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Aufmacher
Nicht die abstrakte Überlegung lässt einen wachsen und weitet unseren Blick, sondern die Begegnung mit einem Menschen, der die Wahrheit erkannt hat und sie bezeugt
Giancarlo Cesana und Julián Carrón

Mitschrift der Beiträge von Giancarlo Cesana und Don Julián Carrón auf dem Eröffnungstag von CL der Lombardei.
Mailand, 30. September 2006

Julián Carrón: Wir alle sind uns unserer Bedürftigkeit und unserer ungeheuren Zerbrechlichkeit bewusst. Deshalb wollen wir zu Beginn des neuen Jahres um die Kraft des Geistes bitten.

Komm, Heiliger Geist

Giancarlo Cesana: Wir stehen noch ganz unter dem Eindruck der Vorlesung des Papstes in Regensburg und der teilweise auch gewalttätigen Protestreaktionen. Sie kamen nicht nur von Seiten islamitischer Fundamentalisten, sondern von den Liberalen der New York Times und den so genannten «politisch Korrekten» Europas. Sie verweigerten dem Papst jegliche Solidarität (wie übrigens auch das italienische Parlament). Carrón sagte: «Die Freiheit ist eine seltene Ware» (das kann auch unter uns so sein), und wir sind zurecht entrüstet über diese Haltungen.
Aber wir dürfen nicht vergessen, dass gerade das Meeting über die Vernunft hinter uns liegt. Es ging also gerade um das zentrale Thema, über das der Papst gesprochen hat. Und dem müssen wir angemessen Rechnung tragen. Wir haben dort gesagt, dass die Vernunft Gott, das Unendliche braucht, denn der Vernunft liegt die schöpferische Intelligenz Gottes zugrunde. Ohne den Glauben hat die Vernunft keinen Bestand. Umgekehrt gilt für den Glauben, dass er auf der Vernunft gründen muss.
Der Grund, weshalb die Rede des Papstes nicht nur bei extremen Demokratiegegnern, sondern auch bei den Verfechtern extrem demokratischer Positionen auf solchen Unmut stieß, ist klar. Erstens hat der Papst den einen gesagt, dass sie aus Gott nicht das machen können, was sie wollen; und an die Adresse der anderen, dass Gott mit allem zu tun hat – also auch damit, wofür man sein Geld ausgibt, mit der Politik, der Kultur, mit den ganz alltäglichen Interessen.
Die Vernunft lässt sich natürlich mit Worten beschreiben. Sie zeigt sich aber zuerst in einem Leben, das angemessen auf die Wirklichkeit antwortet. Ich möchte jetzt einige Beiträge der Diözesandiakonie aufgreifen, in denen diese Beobachtungen deutlich werden. Unser Freund Ugo hatte die Geschäftsführer seiner Firma auf das Meeting eingeladen und war zusammen mit ihnen dorthin gefahren. Sie waren dort vor allem von einer Menschlichkeit überrascht, von einer Erfahrung, einer Art und Weise, das Leben anzugehen. Die Vernunft äußert sich in der Beziehung zur Wirklichkeit. Sie zeigt sich in einer Art und Weise, das Leben zu leben, die für uns schon selbstverständlich geworden ist. Wie es Don Giussani in Von der Utopie zur Präsenz sagt, laufen wir Gefahr, nicht mehr ursprünglich zu sein, sondern reaktiv, so als würde das, was passiert, uns plötzlich aus einer Narkose aufwecken. Anders gesagt: Bis zu einem gewissen Augenblick gab es uns nicht, bis plötzlich etwas passiert ist, das den Anspruch erhebt, dass es uns gibt. Und nicht wir sind es, die bestimmen, dass sich diese Veränderung ereignet hat, sondern das, was geschieht. Aber ein rein reaktives Christentum, so sagt Tiziana, ist ein Narkosemittel. Es betäubt die Wunde, die wir in uns tragen, es betäubt die drängende Frage, weswegen wir Christus, der Kirche beziehungsweise der Bewegung nachgefolgt sind; es betäubt die drängende Frage, die uns der Menschlichkeit nachfolgen ließ, mit der Gott auf uns zugegangen ist. Gott ging auf unsere Menschlichkeit zu, um uns davor zu bewahren, unser Herz zu betrügen, so ergänzt Tiziana. Wir sollen uns nicht betäuben lassen. Wir sollen nichts zensieren. Wir sollen uns nicht etwas wegnehmen lassen, worauf wir ein Recht haben. Das heißt Gott will, dass wir Protagonisten sind in der Welt, in der wir leben. Die Verheißung, die das Leben beinhaltet, soll uns nicht betrügen – bei allen Schwierigkeiten, die das Leben mit sich bringen kann oder die mit unserem Herzen verbunden sind.
Der Wissenschaftsphilosoph Karl Popper, der sich mit der Theorie der experimentellen Methode auseinandergesetzt hat, die von einer reinen Beobachtung der Phänomene ausgeht, hat Folgendes deutlich gemacht: Damit die Wissenschaft Fortschritte machen kann, reicht Beobachtung alleine nicht aus. In der Tat kann man etwas beobachten und doch nicht sehen, nicht wahrnehmen, was passiert. Das sagt auch Jesus im Evangelium, wo er vom Reichen spricht, der ihn darum bittet, Lazarus wieder aufzuerwecken. Er bittet darum, damit seine Verwandten die Möglichkeit hätten, sich zu bekehren, wenn sie jemanden sehen würden, der von den Toten wieder auferstanden ist: «Wenn sie nicht auf Moses und die Propheten gehört haben, dann werden sie auch nicht glauben, wenn einer von den Toten auferstanden ist» . Man kann eben sehr wohl etwas beobachten und doch nicht sehen. Es bedarf einer Intuition, eines Genies (darüber hat Carrón auch beim Treffen der Verantwortlichen in La Thuile gesprochen ), damit jemand das sieht, was vor aller Augen steht, während die anderen aber anscheinend mit Blindheit geschlagen sind. Ein Genie ist jemand, der – so hat es Don Giussani immer definiert – das sieht, was ist, und die anderen, die es nicht sehen, daran teilhaben lässt.
Dazu bedarf es einer Menschlichkeit, der Menschlichkeit, die darauf gründet «Christus ‚zu lernen» (Eph 4, 20), wie der Papst bei der Mittwochsaudienz am 6. September sagte. «Das bedeutet nicht nur und nicht so sehr seine Lehren und Worte zu hören, sondern vielmehr ihn selbst in seiner Person kennen zu lernen […]. Er ist tatsächlich nicht nur ein Meister, sondern ein Freund, sogar Bruder».
Eine Bekannte, die nicht an Gott glaubt, sagte unserem Freund Claudio: «Das, was ich mir wünsche, ist diese Menschlichkeit». Und ein Taxifahrer bemerkte ihm gegenüber: «Euer Christentum gefällt mir; mit eurem Christentum geht es einem besser», das heißt, es lässt einen Mensch sein. Der Papst sagte in seiner Audienzansprache weiter: «Man darf nicht vergessen, dass sich nach dem, wie es Markus beschreibt, Jesus die Zwölf vor allem deshalb erwählt hat, damit sie ‚mit ihm zusammen blieben‘» (Mk 3, 14).
Sinn und Zweck der Bewegung ist es, dass wir bei Jesus zusammen sind, mit ihm das Leben teilen. Auch wir brauchen das und zwar durch unsere Freundschaft: mit Jesus das Leben teilen, bei ihm sein. Das heißt nicht, dass wir uns aus einer Berechnung heraus, die man auch mit politischem Kalkül gleichsetzen könnte, dem anderen anpassen, sondern dass wir einen ständigen Vergleich mit unserem Leben anstellen – wie Cesare betonte –, der uns dem folgen lässt, was sich ereignet, und nicht dem, was wir uns vorstellen, oder von dem wir denken, dass es passieren müsste, wie Don Mauro ergänzte.
Das Christentum – so Raffaello – ist keine gute und unanfechtbare religiöse Eingebung von Leuten, die sich dann vom Leben nehmen, was ihnen gefällt, als wären sie im Supermarkt. Zunächst einmal ist das Leben kein Supermarkt. Vor allem aber ist das Christentum ein Urteil, das aus einer Zuneigung und Barmherzigkeit heraus gesprochen wird. Gerade deswegen ist es aber auch eine Einladung zur Veränderung. Man kann nicht miteinander das Leben teilen, ohne sich zu ändern. Will man es noch genauer sagen und einen christlichen Terminus verwenden, dann sprechen wir von Bekehrung. Um unserer Zerbrechlichkeit entgegenzuwirken, schlägt uns Gott vor, unser Leben mit anderen zu teilen, er schlägt uns eine erfahrbare Einheit mit dem «Strom» seiner Freundschaft in der Welt vor: mit der Kirche, dem «Strom» der Freundschaft Gottes in der Welt.
Es gibt noch eine letzte Schwierigkeit, die den Kern der Frage betrifft, auf die Carrón gleich eingehen wird: «Warum leben wir Erwachsenen (wie Michele beobachtete) nach vielen Jahren, die wir ein bewusst christliches Leben geführt haben, nicht noch mehr aus der Haltung des Bettlers heraus? Warum verstärkt sich nicht die Haltung der Bitte, sondern ein Anspruch? Warum – so fragte Fabio und griff dabei den Satz von Don Giussanis Mutter auf, den uns Don Giussani so oft in Erinnerung gerufen hat – warum passiert es uns, dass wir sagen: «Wie schön ist die Welt!», und gleichzeitig tun wir uns schwer zu sagen: «Wie groß ist Gott!»? Oder anders gesagt: Warum tun wir uns schwer, anzuerkennen, dass nicht wir die Welt geschaffen haben, dass uns alles gegeben ist?
Ich möchte in diesem Zusammenhang eine kurze Passage aus dem Buch Ein Mensch von Oriana Fallaci aufgreifen, die auch Don Giussani zitiert hat: «Die bittere Entdeckung, dass Gott nicht existiert [Oriana Fallaci war Atheistin], hat das Wort Bestimmung ausgelöscht. Aber es ist arrogant, die Bestimmung zu leugnen. Es ist verrückt, behaupten zu wollen, dass wir die einzigen Schöpfer unserer Existenz sind. Wenn du die Bestimmung leugnest, wird das Leben zu einer Reihe verpasster Gelegenheiten: du trauerst dem nach, was nicht geschehen ist, aber hätte sein können. Dich quält dein schlechtes Gewissen wegen all der Dinge, die du nicht getan hast, aber hättest tun können. Und so verschwendet man den gegenwärtigen Moment, indem man ihn einmal mehr zu einer verpassten Gelegenheit werden lässt.»
Es fällt uns also nicht nur schwer zu sagen: «Wie groß ist Gott!», sondern auch: «Wie schön ist die Welt!» Aber genau das müssten wir jeden Tag sagen – schon beim Aufstehen. Denn wie kann man einen Tag beginnen, ohne die Welt zu lieben? Wir brauchen eben Gott; wir brauchen seine Freundschaft.
Wenn wir heute hierher gekommen sind, dann weil wir uns wieder diese Spannung wünschen, die die Haltung des Bettelns ausmacht.

Julián Carrón: Ein Freund von uns, der Doktorand an einer der besten Universitäten Amerikas ist, erzählte mir neulich, dass er von seinen Studenten in einer Evaluation die besten Noten bekommen habe. Der Professor, der ihm das Ergebnis mitteilte und der normalerweise sehr zurückhaltend ist, was Komplimente anbelangt, sagte zu ihm, er habe nach vielen Jahren an der Universität noch nie so gute Noten gesehen. Viele der Kollegen hätten da regelrechte Luftsprünge gemacht, aber ihn berühre das irgendwie gar nicht. Es war, als wenn diese Tatsache nicht seine ganze Person ergreifen konnte, da er gerade einen schwierigen Moment durchmachte. Der Professor bemerkte das sofort und fragte ihn: «Geht es dir gut? Ist alles O.K.?» Als ich das hörte, kam mir ein Satz Jesu in den Sinn: «Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, wenn er dann sich selbst verliert oder ruiniert?» Gerade in solchen Momenten begegnet uns das Leben in seinem ganzen Verlangen nach Antwort. Hier zeigt sich das Wesen des Ichs, das, was das Herz ausmacht. Denn das Herz ist Bedürfnis nach Totalität. Quid animo satis? Heute Morgen musste ich wieder an diese Erfahrung unseres Freundes denken und ich fragte mich: «Wer bist du, o Christus, wer bist du, dass, wenn du fehlst, der ganze Rest, ja die ganze Welt nicht ausreicht?» Das liegt daran, dass Christus nicht etwas ist, was dazukommt, er ist auch nicht einfach das Wichtigste: Christus ist etwas Anderes, er ist der Eckstein, der Schlussstein, in dem man die Entsprechung finden kann, für die es zu leben lohnt.
Diese Erfahrung lässt uns wirklich verstehen, worum es im Leben geht, worum es sich beim Drama unseres Lebens dreht: Es geht um die Alternative zwischen Christus als Gegenwart, der fähig ist, unser Herz zu gewinnen und von ihm Besitz zu ergreifen, oder dem Nichts. Denn nichts ist fähig, unser Herz so zu erobern, nichts entspricht so wie Christus. Vor diesem Hintergrund ist es uns möglich, das Bedürfnis zu verstehen, das wir in uns tragen und «Vernunft» nennen. Die Vernunft ist nicht etwas Abstraktes, sondern das Bedürfnis nach vollkommenem Sinn, das wir in uns tragen. Und das gilt so sehr, dass wir die ganze Welt gewinnen können, und uns dies dennoch nicht genügt.
Wenn die Vernunft nicht eine Frage des Verstandes ist, sondern dieses Bedürfnis nach einem Sinn in allem, das wir in uns tragen, dann ist die Diskussion, die der Papst in Regensburg angestoßen hat, nicht etwas für «Experten», Philosophen, große Denker, so genannte Meinungsmacher, sondern etwas, das alle und das ganze Leben betrifft. In der letzten Zeit kam mir immer wieder folgender Gedanke, den ich auch bei verschiedener Gelegenheit geäußert habe: Es war ein schöner Gestus, als wir den Text der Regensburger Vorlesung verteilt und uns damit auf die Seite des Papstes gestellt haben. Viele waren sehr dankbar für diese Initiative, wie die Tausende von Exemplaren zeigen, die wir in der Universität und in den Pfarreien verteilten. Die allermeisten nahmen den Text gerne entgegen und etliche kamen nochmals zurück und baten um weitere Exemplare. Dieser Kampf für ein wahres Verständnis von Vernunft bestimmt unsere Geschichte von Anfang an. Dieser Kampf für eine Vernunft als Bedürfnis nach einem umfassenden Sinn, der uns als Menschen ausmacht, hat in dem Moment begonnen, als Don Giussani das Berchet betrat.
Aber auch die Tatsache, dass wir diesen Gestus gelebt haben – beziehungsweise es immer noch tun – genügt nicht. Wir können uns nicht auf dieser Aktion ausruhen, denn der Aufruf des Papstes geht zuerst uns selbst an, es ist ein Aufruf an uns. Denn wir können in der Tat folgendem Paradox unterliegen: Einerseits können wir ein richtiges Verständnis von Vernunft besitzen, aber im ganz normalen Alltag ein völlig anderes anwenden; wir folgen dann einer Vorstellung von Vernunft, die genau das Gegenteil von dem ist, was der Papst verteidigt hat: Wir folgen einem rationalistischen Begriff von Vernunft, der das Gegenteil von dem ist, was wir verteidigt haben.
Dass das nicht nur eine theoretische Möglichkeit ist, sieht man an dem, was wir vorher gesagt haben. Oft fällt es uns leicht zu sagen: «Wie schön ist die Welt!», aber wir tun uns schwer, gleichzeitig zu sagen: «Wie groß ist Gott!». Daran erkennen wir, dass wir die Vernunft oft so gebrauchen wie alle anderen. Es genügt sich zu fragen, wann wir das letzte Mal – und zwar nicht bei einer Meditation oder bei den Laudes, sondern in der alltäglichen Wirklichkeit unseres Lebens – gesagt haben: «Wie groß ist Gott!»? Wann ist es passiert, dass wir angesichts der Wirklichkeit, als wir bei irgendeinem Ereignis oder einem Gestus dabei waren, nicht beim Schein stehen geblieben, sondern zu dem Punkt gekommen sind, dass wir über den staunen mussten, der diese Wirklichkeit hervorgebracht hat? Denn wenn jemand diese beiden Aussagen («Wie schön ist die Welt» und «Wie groß ist Gott!») voneinander trennt, dann gebraucht er eine Vernunft, die beim Schein stehen bleibt, er wendet ein rationalistisches Verständnis von Vernunft an. Es ist nicht so, dass wir nie sagen würden: «Wie groß ist Gott!», aber wir sagen es, als wollten wir es noch auf die Wirklichkeit «draufklatschen», während es den innersten Kern der Wirklichkeit ausmacht.
Deswegen können wir für den Papst nicht nur dadurch Partei ergreifen, dass wir uns darauf beschränken, seine Rede unter die Leute zu bringen. Wir verteidigen den Papst, indem wir ihm folgen, das heißt, indem wir die Vernunft gemäß ihrer wahren Natur anwenden: als Bedürfnis nach vollkommenem Sinn. Das kann uns und anderen die Tragweite der Rede des Papstes deutlich machen.
Worin besteht der Unterschied zwischen diesen beiden Alternativen: die Vernunft gemäß ihrer wahren Natur beziehungsweise sie auf rationalistische Art und Weise zu gebrauchen? Wir müssen den Unterschied verstehen, sonst leben wir, wie ich schon sagte, die Vernunft wie alle anderen, während wir gleichzeitig ein richtiges Verständnis von Vernunft verteidigen. Den Unterschied erkennt man daran, wie wir die Dinge, die Umstände unseres Lebens leben. Oft ist es so, dass uns die Wirklichkeit erstickt, obwohl wir ein richtiges Verständnis von Vernunft verteidigen. Wir ersticken in unserer Zelle, in der Zelle des Umstandes, in der Zelle der Arbeit, der Familie – genauso wie alle anderen. Aber so verteidigen wir den Papst nicht wirklich. An der Seite des Papstes zu «kämpfen», heißt allen zu bezeugen, vor allem uns selbst, dass ein wahrer Gebrauch der Vernunft das Leben verändert, das er der Wirklichkeit mehr entspricht, so dass uns die Wirklichkeit nicht den Atem nimmt, weil sie den Bedürfnissen des Herzens entspricht.
Ich möchte einen Brief vorlesen, der genau diesen Punkt verdeutlicht: «Ich bin seit fast einem Jahr verheiratet, Ende November wird unser erstes Kind zur Welt kommen. Seit August bin ich in Mutterschutz und so bin ich in meinem täglichen Tun ziemlich eingeschränkt. Die Tage scheinen leerer zu werden, nicht nur, weil weniger Dinge zu tun sind, sondern – und genau das kostet mich auch am meisten Mühe –, sondern auch weil ich nicht wirklich einen Sinn darin sehe [auch wenn jemand nicht arbeiten geht und zu Hause ist, ist er Bedürfnis nach Sinn]. Oft stehe ich morgens auf und mir kommen sofort die Tränen, weil mein erster Gedanke ist, dass wieder ein unnützer und langweiliger Tag in meinen vier Wänden vor mir liegt. Das Einzige, was mir als Aufgabe geblieben ist, ist eine total langweilige Fortbildungsmaßnahme für die Schule. Aber da ist einerseits wenig zu tun, andererseits ist das, was ich tun muss, alles andere als spannend. So fühle ich mich am Abend oft leer und bin im Grunde traurig. Was mich erstaunt hat, ist, dass mein Mann seit einiger Zeit genau dieselbe Leere empfindet. Bestimmte Umstände haben sich bei ihm in der Arbeit geändert und jetzt ist er nicht mehr mit derselben Leidenschaft bei der Sache wie früher und das, was er von morgens bis abends tun muss, gefällt ihm nicht mehr. Es tut wirklich weh, wenn man feststellt, dass es so wenig bedurfte, dass wir nicht mehr die Fülle wahrnehmen, die die Bewegung in unser Leben gebracht hat. Das Problem liegt so offensichtlich nicht in den Dingen, die wir zu tun haben, seien es nun wenige oder viele, wenn am Ende dieselbe Erfahrung steht: dass wir im Grunde unbefriedigt sind. Uns ist klar, dass das Problem nicht zuallererst darin besteht, dass wir die Umstände ändern, sondern dass wir die Fragen ernst nehmen, die sich uns in dieser Zeit besonders gestellt haben: Wer oder was erfüllt meinen Tag? [Das ist die Vernunft, das Bedürfnis, das wir in uns tragen] Wohin bewege ich mich und mit wem? Mit anderen Worten: Was heißt es, die Wirklichkeit in den alltäglichen Umständen – seien sie nun schön oder mühsam – intensiv zu leben? Da wir jetzt bald den Eröffnungstag haben, war es mir ein Anliegen, dir diese Frage zu stellen.»
Wir können in den Umständen untergehen. Diesen Brief hat jemand geschrieben, der aus unserer Erfahrung kommt; diesen Brief schreibt jemand von uns, den schreiben wir. Und viele werden sich vielleicht darin wiederfinden, auch wenn die Umstände anders ausschauen. Daran erkennt man, was es heißt, dass es nicht ausreicht, den Papst zu verteidigen, vielmehr erkennt man, dass das Problem, das der Papst aufgezeigt hat, zuallererst uns bewusst ist.
Seit letztem Jahr beschäftigen wir uns eingehender mit dem Thema der Erziehung. Wir selbst brauchen Erziehung, das heißt eine Einführung in die Gesamtheit der Faktoren in der Wirklichkeit. Und ich hoffe, dass wir das nicht damit verwechseln, auf der Ebene der Theorie Experten in Sachen Erziehung zu sein. Selbst wenn es die «Theorie» Don Giussanis wäre, wäre das nicht genug, denn das, was wir brauchen, beschränkt sich nicht allein darauf. Wir brauchen Menschen, die sich dazu haben erziehen lassen, die Wirklichkeit gemäß der Gesamtheit ihrer Faktoren zu leben, Personen, die uns in den Sinn, die Bedeutung der Wirklichkeit einführen dadurch, dass wir das Leben mit ihnen teilen.
Wir haben versucht, das beim Meeting in Rimini zu thematisieren: Die Vernunft ist Bedürfnis nach dem Unendlichen. Deswegen reicht es nicht, sich eine neue «Zelle» zu suchen, um noch mal die Formulierung Kafkas aufzugreifen , oder darauf zu warten, dass sich die Umstände ändern: Den Umständen werden immer Grenzen gesetzt sein. «Die Vernunft ist das Bedürfnis nach dem Unendlichen und sie gipfelt im Seufzer und der Vorahnung, dass es sich offenbart». Der Vernunft genügt nicht, was sie sieht, ihr genügt nicht die Schönheit der Welt: Sie ist Bedürfnis nach Anderem, nach dem Unendlichen, nach der Größe Gottes, ohne die sie nicht weiter bestehen kann. Wir finden in uns diesen Seufzer vor, dieses menschliche Drängen, diese Ahnung, dass sich das Unendliche offenbart.
Was für ein Weg noch vor uns liegt, erkennen wir daran, dass wir uns schwer tun, die Vernunft angemessen zu gebrauchen. Aber vor uns liegt ein ganzes neues Jahr, in dem wir uns dabei helfen können. Die Mühe, von der unser Freund sprach, als er sagte «Es ist leicht für uns zu sagen: ‚Wie schön ist die Welt!’, aber wir tun uns schwer damit zu sagen ‚Wie groß ist Gott!’», zeigt sich in vielen Umständen.
Diesen Sommer haben wir unseren Freund Sotoo zur Internationalen Versammlung der Verantwortlichen in La Thuile eingeladen . Als er zum Ende seines Zeugnisses kam, sagte er, dass für ihn dieser Ort, an dem er sich gerade aufhielt, wie das Paradies war. Unwillkürlich fragte ich mich: Wie viele werden in derselben Situation dieselbe Erfahrung wie er gemacht haben? Viele hatten mir in der Tat gesagt, dass diese Tage sie sehr bewegt hätten. Und so habe ich am Ende der gemeinsamen Tage gefragt: «Wie viele von euch haben mir gesagt, dass sie diese Tage bewegt haben, aber wie viele von euch haben „Du“ zu Christus gesagt?» Das ist dasselbe. Wir können sagen «Wie schön ist die Welt!» oder «Wie schön es doch ist, wenn wir zusammen sind» und können bewegt sein, aber wie viele kommen dahin, dass sie «Du» sagen, Seinen Namen aussprechen?
Vorgestern Abend war ich bei einigen Jugendlichen von GS eingeladen, wo dasselbe passiert ist: Auch sie haben den Papst verteidigt, aber dann hat einer sich gemeldet und gesagt: «Aber ich gehe im Chemieunterricht unter.» Es ist immer so.
Wie können wir also aus dieser Schwierigkeit herauskommen, der Schwierigkeit, die wir damit haben, Ihn als gegenwärtig anzuerkennen, das heißt, die Vernunft gemäß ihrer Natur zu verwenden, der Fähigkeit, sich der Wirklichkeit gemäß aller ihrer Faktoren bewusst zu werden? Denn ohne dies, ohne Ihn anzuerkennen, ohne beim «Du»-sagen anzulangen, können wir nicht atmen. Wie also lernen wir, die Vernunft gut zu gebrauchen? Es bedarf keiner Strategie, auch nicht des Besuchs der philosophischen Fakultät. Der Papst hat klar gesagt, was das Ziel seiner Vorlesung in Regensburg war: die «Ausweitung unseres Vernunftbegriffs und -gebrauchs» Und wie ist diese Ausweitung der Vernunft möglich?
Don Giussani schreibt dazu im Vorwort zu Am Ursprung des christlichen Anspruchs: «Nicht die abstrakte Überlegung lässt einen wachsen und weitet unseren Blick [daher ist es keine abstrakte Strategie, die den Geist und die Vernunft ausweitet], sondern die Begegnung mit einem Menschen, der die Wahrheit erkannt hat und sie bezeugt.» Es ist eine Fülle von Menschlichkeit vor unseren Augen. Don Giussani sagt: «Dies ist die Umkehr der Methode, die den Schritt vom religiösen Sinn zum Glauben kennzeichnet: Es geht nicht mehr um eine Suche voll von Unbekannten, sondern um die Überraschung über ein Faktum, das in der Menschheitsgeschichte geschehen ist.»
Allein die Überraschung einer Tatsache ist in der Lage, unsere Vernunft zu erweitern. Was uns erzieht ist ein Ereignis. Es ist die Teilnahme an einem Ereignis, das fortwährend in der Lage ist, unser Maß zu sprengen. Weil wir eine Erfahrung des gegenwärtigen Geheimnisses machen, benutzen wir die Vernunft gemäß der Natur des Geheimnisses, wie der Papst gesagt hat. Aber dafür bedarf es nicht nur des religiösen Sinns, sondern des Glaubens, es bedarf eines gegenwärtigen Ereignisses.
Es ist ein Ereignis, das uns erzieht, und es ist grundlegend, dass wir uns dabei helfen, dies zu verstehen. Daher sind unsere Treffen Gesten und nicht bloß Worte. Nicht abstrakte Überlegungen weiten den Verstand, sondern die Teilnahme an einem Ereignis (daher hoffe ich, dass ihr nachher nicht weggeht, sondern zur heiligen Messe bleibt, denn die Messe ist Teil des Gestus). Es handelt sich nicht um ein Problem der Fähigkeit oder der Schlauheit. Wir sind armselige Leute. Einzig wenn wir uns wie Bettler in einen Gestus einbeziehen lassen, wenn wir wie armselige Leute zum Kommunionempfang treten, um die Kraft eines Anderen zu empfangen, können wir atmen. Christus ist in der Tat dafür gekommen, um diesen Gebrauch der Vernunft zu erleichtern, um ihn auszuweiten.
«Einige Zeit später ging er in eine Stadt namens Naïn; seine Jünger und eine große Menschenmenge folgten ihm. Als er in die Nähe des Stadttors kam, trug man gerade einen Toten heraus. Es war der einzige Sohn seiner Mutter, einer Witwe. Und viele Leute aus der Stadt begleiteten sie. Als der Herr die Frau sah, hatte er Mitleid mit ihr und sagte zu ihr: Weine nicht! Dann ging er zu der Bahre hin und fasste sie an. Die Träger blieben stehen und er sagte: Ich befehle dir, junger Mann: Steh auf! Da richtete sich der Tote auf und begann zu sprechen und Jesus gab ihn seiner Mutter zurück. Alle wurden von Furcht ergriffen; sie priesen Gott und sagten: Ein großer Prophet ist unter uns aufgetreten: Gott hat sich seines Volkes angenommen.» Weshalb denken sie an Gott? Warum können sie nicht bei dem stehen bleiben, was sie sehen? Das Ereignis, das sie vor sich haben, verhindert, dass sie sich in ihrem eigenen Maß verschließen. Dies erleichtert die Ausweitung der Vernunft bis hin zum Anerkennen Gottes, zur Verherrlichung Gottes.
Aber dies ist die fortdauernde Methode. In allen Augenblicken können wir den christlichen Glauben verifizieren, denn der christliche Glaube ist nicht die Fortführung Seiner Reden. Wenn es den Glauben gibt, dann deshalb, weil fortwährend das Ereignis Seiner Gegenwart unter uns geschieht. Das Christentum ist entweder ein Ereignis, was geschieht oder es hat seine Natur geändert, das heißt es ist kein Christentum. Es geht nicht nur darum, den Ausdruck „das Christentum ist ein Ereignis“ zu verwenden. Es ist nicht deshalb ein Ereignis, weil ich es sage, sondern es ist Ereignis, wenn es sich ereignet. Wir können nicht mit Formeln oder Etiketten voran kommen: Es ist ein gegenwärtiges Ereignis!
Wie ich schon bei verschiedenen Gelegenheiten gesagt habe, bin ich aufrichtig erstaunt, wie viel sich unter uns im letzten Jahr ereignet hat. Aber es bedarf eines Ichs, welches dies anerkennt. Es bedarf jener «menschlichen Genialität», von der Don Giussani sprach und an die wir in La Thuile erinnert haben, jener Einfachheit des Geistes, die zulässt, dass wir uns von dem berühren lassen, was sich ereignet. Oft sind wir wegen anderer Dingen besorgt und nicht daraufhin geöffnet, das aufzunehmen, was sich ereignet. Unsere Gedanken und Meinungen erscheinen uns nützlicher, intelligenter als das, was sich ereignet. Aber die Wirklichkeit ist dickköpfig und, wie Pavese sagte, «der entschlossenste Gedanke ist nichts gegenüber dem, was sich ereignet.»
Schaut, was sich ereignet, wenn diese Bereitschaft, sich berühren zu lassen, vorhanden ist: «Ich möchte dir danken, denn diese Tage sind eine bevorzugte Gelegenheit gewesen, mir bewusster zu werden, wer ich bin und wem ich zugehöre», schreibt mir ein Student. «Wenn ich mit dir zusammen bin, kommt dies mit immer größerer Klarheit zum Vorschein. Vor einigen Wochen habe ich begonnen, Am Ursprung des christlichen Anspruchs wieder zu lesen und ich war beeindruckt von dem, was Don Giussani im Vorwort schreibt: ´Nicht die abstrakte Überlegung lässt einen wachsen und weitet unseren Blick, sondern die Begegnung mit einem Menschen, der die Wahrheit erkannt hat und sie bezeugt.´ Dies ist mir widerfahren. Ich bin gewachsen, ich bin erfahrener in das Leben zurückgekehrt, erfahrener in Bezug auf mich selbst, und zwar nicht, weil ich etwas Neues in einem Vortrag gehört habe, sondern weil ich jemanden getroffen habe, der mich in diese absolute Neuheit eingeführt hat. Daher bin ich noch sicherer geworden, dass der einzige Weg um Christus mehr zu entdecken, kennen zu lernen und sich tiefer in ihn zu verlieben, diese neugierige Nachfolge ist. Dies wird möglich durch jene, die mich Ihn in der Wirklichkeit als lebendige Wirklichkeit entdecken lassen. Danke für die Erziehung, die du mir anbietest. Es ist die einzige Möglichkeit, nicht dem Nichts zu unterliegen.»
Ein anderer schreibt am Ende der Équipe des CLU: «Lieber Julián, ich bin mit der Erwartung einer Veränderung hierher gekommen und von Anfang an habe ich verstanden, dass die Herausforderung, die du am ersten Abend gestellt hast, tatsächlich mir zugedacht war. Beim Abendessen am ersten Abend und dann bei der Einführung hast du gesagt, dass wir entweder hier seien, um besser ´funktionierend´ nach Hause zurückzukehren, oder um mit einer größeren Gewissheit darüber zurückzukehren, dass der eingeschlagene Weg derjenige ist, auf dem sich tatsächlich die Erfüllung unserer Sehnsucht nach dem Unendlichen verwirklicht. Heute, fast am Ende unserer Équipe, muss ich zugeben, dass Christus siegt. Er siegt, da er nicht aufhört, die Initiative zu ergreifen, er hört nicht auf, mich zur Anerkennung seiner gegenwärtigen Gegenwart aufzurufen. Als du heute Morgen zu uns gesprochen hast, habe ich den Widerhall des gegenwärtigen Christus verspürt, den Widerhall einer Gegenwart, mit der ich jeden Augenblick in Beziehung sein kann. Mich hat besonders der letzte Satz der Versammlung beeindruckt, wo du sagtest, dass ich im Namen der christlichen Moral das Unmoralischste tun könnte, nämlich mich nicht mehr von Ihm anziehen zu lassen. Ich konnte mein Nichts nicht zum Einwand machen, denn Er ist da. Dies zu sagen bedeutet ein Wunder, dem sich nicht einmal meine Trockenheit hat widersetzen können. Als ich nach draußen ging, habe ich die Stille als meine, zutiefst meine Stille empfunden, denn ich wollte nichts verlieren und weiterhin in Beziehung mit Ihm bleiben. Auch als ich vor dem Saal mit meinen Freunden sprach, wollte ich kein Wort aussprechen, bei dem sich mein Herz von Seiner Gegenwart gelöst hätte. Ich ersehne jetzt, dass jeder Augenblick meines Lebens Stille sein möge, das heißt Gedächtnis, Beziehung zu Ihm.»
Weshalb möchte jemand die Stille leben und diese Beziehung zu Ihm nicht verlieren, weshalb möchte er das Gedächtnis leben? Einzig, weil Christus wie niemand anders den Bedürfnissen und Sehnsüchten des Herzens entspricht. Das dies für alle ist, auch für jene, die nicht in La Thuile waren, sieht man an folgendem Brief, den ein Mädchen an einen Freund schrieb: «Ich habe dich nur angerufen, um dir zu sagen, dass ich den Text der Internationalen Versammlung der Verantwortlichen, Gedächtnis. Methode des Ereignisses, erneut lese. Ich fühle eine vollständige Entsprechung, die so weit geht, dass ich mich bisweilen von der Lektüre losreißen muss, denn ich schaffe es nicht, noch mehr zu aufzunehmen. In diesen Momenten verstehe ich, weshalb Jesus – wie mir gesagt wurde – sich in der Zeit geoffenbart hat: Die Jünger hätten niemals die volle Tragweite seiner Gegenwart auf einmal ertragen können. In manchen Momenten berühre ich mit meinen Händen die Grenzen und die Größe Gottes.» Etwas, was sich ereignet, erlaubt es, die Größe Gottes mit den Händen zu berühren. Dies ist etwas anderes als Gedanken!
Eine andere Person, die unsere Reise nach Südamerika sehnsüchtig erwartete, schreibt mir: «Bevor du angekommen bist, habe ich mich oft gefragt, was ich mir im Tiefsten von deinem Besuch erwartete, was ich ersehnte. Die einzige Antwort, zu der ich gelangen konnte, war, dass das, was mich wirklich befriedigt, dasjenige ist, was Don Giussani in Mir scheint, dass sie nicht Christus suchen gesagt hat. Das, was ich ersehnte, war dies. Don Giussani unterstreicht: ´Aber wenn einer den Inhalt des Bewusstseins aller vergangenen Tage mit sich trüge, aller Jahre, die er im Gruppo Adulto oder der verifica oder der Bewegung verbracht hat? Ich weiß nicht, ob wir uns nicht von einer Decke von Scham eingehüllt fühlen würden [...], wenn wir in diesem Augenblick bemerken würden, dass wir niemals ´Du´ gesagt haben [Wir können uns fragen: Wann haben wir das letzte Mal, mit dem ganzen Bewusstsein und der ganzen Bewegtheit, zu der wir fähig sind, ´Du´ gesagt,? ]. Du, oh Herr, bist Derjenige, den ich liebe. [Der heilige Augustinus sagt:] ´Was ersehnt der Mensch stärker als das Wahre?´ Was ist das Wahre? Ein gegenwärtiger Mensch, ein gegenwärtiger Mensch: Er kann nicht abgewaschen werden vom schönen und frohen Aufscheinen der Gemeinschaft von Gesichtern, die ein skizzenhaftes Zeichen von Ihm sein sollten! Dies geschieht, wenn man wahrhaft ´Du´ sagt, mit dem ganzen Bewusstsein des Ichs: Je mehr Bewusstsein seiner selbst man hat, desto stärker, größer, wahrer, einfacher und reiner ist Seine Verehrung.“ Deine Einfachheit, deine Reinheit, deine Zuneigung, deine Weise, die Wirklichkeit fortwährend herauszufordern, indem du darin eine Verifizierung suchst, haben mich wirklich gefangen genommen und mich erneut die Bevorzugung und die Fülle des Lebens Jesu verstehen lassen. Dieses Leben lässt uns Jesus täglich erleben, und nun bin ich voller Sehnsucht, dass diese Schönheit mein Leben und das aller Freunde, die es gesehen haben, begleite.»
Jeder von uns kann für den anderen ein solcher Weggefährte werden. Es geht nicht darum, gut zu sein (das werden wir auch nicht), sondern, sich von Seiner Gegenwart mitreißen zu lassen. Das ist es, was uns erlaubt, alles anzuschauen, auch das, was nicht schön ist: «Nach den Exerzitien der Fraternität haben wir im dritten Schwangerschaftsmonat unseren dritten Sohn verloren, aber die Wirklichkeit entsprach nicht meinen Bedürfnissen. Wo war die Unfehlbarkeit des Herzens, von der du gesprochen hattest? Was war falsch daran, das Leben für meinen Sohn zu ersehnen? Dass mir gesagt wurde, dass das, was geschehen war, zum Besten war, hat mich nicht beruhigt. Meine Sehnsucht nach Leben und Wahrheit [die Vernunft, das Bedürfnis nach einem Sinn] blieben unbefriedigt. Ich habe meine Begrenztheit meinen Freunden entgegengeschrieen: meiner Fraternitätsgruppe, meinem Seminar der Gemeinschaft. Ganz langsam hat sich in immer einleuchtenderer Weise das Antlitz Christi als gegenwärtig gezeigt, hat sich mir seine Gegenwart geoffenbart, so wie das Morgenrot langsam aber unausweichlich zum Licht wird. Wie du auf den Exerzitien gesagt hast: „Wir dürfen den Blick nicht abwenden und uns nicht ablenken lassen. Ich kann den Leichnam meines Vater anschauen bis ich, im Tiefsten, sage: ´Die Wirklichkeit ist Christus. Dort, gerade dort ist Christus´“. Ich musste den Schmerz in meinem Herzen über diesen Sohn, der jetzt nicht mehr ist, anstarren, um zu entdecken, dass die Entsprechung, von der du sprachst, nicht in der Bewahrheitung meines Wunsches liegt, dass mein Sohn leben könnte, sondern jenseits davon: In der Enthüllung des Antlitzes Christi in meinem Leben. Denn im Tiefsten kann mein Herz kein Sohn erfüllen, sondern es wird nur von Christus erfüllt.»
Wir verstehen daher gut, warum Don Giussani von Anfang an sagte, was in Dall´utopoa alla presenza steht: «Das Problem ist nicht die Gemeinschaft, [...] sondern „ich“ bin es. Wir bedürfen nicht etwas, das unsere Handlungen verändert, sondern etwas, das meine Person verändert. Es geht um die Frage der Berufung meines Lebens, um eine bewusste und stabile Identität. Und die stabile Methode des Lebens ist die Einheit seiner selbst und die Einheit mit den anderen. Die Einheit unser selbst finden wir in der Einheit mit Christus. Die stabile und bewusste Identität besteht in meiner Beziehung zu Christus. In der Tat: «Wo es keinen Tempel gibt, gibt es keine Wohnstätten.» Das bedeutet: Die Einheit seiner selbst zu finden fällt mit dem Reifen der Einheit mit Christus zusammen. Die Einheit mit den anderen ist eine Folge, eine reine Folge davon. Aber die Einheit mit Christus wird [wie wir gesehen haben] bestimmt durch die Weise, mit der sich diese Gegenwart [es wird gegenwärtig] erfahrbar wird, das heißt durch den Leib, in dem sie sich offenbart [indem man an einem Gestus teilnimmt, am Leben der Gemeinschaft], also das Leben der Gemeinschaft, insofern sie das Geheimnis Christi verwirklicht. Daher besteht die Methode, durch die man die Beziehung zu Christus vertiefen kann [denn Christus ist genau hierfür gekommen] darin, der Gemeinschaft zu folgen, und daher auch, die eigene Identität und die Einheit mit den anderen [zu vertiefen].»
Wir müssen uns gegenseitig jeden Tag an die Tatsache erinnern, die unter uns gegenwärtig ist und die unsere Einheit begründet. Das lässt das Urteil wachsen. Nur so kann ein stabiles Bewusstsein entstehen, eine bewusste und stabile Identität. «Was mich in diesem Jahr am meisten berührt hat, ohne dass ich dabei besorgt gewesen wäre, eine Rolle verteidigen zu müssen, ist der Reichtum des Wesentlichen. Wie in einer reality show habe ich in diesen Jahren danach gejagt, den anderen zu gefallen, damit sie sähen, wie gut ich in den Dingen war, die ich tat. Dann, im Privaten: Unzufriedenheit. Ich lebte für etwas anderes, ließ die Leere von anderem erfüllen, ich war stets unruhig. In diesem Jahr haben mich die Freundschaft mit Giorgio, die Liebe meiner Frau, das einfache Folgen im Leben unserer Bewegung erfüllt wie ein Becher sich Tropfen für Tropfen füllt und schließlich bin ich übergelaufen, ohne mir dessen bewusst zu werden. In einer der letzten Aussprachen mit Giorgio hat mich folgender Satz beeindruckt: „Aber worin hast du Bestand? [eine bewusste und stabile Identität: Worin hast du Bestand?] In dem, was du tust, oder in Dem, der dich an sich gezogen hat?“ Nach La Thuile bin ich mit der Sehnsucht zurückgekehrt, immer mehr das Wesentliche zu leben. Nicht, weil ich in die Cascinazza [ein Benediktinerkloster; A.d.R.] gehen möchte; das Wesentliche ist für mich das, was geschieht. Das ist der Grund, weshalb das Treffen von La Thuile für mich schön gewesen ist: Zum ersten Mal nach langer Zeit war der erste Gedanke nicht: „Nun kehre ich zurück und muss an einen bestimmten Ort oder zu einer Fraternitätsgruppe eingeladen werden“, sondern ich hatte den Wunsch, zu sein, wo ich bin und zu sagen: „Jesus, gib’, dass ich Dich sehe, dass ich nicht die Augen verschließe und Deine Gegenwart anerkenne in dem Bewusstsein, dass wir aus diesem Grund zusammen sind. Hilf mir, Deine Gegenwart in meinem Leben anzuerkennen.“ Schon in früheren Jahren hatte ich einen gewissen Enthusiasmus, aber es handelte sich um ein Hochgefühl, nicht um ein Urteil. Heute kann ich sagen, dass es ein Urteil ist, welches vor allem in meinem Selbstverständnis verwurzelt ist.»
Dies weitet die Vernunft aus und erlaubt eine Stabilität, eine stabile und bewusste Identität. Das ermöglicht auch den interreligiösen Dialog, wie ein in Tracce veröffentlichter Brief bezeugt. Zwei von unseren Müttern haben andere Mütter, Chinesinnen, getroffen. Indem sie gemeinsam die Kinder zur Schule gebrachten, sind sie Freunde geworden und die chinesischen Mütter sagten: «Wir kennen das Christentum nicht, aber wir spüren, dass dies ein wahrer und schöner Weg für unsere Kinder ist» (Diese bereiteten sich auf die Taufe vor). Um das anzuerkennen, was unter uns ist, genügt es, frei von Vorurteilen zu sein. So schreibt mir Michele aus Bologna: «Ich bin von Studenten der Mazzini-Vereinigung Italiens zu einem kulturpolitischen Wettbewerb nach Rimini eingeladen worden. Wie vorher absehbar war, zeigte sich das Umfeld sofort sehr feindlich, [denn in der Ansprache behauptete man,] dass die Menschen ohne jede Konditionierung, vor allem nicht durch die Katholische Kirche, aufwachsen sollten, da sie das Bewusstsein konfessioneller Schulen prägten und auf staatliche Entscheidungen Einfluss nähmen. Da ich nicht dort war, um eine ideologische Auseinandersetzung zu suchen, habe ich in meinem Aufsatz nur geschrieben, was ich durch meine Erfahrung gelernt habe, so wie sie durch die Bewegung geleitet wird. Ich schrieb, dass es für die Heranbildung von freien Menschen eines klaren erzieherischen Vorschlags bedarf und gleichzeitig einer Freiheit, die in die Lage versetzt, diesen zu kritisieren. Ich habe die Studentenunruhen in Frankreich als Beispiel dafür angeführt, was passiert, wenn niemand die Verantwortung übernimmt, einen präzisen erzieherischen Vorschlag zu machen. Einige Wochen später ist etwas geschehen, womit ich niemals gerechnet hätte: Ich erhielt einen Anruf von der Organisatorin mit der Mitteilung, dass ich den ersten Platz erreicht hätte. Sofort bin ich zu ihrer Wohnung gegangen, um den Preis abzuholen. Ich war sehr beeindruckt, denn man sagte mir, dass der Aufsatz der Jury sehr gefallen habe (in welcher auch der Großmeister einer italienischen Freimaurerloge war). Als ich ihnen sagte, dass ich katholisch sei, war sie sehr beeindruckt und sagte, dass es ein Paradox sei, dass eine laizistische Vereinigung ausgerechnet einen Katholiken auszeichnet. Zwei Wochen später habe ich ihr Das erzieherische Wagnis geschenkt und sie hat mir gesagt, dass sie es, obwohl sie dem Denken von Don Giussani fern steht, lesen werde. Ich habe dir diesen Brief geschrieben, weil ich dir mitteilen wollte, wie die Erziehung, die Don Giussani uns gibt, in meiner Erfahrung absolut mit der Natur des Menschen und seinen Bedürfnissen übereinstimmt. Dies geht so weit, dass eine Jury [...] meinen Aufsatz als vernünftiger, menschlicher beurteilt hat. Daher bin ich voller Dankbarkeit, auch, weil ich anerkenne, dass ich keinen Verdienst für das Geschriebene habe.»
Dies erkennen sogar die anderen an! Ich hoffe, dass wir anfangen, es auch unter uns anzuerkennen. Dies ist die Aufgabe, die uns dieses Jahr erwartet.
Zum Abschluss habe ich eine gute Nachricht mitzuteilen: Papst Benedikt XVI. hat unserer Bitte um ein Treffen mit ihm entsprochen. Es findet am 10. Februar im Saal Paolo VI. statt.