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Thema - Erfahrung
Mechanismus oder Interpretation
Costantino Esposito

Der italienische Philosoph Costantino Esposito legt dar, wie das Verständnis von Erfahrung in der Neuzeit schrittweise verkürzt wurde, von Galileo bis Kant. Schließlich bleibt ein rein subjektives «Fühlen», ohne jedes Urteil über die Wirklichkeit.

Als Galileo in einem berühmten Brief an Benedetto Castelli von 1613 «sinnliche Erfahrungen» sowie «notwendige Demonstrationen» als die wesentlichen Momente der wissenschaftlichen Methode identifizierte, leitete er die moderne Geschichte des Erfahrungsbegriffs ein. Tatsächlich finden wir an erster Stelle in der Definition Galileos die Gleichsetzung der Erfahrung mit der Sinneswahrnehmung. Auf einer ersten Ebene nehmen wir die Welt unmittelbar durch unserer Sinnesorgane wahr – wir berühren sie, wir sehen sie und wir hören sie und so weiter. Sie dienen als wesentliche Tore, durch die uns die Wirklichkeit erreicht und in unser Bewusstsein dringt. Dieser erste Ansatz muss aber in einem zweiten Schritt ergänzt und schließlich auf eine logische Deduktion, auf ein Urteil zurückgeführt werden, das die «qualitativen» Aspekte der Welt (das heißt jene, die von den subjektiven Bedingungen dessen abhängen, der mit den Sinnen wahrnimmt) beiseite lässt und als notwendige mathematische Verhältnisse, die nur die «quantitativen» Aspekte der Realität betreffen, formalisiert. Nur auf diese Weise können Sinneswahrnehmungen mit einer «experimentellen» Methode, wie der von Galileo, erfasst werden. Entgegen dem, was man denken könnte, baut diese Methode nicht in erster Linie darauf, dass wir eine direkte und wirkliche Erfahrung der Natur machen, sondern darauf, dass die Natur als eine genaue und abstrakte Konstruktion mechanischer Beziehungen erklärt werden kann.

Aktion/Reaktion
Von diesem Augenblick an ist das Schicksal des Wortes «Erfahrung» für alle kommenden Jahrhunderte endgültig auf eine eingeschränkte Art gezeichnet: Eine Erfahrung wird demnach verstanden als Aktions- und Reaktionsmechanismus der Impulse, die von der Wirklichkeit her stammen und die Antwort unserer Sinnesorgane. Allerdings ist dies eine letztlich subjektive Beziehung, da jeder die Welt um sich herum auf individuelle und nur bedingte Weise, das heißt partiell «empfindet». Damit die Erfahrung «objektiv» werden kann, muss sie sich in ein, auf eine Messung gestütztes Urteil verwandeln, das für jeden gültig und wiederholbar ist. Dies wird nur durch ihre mathematischen Elemente gesichert. Somit besitzt das leibhafte, das mit Sinnen begabte Subjekt nicht mehr «in sich selbst» ein «objektives Urteilskriterium». Auf der anderen Seite braucht das objektive Urteil über die Wirklichkeit kein Subjekt oder individuelles «Ich» mehr, um zu funktionieren, sondern nur ein generelles beziehungsweise abstraktes Verfahren.

Apriorische Erkenntnis
Man muss jedoch bis Kant gelangen, um die kanonisch gewordene Version dieser Interpretationsweise zu finden: in der Kritik der reinen Vernunft (1781) erhält der Begriff «Erfahrung» dieselbe Bedeutung wie «Erkenntnis». Aber im Unterschied zu Galilei, für den die Mathematik mit der Struktur des Realen selbst übereinstimmte, bedeutet Erkennen für Kant, nicht mehr in Beziehung mit der «Realität» und mit dem «Sein» der Dinge zu treten (die für uns immer unbekannt bleiben werden), sondern die Erscheinungen der Natur mit Hilfe der Kategorien unseres Geistes zu bestimmen und folglich die Objekte, die wir mit dem Wahrnehmungsvermögen und dem Intellekt kennen, «a priori zu konstruieren». Die Welt der Erfahrung stützt sich nicht mehr einfach auf das, was uns gegeben ist. Im Gegenteil, es ist unser Geist selbst, der a priori das Erfahrbare und das, was für die Erfahrung notwendigerweise verschlossen bleibt, definiert. Wenn man allerdings die Erfahrung ausschließlich mit der wissenschaftlichen Erkenntnis gleichgesetzt, dann kann all das, was nicht in diese Kategorien a priori fällt – die Bedeutung der Wirklichkeit oder das Forschen nach der letzten Wahrheit der Dinge, das Streben hin zum Guten oder das Phänomen der Liebe –, niemals erkannt, das heißt als das, was es ist, begegnet und verstanden werden. Es kann dann nur noch von unserem subjektiven Gefühl «gewünscht» oder als moralische Pflicht von Seiten unseres Willens «verordnet» werden.

Reine Reaktivität
Folglich kann ich zum Beispiel eine Erfahrung (d.h. eine wissenschaftliche Messung) des Gesetzes der Kausalität haben. Streng genommen werde ich aber keine «Erfahrung» der Liebe im eigentlichen Sinn machen können, die meine Mutter für mich hat, weil sie auf der Grundlage meiner Denkschablonen a priori nicht messbar ist. Sie ist nur noch etwas, das in den Bereich der Gefühle und Empfindungen gehört. Als man im Übergang von der Moderne zur Postmoderne einen neuen Raum für diese subjektive Sphäre schaffen wollte, indem man ihr ebenfalls die Würde einer im eigentlichen Sinne «Erfahrung» zugestand, kam man darauf zurück, diese letzte als reines «Erleben» oder «Empfinden» von etwas (als Feeling) zu verstehen, das anhand biologischer und emotionaler Reaktivität erklärt werden kann. Man ist bis zu einer Erklärung der Bewusstseinsstadien und der Willensakte, das heißt der inneren Erfahrung des Ich auf der Ebene neuraler Verbindungen unseres Gehirns gelangt, so wie sie von den Neurowissenschaften und zeitgenössischen kognitivistischen Theorien vorgeschlagen wird.

«Hermeneutische» Version
Dieser Erklärung stellt sich eine andere Idee zur Seite, die zunächst gegensätzlich zu sein scheint. Doch ist sie in Wahrheit vollkommen komplementär. Nach dieser Vorstellung ist jede Erfahrung von uns ein Produkt der Kultur, der Sprache und des sozialen Kontextes, in dem wir leben. Wir können diese als «hermeneutische» Version der Erfahrung bezeichnen. In ihr scheint die Rolle des menschlichen Subjektes maximal aufgewertet zu sein. Doch erweist auch sie sich in Wirklichkeit als eine mentale Konstruktion. Entweder Mechanismus oder Interpretation: Das sind die Alternativen, in der sich die Bedeutung der Erfahrung in unserer Zeit erschöpft. Es handelt sich um eine Alternative, die allerdings mehr Probleme schafft, als dass sie diese löst. Denn wie ist es möglich, etwas als wirklich «unseres» wahrzunehmen (eben eine Erfahrung zu machen), ohne die Bedeutung zu verstehen, die es für mein Ich und für mein Leben hat? Ohne ein Urteil gibt es keine wirkliche Erfahrung. Die Welt löst sich schlicht in ein Bündel von Eindrücken auf. Das faszinierende Geheimnis der menschlichen Erfahrung besteht aber gerade darin, das etwas «mein» wird, also Inhalt meines Bewusstseins, das ich niemals auf mich reduzieren könnte, weil es mir gegeben ist, mich erreicht und nach mir fragt.