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In-presa - Erziehen bei der Arbeit
Das Paradox von In-presa
Alessandra Stoppa

Emilia Vergani gründete den Verein 1997. Heute kümmert er sich um 150 Jugendliche. Er hilft ihnen beim Lernen und in der Ausbildung durch Kurse für Elektriker, Computerfachleute oder Hilfsköche und gliedert sie in die Arbeitswelt ein. Doch geht der erzieherische Vorschlag für so genannte «Risiko-Jugendliche» weit über die reine Wissensvermittlung hinaus. Und er ist zugleich eine Herausforderung, die auch die Unternehmer der Umgebung mit einbezieht und sie zu Erziehern macht.

Marianna ist glücklich, abgefragt zu werden. Einer ihrer Kameraden ist froh, weil man ihm eine Mathematikaufgabe verpasst hat; aber wenn es eine Sache gibt, die er absolut nicht verträgt, dann sind es Zahlen. In der Schule passieren derartig paradoxe Situationen eigentlich nie. Und man würde dies ohne das Beharren von Marianna nicht einmal bemerken. «Schau, was das Schönste ist, das dir passieren kann: von der Lehrerin gerufen zu werden», wiederholt sie ungeniert und deutlich. «In der Schule, in die ich früher ging, wurde ich überhaupt nicht beachtet. Meine Lehrer riefen nur einige auf, die Guten eben. Hier dagegen werde auch ich beachtet.»
In der großen Industrielagerhalle im Herzen von Carate Brianza, wo der Verein In-presa zu Hause ist, geschehen solche paradoxen Situationen immer wieder. Ein Schüler bedankte sich bei der neuen Mathematiklehrerin dafür, dass sie ihm einige zusätzliche Übungen gegeben hat. «Ich bin froh, dass ich die Verhältnisgleichungen machen muss», sagt er zu ihr. «An der Hotelfachschule gab man mir überhaupt keine Aufgaben mehr.» Die Lehrerin ist verblüfft. Es kommen einem die Worte ins Gedächtnis, die am Eingang auf der Mauer geschrieben stehen. Sie stammen von Emilia Vergani, der Gründerin des Werkes, die im Jahre 2000 gestorben ist. Sie spricht dort von einem Ort, an dem «die Jugendlichen ernst genommen werden». Man versteht, dass dies kein Wunsch geblieben ist, wenn man Marianna und ihre Freunde mit den Chefmützen vor den Herden im Küchenlabor sieht, oder Riccardino, wie er von seiner Sehnsucht spricht, Mechaniker zu werden, oder etwa zehn stämmige Jungen von 14 Jahren, die den Tisch decken, und zwar mit einer Sorgfalt, als ginge es darum, ein Kunstwerk zu entwerfen.

Unzureichende Maßnahmen
Man nennt sie «Risiko-Jugendliche». Sie haben sich aber einfach daran gewohnt, im Leben von einer Sache zur anderen zu springen, «weil sie Angst haben, sich wirklich an etwas zu versuchen», erklärt Stefano Giorgi. Er ist Generaldirektor von In-presa. Das Neue für sie besteht hier in der Tatsache, «als Personen angeschaut zu werden, die dazu fähig sind, Gutes zu tun». In-presa baut ganz auf dieser Wertschätzung der Person. Inzwischen kommen hier jährlich 150 Jugendliche hin. Wer Mühe hat, die Mittelschule abzuschließen, wird beim Lernen unterstützt. Ferner bietet die Initiative Kurse von 600 Stunden für Elektriker und Computerfachleute sowie Praktika oder eine dreijährige Ausbildung zum Hilfskoch an.
Stefano, Evelina und Yan sind die engsten Mitarbeiter von Giorgi. Sie hängen an «ihren» Jugendlichen, die oft nur jemanden brauchen, der zu ihnen sagt: «Ich habe keine Angst vor deiner Sehnsucht. Möchtest du als Karosseriemechaniker arbeiten? Auf geht’s, ich helfe dir dabei!» Dabei kann es auch passieren, dass Yan wirklich einen Karosseriemechaniker findet, der bereit ist, Andrea (wenn auch kostenlos) in die Lehre zu nehmen und Andrea nach vier Tagen nicht mehr zur Arbeit kommt. Und es kann durchaus vorkommen, dass Andrea nach einiger Zeit zu Yan zurückkehrt und beteuert, er wolle doch als Karosseriemechaniker arbeiten. Dann begleitet ihn Yan eben wieder zum Arbeitgeber, der ihn mit den Händen in den Seiten und einem strengen Blick empfängt, ihm Hose und Sweatshirt gibt und zu ihm sagt: «Ich erwarte dich am Montagmorgen, pünktlich.» «Das ist eine grenzenlose Zuneigung», meint Stefano.

Der Ausgangspunkt
Der Ursprung von In-presa liegt in dieser Ausbildung für den Arbeitsmarkt, methodisch ist der Ausgangspunkt aber der erzieherische Vorschlag des ganzen Werkes. Denn die Arbeit hilft den Jugendlichen mehr als alles andere. «Das beginnt von dem Augenblick an, an dem die Arbeit genaue Regeln abfordert», erläutert Evelina. Dazu gehört auch die Pünktlichkeit. «Wenn ein Jugendlicher zu spät in der Werkstatt erscheint und der Arbeitgeber sich darüber aufregt, ist das die beste Gelegenheit, zu verstehen, dass es eben ein Unterschied ist, ob er da ist oder nicht. Um so mehr gilt dies, wenn jemand einen schwerwiegenderen Fehler macht oder alles liegen lässt und dann zurückkehrt», meint Evelina und wirft Yan einen verschmitzten Blick zu. Denn die beiden haben hinreichend Erfahrung mit den unterschiedlichen Facetten ihrer Arbeit. Sie haben Massimo vor Augen, der noch nach fünf Jahren zu In-presa zurückkehrte, weil er die x-te Arbeitsstelle verlassen hat oder wieder mal in der Klemme sitzt. «Manchmal denke ich, ich schaffe das nicht mehr», platzt Yan ungehemmt los. «Es ist wie mit den eigenen Kindern: Man weiß, wann man anfängt, aber man weiß nicht, wann man aufhört. Besser noch, man hört niemals auf. So scheint es einem manchmal, als fehlten einem die Kräfte, um mit den Jugendlichen zu arbeiten, um ihnen zu helfen, ihr ungeregeltes Leben wieder in die eigene Hand zu nehmen. Dann gibt es ja zum Glück noch die Kaffeemaschine. Sie ist entscheidend. Wenn wir uns hier treffen, unter uns, dann schauen wir uns ins Gesicht und helfen uns immer wieder, neu anzufangen. An dem Tag, an dem es der eine nicht mehr schafft, schafft es der andere, und umgekehrt», berichten sie einfach aber authentisch.

Die erzieherische Herausforderung
«Dann gilt die erzieherische Herausforderung nicht nur für die Jugendlichen, sondern vor allem für jede Einzelnen von uns», fügt Stefano hinzu. Und das heißt, für sie selbst und alle, die am Werk mitarbeiten. Dazu gehören in erster Linie Handwerker und Unternehmer, die Jugendlichen ein Praktikum anbieten. Sie nehmen sie in ihren Unternehmen auf und bieten ihnen einen Ausbildungslatz aber vergeben ihnen auch die Fehle und werfen sie selbst dann nicht sofort hinaus, wenn sie stehlen. Für die Unternehmer wirft diese Begleitung der Jugendlichen auch Fragen über sich selbst und den Wert ihrer Arbeit auf. So meinte auch ein Unternehmer aus der Brianza gegenüber Stefano: «Was verlangst du von mir, ein Berufstätiger oder ein Erzieher zu sein?» Mit einigen der Unternehmen sind inzwischen enge Freundschaften entstanden. «Manchmal essen wir zusammen zu Abend und sprechen dabei nicht einmal mehr über die Jugendlichen, sondern setzen uns mit dem ganzen Leben auseinander», meint Stefano. Er erzählt von dem Gastronom, der immer wieder dafür dankt, dass ihm ein Jugendlicher anvertraut wird, denn er habe so wieder entdeckt, «was es bedeutet, Vater zu sein.»