sie zu interpretieren. Oft aber ist uns dies nicht gegeben. Doch muss die Vernunft darunter nicht leiden, solange sie sich darauf einlässt, zu erkennen, dass es jenseits der Wirklichkeit «etwas anderes gibt», von dem die Wirklichkeit das sichtbare Zeichen ist.