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Aufmacher
Wie man Christ wird


Aufzeichnungen eines Vortrags von Don Luigi Giussani in der Basilika des heiligen Antonius zu Padua (11. Februar 1994)

Ich möchte den Franziskanern zunächst von Herzen danken, vor allem dafür, dass sie mich hierher eingeladen haben. Dieser Ort lässt mich förmlich in den Gnadenstrom eintauchen, den der heilige Antonius zu Lebzeiten mit seinen Worten auslöste, wie mir ein Antonius-Kenner kürzlich sagte. Ich muss dabei an einen Satz aus den frühen Schriften des Christentums denken, der vielen von uns geläufig ist: «Sucht jeden Tag das Antlitz der Heiligen und lasst euch von ihren Worten aufrichten.» Der heilige Antonius erleuchte uns, er lasse uns wie Kinder sein, einfach und «arm im Geiste», wie es im Evangelium heißt (so wie er schon Millionen von Menschen erleuchtet hat, die dieses sein Haus aufgesucht haben). Er stärke unser Herz, das heißt unseren Glauben, durch das, was wir uns hier sagen werden. Denn die Zeit ist zu kostbar, als dass wir sie ungenützt verstreichen lassen wollten. Gerade in Zeiten wie den unseren, in denen eine große Verwirrung herrscht und alles konfus, schemenhaft und diffus wird, in Zeiten, wo es scheinbar keine Gewissheit mehr gibt, brauchen wir vor allem eines: Die Stärkung, das heißt, dass wir durch unsere Einheit neue Kraft bekommen.
Im Priesterseminar hatte ich einen Freund namens Manfredini, der später Erzbischof von Bologna wurde. Es wird mir immer der Moment in lebendiger Erinnerung bleiben, als wir eines Abends in die Kirche gingen. Die Glocke hatte geläutet und wir liefen alle die Treppe hinunter, die zur Kapelle der Theologiestudenten im Seminar von Venegono führte. Wir zwei waren die Letzten und deswegen beeilten wir uns umso mehr, den Anschluss nicht zu verpassen. Plötzlich hielt mich Manfredini von hinten am Arm fest. Ich blieb stehen und schaute ihn an. Die Worte, die er zu mir sagte, werde ich nie vergessen, denn mir lief ein richtiger Schauer über den Rücken: «Sich vorzustellen, dass Gott Mensch geworden ist: das ist doch wirklich etwas von einer anderen Welt.» Und schon überholte er mich und lief voraus. Wie hatte er so etwas sagen können? Es konnte nur einen Grund geben: Sein Herz war erfüllt von dem Bewusstsein, dass es sich hierbei um die bedeutendste Nachricht handelte, die es je in der Weltgeschichte gegeben hat.
Diese Botschaft mag durch Jahrhunderte hindurch mal auf aufmerksame, mal auf weniger aufmerksame Ohren gestoßen sein, sie mag auf offene Herzen gestoßen sein oder solche, die sich dagegen gesträubt haben. Wenn wir uns diese Nachricht aber vor Augen führen, dann ist es die beste, die menschlichste Nachricht, von der der Mensch jemals hören kann. Keine Botschaft trägt eine größere Verheißung in sich. Es ist die beste und hoffnungsvollste Nachricht, die dem Menschen zu Gehör kommen kann. Können wir uns Worte vorstellen, die etwas Schöneres, etwas Hoffnungsvolleres als das zum Ausdruck bringen könnten? Wohl kaum! Mein Freund Manfredini spürte das tief in seinem Herzen, und ich habe das auch gespürt, als er mich so unvermittelt auf der Treppe am Arm festhielt: «Sich vorzustellen, dass Gott Mensch geworden ist: das ist doch wirklich etwas von einer anderen Welt.» Dann lief er die Stufen noch schneller hinunter und ich rief ihm hinterher (soweit man bei der Stille um uns herum überhaupt von «rufen» sprechen kann): «Es ist etwas von einer anderen Welt, in dieser Welt.» Beim Thema des heutigen Abends musste ich unwillkürlich an diesen Moment denken, denn es soll ja darum gehen, wie man Christ wird, das heißt, wie der Glaube im Herzen erwacht und wie er wieder neu geweckt wird.
Ich möchte dabei zunächst näher auf das Wort Herz eingehen, denn es ist das, was den Glauben zu seinem Ursprung zurückführt, zu dem geheimnisvollen Moment, an den geheimnisvollen Ort, an den geheimnisvollen Punkt, an dem der Mensch sagt: «Herr, ich glaube dir», und dieser antwortet: «Mensch, ich liebe dich.» Das Herz ist der Ort der großen Fragen: der Frage nach der Wahrheit, nach der Gerechtigkeit, der Frage nach der Liebe, der Frage - und die schließt alles andere ein - nach dem Glück. Wenn die Bibel von Herz spricht, dann meint sie damit genau diesen Ort der großen Fragen, in dem sich letzten Endes das Kürzeste und Wichtigste aller Worte zusammenfassen lässt: Das Wort ich. «Was nützt es, wenn du alles bekommst, was du willst, wenn du alles, was dir in den Sinn kommt, haben kannst, wirklich alles, aber du dein Ich verlierst, dich selbst verlierst?» , fragt uns Jesus im Evangelium.
Als ich im Priesterseminar ein Buch von Pater Gemelli über die Franziskaner las, da begann jedes Kapitel mit einer ausgeschmückten großen Initiale. Eines dieser Kapitel begann mit dem Buchstaben Q. In das Oval dieses Buchstabens war die Silhouette des heiligen Franz von Assisi gezeichnet: Er hatte die Arme weit ausgebreitet und den Kopf nach hinten geneigt. Davor waren Berge in größerer Entfernung angedeutet, hinter denen die Sonne aufging, und für den kleinen Strich des Q war da ein kleiner Vogel abgebildet. Das Q, mit dem das Kapitel begann, leitete auch eine Frage ein, die klein gedruckt zu Füßen des Heiligen stand. Dieser Satz lautete: Quid animo satis? - Was genügt, was genügt dem Herzen des Menschen? Was diese Zeichnung zum Ausdruck bringen wollte, war klar: Der Mensch, der sich von allen anderen Menschen am meisten unterscheidet, der Mensch, der die größte Sensibilität überhaupt gehabt hat, stand diesem wunderschönen Panorama der Natur und der aufgehenden Sonne ganz offen gegenüber, war ganz auf diese hin ausgerichtet. Die Arme wollten es dem Herzen gleich tun: ganz offen sein. In dem Augenblick schien nichts zu fehlen und doch fehlte noch alles. «Was kann dem Herzen des Menschen genügen?» Das Herz des Menschen ist in der Tat jener Ort unseres je persönlichen Seins, an dem man versteht, dass wir die Ebene der Natur sind, in der sich die Natur der Beziehung mit dem Unendlichen, dem Bedürfnis nach Beziehung zu Gott bewusst wird. Wenn das nicht gegeben ist, dann hat nichts Bestand. Wenn es diesen ewigen, unendlichen Horizont nicht gibt, fehlt das entscheidende Fundament. Auch das Antlitz des Menschen, der einem am teuersten ist, hat keinen Bestand, auch die Dinge, die man am meisten zu besitzen glaubt, entgleiten uns und «mehr noch das, was mir am meisten gefiel», wie es eine Dichterfreundin von Giosuè Carducci sagte: «Und mehr noch das, was mir am meisten gefiel!»
Vielleicht scheint das jetzt ein größerer Gedankensprung - aber ich hatte gerade mein neues Büro in der Via Statuto bezogen, das mir Monsignore Pignedoli zur Verfügung gestellt hatte, als an einem der ersten Tage der Vater eines Mädchens zu mir kam, das ich schon kannte. Sie bereitete sich auf das Lehramt vor. Er war ein ziemlich vornehmer Herr und blieb aber verlegen an der Tür stehen, dann brach er auf einmal in Tränen aus und sagte zu mir: «Verzeihen Sie, Pater, aber wenn meine Tochter (sie war krebskrank in einem Stadium, in dem es keine Heilungschancen mehr für sie gab) meine Hand nimmt, sie drückt und mir sagt: ‚Papa, warum machst du mich nicht wieder gesund?’, dann verkrafte ich diesen Schmerz einfach nicht.» Aber wie kann man sagen: «Das verkrafte ich nicht»? Das, was diesem Mädchen und ihrem Vater widerfuhr, war keine Ungerechtigkeit - Gott ist gekommen und am Kreuz gestorben! - Die Mutter dieses Mannes und die Mutter dieses Mädchens haben ihren Kindern nicht umsonst das Leben geschenkt, denn sie sind, sie waren für das Unendliche, für die Ewigkeit, für die Ewigkeit Gottes bestimmt, sie sind bestimmt für die unendliche Beziehung zu Gott. Und jetzt sind sie sicher dort, sie sind hier, überall, und sie warten auf mich, sie sehen uns. Dieser Gedanke kam mir vor vielen Jahren bei der Beerdigung meines Vaters, zu dem ich eine sehr tiefe Beziehung hatte. Damals waren in Mailand schon etliche Freundschaften mit Schülern und Studenten entstanden, so dass gut hundert junge Leute aus Mailand zur Beerdigung gekommen waren. Das, was mich dort am meisten beeindruckte, war gerade dieser Gedanke: «Jetzt siehst du mich, du erkennst meine Gedanken, siehst mein Innerstes.»
Wenn wir vom Herzen reden, dann meinen wir damit das Wesen der Person, die Natur des Menschen, das Wesen des Ichs. Ich bedeutet Beziehung zu Gott, Beziehung zum Unendlichen, das Ich ist «für das Unendliche geschaffen». Das macht nicht nur seine Natur aus, es äußert sich auch auf diese Weise in der Geschichte. Warum rufe ich das in Erinnerung? Weil das Herz jene Ebene ist, auf der der Mensch sich einer Wirklichkeit bewusst wird, die er braucht, um er selbst sein zu können: Bewusstsein der Wirklichkeit Gottes. Der Vater, von dem ich vorhin sprach, brauchte jemand Anderen, um er selbst sein zu können - auch wenn er in dem Moment alles andere tat, als daran zu denken. Er brauchte genau den, den er wegen des Schicksals seiner Tochter wohl am liebsten verflucht hätte. Das Herz ist das Bewusstsein einer Wirklichkeit, die die Seele des Menschen, der Mensch als Person anerkennen muss und vor der er leben muss, um er selbst sein zu können: Der Mensch muss diese Beziehung mit dem Unendlichen, nach dem sich unser Herz sehnt, nach dem sich unser Ich sehnt, leben. Genau diese Religiösität müssen wir leben, damit wir Christus verstehen können. Um Christus verstehen zu können, muss diese Religiösität (die Art und Weise, wie Gott uns ursprünglich durch unsere Mutter geschaffen hat) in uns wach bleiben, in uns leben. Ohne diese Religiösität versteht man nicht einmal mehr Christus, ja es wird unmöglich, Christus im Leben zuzulassen.
Der Mensch, so der Papst in seiner Enzyklika Redemptor hominis, bleibt ansonsten sich selbst ein unbegreifliches Wesen . Ohne diese so andere Gegenwart des Geheimnisses Gottes zuzulassen, sie anzuerkennen, ohne zu versuchen, vor dieser zu leben und sie anzubeten, bleibt der Mensch sich selbst ein unbegreifliches Wesen. Der Papst griff hier einen Satz des Philosophen Pascal auf, als dieser sagte, der Mensch übersteige den Menschen um ein Unendliches : Er ist Beziehung zum Unendlichen - und das gilt für jeden Menschen, ob er nun Papst ist, ein König, Hausfrau, ein Kind, das zum ersten Mal zum Beichten geht, oder ein so alter Mensch wie ich.
Als der heilige Paulus einmal an den Ort in Athen kam, an dem sich alle großen Philosophen und Politiker von damals versammelten, sprach er dort über die Religiösität des Menschen und er sagte, der Mensch sei auf der Suche nach der Bedeutung des Lebens, das heißt auf der Suche nach Gott, also auf der Suche nach einem Anderen, ohne den er sich selbst nicht versteht. Der Menschen lebe in einem Zustand, in dem er Gott wie im Dunkeln zu ertasten suche. Stellt euch vor, wir wären tatsächlich im Dunkeln geboren, es gäbe kein Licht und wir würden die Dinge nur dadurch erkennen, dass wir sie ertasten und könnten uns dabei gewissermaßen nur «auf allen vieren» vorwärts bewegen: Wie würde sich die Wirklichkeit doch von der unterscheiden, die wir kennen. Jeder realistische Bezug zur Wirklichkeit bliebe uns versagt. Wir könnten von vielem träumen (manchmal wären es wohl auch Albträume), aber letzten Endes wäre dieses Sich-durch-die-Welt-tasten unnütz, weil etwas Entscheidendes fehlen würde!
In welcher Situation befindet sich die Menschheit? Diese Frage drängte sich mir auf, als in Mailand 300 Vertreter von fast ebenso vielen Religionen zusammengekommen waren. Kardinal Martini hatte zu diesem Treffen eingeladen, um den Wert der Einheit unter den Menschen und den Wert des Friedens in der Welt hervorzuheben . Dreihundert Leute, das bedeutete: viele individuelle Vorstellungen, viele Meinungen, viele Möglichkeiten, sich dieses Geheimnis vorzustellen, aus dem ganz offensichtlich alles hervorgeht. Denn wir haben nichts geschaffen, wir haben uns nicht einmal selbst hervorgebracht, wir schaffen uns auch in diesem Augenblick nicht selbst. Da gab es eine Vielzahl von Hypothesen, sich den Ursprung und den Sinn des eigenen Lebens vorzustellen. Man kann es nicht anders als ein wahnsinniges Durcheinander nennen. Den jungen Leuten sage ich oft, dass die Welt wie ein riesiger Platz ist, auf dem sich die Menschen mit allen Kräften daran machen, eine Art von Leiter zu bauen, mit der sie ganz nach oben kommen und «hinter die Kulissen» blicken können. Der Mensch möchte wissen, was hinter den Dingen liegt beziehungsweise am Ursprung der Dinge. Stellen wir uns vor, dass plötzlich etwas ganz Außergewöhnliches geschieht, nämlich das, was mein Freund Manfredini zu mir sagte: da tritt ein Mensch auf (ein Mensch, der wie alle anderen auch einmal Kind war, der als Kind gespielt hat, von seiner Mutter gestillt worden ist, der Freunde hatte, manchmal verblüffend intelligente Dinge sagte und tat und damit die Gelehrten der damaligen Welt wie zum Beispiel die Rechtslehrer im Tempel in Erstaunen versetzte. Dieser Mensch, der inmitten ganz normaler Menschen groß geworden ist, tritt nun auf und wagt es zu sagen: «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.» Dieses Ereignis war etwas absolut Unvorhersehbares, Unvorstellbares, etwas, was nicht auf das zurückzuführen war, was man schon kannte. Denn seine Eltern waren zwei ganz normale Menschen wie du und ich. Das ist etwas Einmaliges, etwas vollkommen Einmaliges in der ganzen Weltgeschichte. Denn die Propheten und die großen religiösen Köpfe sind sich vollkommen im Klaren darüber, dass ein Unterschied zwischen Gott und Mensch besteht. Sie sind sich ihrer eigenen Grenzen vollkommen bewusst. Sie sind sich im Klaren darüber, dass sie ihrer Sendung alles andere als würdig sind. Zudem beobachten wir, dass alle bedeutenden Personen auf dem Gebiet der Religion, besonders die Propheten, die Gott in die Welt gesandt hat, stets sagen: «Das ist der Weg, um zur Wahrheit zu gelangen.»
Was aber, wenn es nun solch einen Menschen geben würde? Es gab ihn, ein solcher Mensch ist aufgetreten! Und das ist ein Ereignis, das von seiner Natur her völlig unvorhergesehen, unvorhersehbar ist, denn es lässt sich nicht logisch aus bekannten Faktoren ableiten. Die Begegnung mit ihm weckte Staunen, sie beeindruckte und löste Fragen aus. Man stand vor etwas Außergewöhnlichem, vor jemandem, für den es keine Grenzen gab. Genau das haben jene wahrgenommen, die ihm begegnet sind, als die Stunde seiner Offenbarung gekommen war.
Davon erzählt ein Abschnitt im Evangelium, den ich fast täglich lese, nämlich das erste Kapitel des Johannesevangeliums . Es erzählt von dem Moment, als Johannes der Täufer, der sich der baldigen Ankunft des Messias gewiss war, in der Nähe von Jerusalem durch die Wüste zog und den Menschen predigte, Gott sei dabei, seine Verheißung zu erfüllen. Und alle Leute gingen zu ihm, wollten hören, was er sagte, auch die Schriftgelehrten und Pharisäer, auch die Anführer des Volkes. Stellen wir uns nun vor, dass unter all den Leuten, die an einem bestimmten Morgen zugegen waren, zwei von weiter her gekommen waren, aus dem weiteren Umland. Es waren zwei eher einfache Leute, zwei Fischer. Mit offenem Mund standen sie da und lauschten den Worten des Täufers. Auf einmal entfernte sich einer, der bei der Gruppe stand, von dieser und ging am Jordan entlang von dort weg. Da verändert sich auf einmal der Gesichtsausdruck des Täufers, er unterbricht seine Rede und ruft, wobei er auf den Mann zeigt, der sich von der Gruppe entfernt: «Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt, seht, das ist der Erlöser der Welt.» Da es alle gewohnt waren, dass der Prophet ab und zu irgendetwas ausrief, was sie nicht verstanden, haben sie dem weiter keine Bedeutung beigemessen. Aber diese zwei einfacheren Leute, die Johannes dem Täufer ganz gespannt zuhörten, verstanden, dass da ein Zusammenhang bestand. So folgten sie dem jungen Mann, der sich von der Gruppe entfernte. Eine Weile wagten sie aber nicht, ihn anzusprechen. Sie wussten nicht, was sie tun sollten, bis er sich umdrehte und sie fragte: «Was sucht ihr?» - «Meister, wo wohnst du?» - «Kommt und seht!» Sie gingen mit ihm und blieben den ganzen Tag bei ihm. Es war um die zehnte Stunde. Das Evangelium berichtet, dass es in der zehnten Stunde gewesen ist, dass sie erkannt haben, wer er ist, als sie ihn gesehen haben, als sie ihm gefolgt sind, als sie weggegangen sind: «Es war um die zehnte Stunde.» Es handelt sich gewissermaßen um eine Art Gedächtnisprotokoll von einem der beiden, von Johannes. Der andere, Andreas, war schon verheiratet. Versuchen wir uns vorzustellen, was diese beiden jungen Männer erlebt haben: Mehrere Stunden sind sie dort geblieben und haben jenem Menschen zugehört, haben ihn sprechen sehen. Ich weiß nicht, was sie von dem verstanden haben, was er sagte. Aber die Art und Weise, wie er sprach, veränderte sie. Was sie mit ihm erlebten, war etwas, was sie noch nie gesehen, noch nie gehört hatten: Diese Stimme und das, was er sagte, beeindruckte sie, auch wenn sie es nicht richtig verstanden. Als sie anderen später davon berichteten, konnten sie nur etwas von dem wiederholen, was sie vorher gespürt und gehört hatten, wie zum Beispiel, als er gesagt hatte: «Ich bin der Messias». Vor allem aber nahmen sie in sich eine Veränderung wahr. Stellt euch vor, wie sie an dem Abend von dort fort-gegangen sind, wie sie nach Hause zurückgekehrt sind. Man kann sich gut vorstellen, dass sie auf dem ganzen Heimweg kein Wort miteinander geredet haben. Und als Andreas dann das Haus betrat, war er so verändert, dass seine Frau ihn gefragt haben muss: «Was ist passiert?» Und Andreas hat sie wohl umarmt, ohne dabei etwas zu sagen. Er hat sie auf eine Weise umarmt, dass es seiner Frau beinahe Angst wurde. Denn er hatte sie vorher noch nie so umarmt, so fest und so zärtlich zugleich, auf eine so wahre Art und Weise. Ja, die Beziehung zu diesem Menschen hatte eine Veränderung zur Folge: Man war nicht mehr wie vorher, man konnte zwar wie vorher weiter Fehler machen, vielleicht noch mehr Fehler, aber man war anders als vorher.
Als die ersten Freunde sich Jesus angeschlossen hatten, gingen sie einmal aufs Land und ihnen kam auf einem schmalen Weg ein Trauerzug entgegen. Ein junger Mann war verstorben, der Sohn einer Witwe. Hinter dem Sarg ging laut schluchzend und klagend die Mutter. Und dieser Mensch, Christus, geht einen Schritt auf sie zu und sagt zu ihr: «Frau, weine nicht!» Konnte es sich um etwas anderes handeln als einen üblen Scherz, wenn man zu einer Frau, die hinter dem Sarg ihres einzigen Sohnes einher schreitet, sagte: «Frau, weine nicht!» Und doch war es kein Scherz. Wir können nicht sagen, was er damit ausgelöst hat, wie er es gemacht hat. Und doch ist ganz klar, wie er es machte: Er sprengte jede menschliche Kategorie! Unser Herz, das für das Unendliche geschaffen ist, braucht vor allem das: Etwas, das die normal menschlichen Kategorien sprengt, etwas Außerordentliches. Um neuen Atem zu haben, um die Dinge in Angriff nehmen zu können, um sich auf das Leben immer wieder neu einlassen zu können, um wirklich leben zu können, braucht der Mensch das Außerordentliche. Das Außerordentliche müsste das Alltägliche sein. Das Außerordentliche, das heißt das, was einem entspricht, was dem Herzen wirklich entspricht (man kann nicht genau sagen wie, aber es entspricht dem Herzen). Was dem Herzen entspricht, geschieht nie, und wenn, dann ist es etwas «Außer-gewöhnliches». Bei diesem Menschen geschah genau das. Die Art und Weise, wie er sprach, wie er einen anschaute, entsprach zutiefst dem Herzen, und das war außergewöhnlich: «Frau, weine nicht!»
Oder denken wir an die Begegnung Jesu mit der Sünderin. Die ganze Stadt wusste, wer sie war. Doch ein Blick reichte aus, und einige Tage später saß sie zu seinen Füßen und benetzte diese mit ihren Tränen . Das Evangelium berichtet hier keine Details von Sätzen oder Worten, die gefallen sind. Wir müssen uns das selbst ausmalen. Aber es ist wirklich geschehen. Es hat sich wirklich ereignet: da war ein außergewöhnlicher Mensch, bei dem man nichts auf das zurückführen konnte, was man schon von ihm wusste, und er veränderte einen.
Von dem Mafiaboss, dem Jesus bei anderer Gelegenheit begegnete, wird der Name der größeren Stadt erwähnt, in der dieser lebte: Jericho. Wie gesagt: Es handelte sich um den Mafiaboss dieses Ortes, den Oberzöllner, der sich an die Römer verkauft hatte. Er hörte, dass Jesus in der Stadt ist, denn alle in der Gegend sprachen davon. So ging er der Menge, die mit Jesus durch den Ort zog, entgegen und kletterte auf einen Feigenbaum (ein Baum, der nicht sonderlich groß ist), um Jesus sehen zu können, wenn er vorbeiging, denn er war sehr klein. Die Menschentraube kommt näher, Jesus spricht zu den Leuten, doch als er vorbeigeht, bleibt Jesus stehen, als er direkt unter dem Baum steht: «Zachäus, du bist mir wichtig, ich möchte bei dir zu Hause einkehren. Lauf schon, ich möchte zu dir nach Hause kommen.» Ich weiß nicht, was Zachäus später in seinem Leben noch getan hat, aber eines steht fest: er hat auch schlimmere Dinge tun können als vor dieser Begegnung, aber in seinem Leben war das, was in seiner Seele wohnte, an dem sich sein Herz festhielt die Erinnerung an diesen Augenblick. Gleich ob es sich um Momente handelte, die mal von Hoffnung, mal vom Schmerz, mal von Reue oder von Sühne geprägt waren, entscheidend war der Augenblick, in dem dieser Mensch ihn angeschaut und zu ihm gesagt hatte: «Zachäus» . Habt ihr je daran gedacht, dass jedem von uns genau das passiert? Und wir sind so zerstreut, dass wir es nicht einmal bemerken!
Und er hatte eine eigene Macht über die Dinge. Die Natur gehorchte ihm, als wäre er ihr Herr. In einer Nacht, als sie zum Fischen gingen, war er so müde, dass er hinten im Boot eingeschlafen war. Es kam ein starker Wind auf und das Boot drohte unterzugehen. Zunächst waren seine Freunde unsicher, ob sie ihn wecken sollten, dann aber entschlossen sie sich irgendwann, ihn wachzurütteln und sie sagten zu ihm: «Meister, rette uns, wir gehen unter!». Er stand auf, gebot dem Wind und dem Meer und sofort legte sich der Sturm. Daraufhin sagten sie zueinander voller Furcht - sie, die ja wussten, woher er kam, die seine Mutter kannten, die fast täglich mit ihm zusammen waren (in der Zwischenzeit kamen sie fast täglich mit ihm zusammen), die bei ihm zu Hause ein und aus gingen - sie sagte untereinander: «Wer ist dieser?» - Was wollt ihr damit sagen: «Wer ist dieser?» Ihr wisst doch, wer sein Vater ist, ihr kennt seine Mutter, ihr geht bei ihm zu Hause ein und aus: Ihr wisst doch genau, wer er ist! Aber dieser Mensch war so außergewöhnlich, dass alles, was sie von ihm wussten, keine Bedeutung mehr hatte, nicht wirklich Antwort war: Es war ein Rätsel, es war wirklich undurchschaubar.
Neben den Wundern, von denen die Evangelien voll sind, gab es da aber noch ein besonderes Wunder, das dieser Mensch wirkte. Er wirkte es auch an Zachäus und an der Sünderin: Das Wunder der Vergebung. Der Mensch ist unfähig zu vergeben. Weder eine Mutter noch ein Vater vermögen, wirklich zu vergeben. Für uns heißt vergeben vergessen, etwas verdunkeln, etwas laufen lassen, etwas zu vergessen suchen. Hier hieß Vergebung, neues Leben schenken und (wie ich schon vorher sagte) Veränderung.
Warum sage ich das alles? Denkt an das letzte Abendmahl, an die langen Abschiedsreden Jesu. Alle schwiegen, als er sprach. Da gab es schöne Dinge, die er sagte, und weniger schöne. Mal lösten seine Worte Angst aus, mal machten sie Hoffnung. Er weckte die unterschiedlichsten Gedanken in ihnen. Und dann wagt es Jesus auf einmal zu sagen: «Ohne mich könnt ihr nichts tun» . Sie standen damit vor dem Ereignis eines Menschen, der von sich behauptet Gott zu sein: «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben» , ich bin Gott, ich bin das Geheimnis, das alle Dinge hervorbringt, ich bin der Anfang, ich bin das Ziel von allem, ich bin der Sinn deines Strebens nach Glück, nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe, die dich im Grunde deines Herzens, die die Natur deines Ichs, die dein Herz ausmachen. Der religiöse Sinn, der uns mit der Natur gegeben ist, trifft so auf ein Ereignis in der Geschichte. Er trifft auf einen Menschen, den ein 15- bis 16-jähriges Mädchen zur Welt gebracht hat, und der später als Erwachsener von sich behauptet: «Ich bin Gott».
In einem seiner Romane sagt Kafka - also jemand, der nicht glaubte, beziehungsweise glaubte, er würde nicht glauben - an einem bestimmten Punkt: «Der, den wir nie gesehen haben, den wir jedoch sehnsüchtig erwarten, den wir vernünftigerweise für unerreichbar halten [aus der Warte der Vernunft wird er für unerreichbar gehalten, für alle Zeiten unerreichbar für den Menschen], hier sitzt er» . Am Brunnen mit der Samariterin, war das nicht genau das? Als er sich mit den anderen zum gemeinsamen Mahl eingefunden hatte, war es da nicht so? «Hier sitzt er».
Das Leben des Menschen wird nach dieser Begegnung, nach dieser Begegnung mit Jesus von Nazareth zu einem Weg. Nachdem Andreas und Johannes ihn gesehen hatten, wurde das Leben für sie zu einem Weg mit ihm. Ihr Leben wurde zu einem Weg. Ob er nun da war oder nicht, es war ein Weg mit ihm, für ihn, auf das hin, was er sagte. Das Leben war ein Weg. Wir sprechen vom Leben auch als einer Moral, einem Streben nach Vollkommenheit, nach einer Erfüllung der eigenen Person schon im Jetzt, einem Streben nach Güte, Wahrheit, Gerechtigkeit, einer besonderen Sensibilität, einer Genauigkeit, einer Treue, die wie der Widerschein des Ewigen ist. Das Leben wird zu einem Weg, an dessen Beginn nicht der eigene Wille steht, spontane Energien; am Anfang steht nicht, dass man eine Würde anstrebt oder ein großes Herz hat, wie es die antiken Philosophen nannten. Es ist ein Weg, der bei der Liebe zu Christus ansetzt, bei der Liebe zu diesem Menschen. Das Leben entsteht als Weg, als Moral, als Askese, als Streben nach dem Guten. Nicht weil wir es uns vornehmen, weil wir einen starken Willen haben oder spontan großherzig sind, nein! Der Weg beginnt mit der Liebe zu Christus. Deswegen ist es ein Weg, dem auch die Sünde keine Grenzen setzt.
Im Psalm 129 heißt es: «Würdest du, Herr, unsere Sünden beachten, Herr, wer könnte bestehen?» Ähnlich lässt die Kirche uns Priester regelmäßig in einem Hymnus beten: «Ohne dich ziehen uns unsere Sünden und Dunkelheiten [unsere Unkenntnis und unsere Bosheiten] in den Abgrund» : Manchmal sind diese in so geringem Maße gegeben, dass wir sie gar nicht wahrnehmen. Andere Male sind sie so groß, dass sie uns schier erdrücken. Dann wieder sind sie so hauchdünn, dass wir uns schneiden, aber gar nicht bemerken, dass wir Blut verlieren. Unsere Sünden können aber auch wie eine schwere Wunde sein, so dass wir fast verbluten. Und sie können tödlich sein. Seien sie nun lässlich oder tödlich, ohne Dich schaffen wir es nicht, uns aus diesem Abgrund von Sünden und Dunkel zu befreien. Ohne dich versteht man weder den Ursprung, noch den Sinn der Dinge. Aber mit ihm beschreitet man den Weg der Tugend, den Weg der Erkenntnis. Deswegen sagte der heilige Paulus: «Ich richte niemanden». Niemand kann den Bruder richten, niemand. «Ich richte auch mich selber nicht» ; es ist Gott, der richtet.
Jesus sagt: «Seid vollkommen, wie es euer Vater im Himmel ist» . O Gott, vollkommen wie der Vater; seid vollkommen wie der Vater, vollkommen wie das unendliche Geheimnis, die absolute Vollkommenheit! Eine andere Stelle im Evangelium klärt diesen Begriff «vollkommen»: «Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist» . Beides meint dasselbe. Wenn die Vollkommenheit Barmherzigkeit ist, dann sind wir ebenso wenig fähig, vollkommen wie barmherzig zu sein, aber wir gehen den Weg mit Ihm, wie ein Kind, das auf seinen Vater schaut, an dessen Hand es in den dunklen Wald geht und alle Schwierigkeiten auf dem Weg überwindet. Es ist ein Weg, auf dem es auch die Sünde gibt. Aber es darf kein Maß mehr darüber angelegt werden, wie der Mensch seine Zeit verbracht hat. Jegliches Maß ist aufgehoben. Nicht das Maß zählt («wir sind fähig, wir sind nicht fähig, wir sind gut, wir sind nicht gut»), sondern die Ungeschuldetheit, die Gratuität: Das Herz ist bestimmt vom Wunsch, die Ungeschuldetheit zu leben, bestimmt vom Wunsch, die Barmherzigkeit nachahmen zu können. Darin liegt der entscheidende Anfang, hier deutet sich anfanghaft die Vollkommenheit an - in der Gratuität, in der Gratuität!
Betrachten wir den letzten Teil des Evangeliums. Die Apostel kehren mit einem leeren Boot vom Fischen zurück. Sie haben keinen einzigen Fisch gefangen, obwohl sie die ganze Nacht über gefischt haben. In der Ferne sehen sie am Ufer eine Silhouette und halten sie für ein Gespenst. Johannes dagegen sagt: «Es ist der Herr». Petrus springt daraufhin sofort in den See und ist nach wenigen Schwimmzügen am Ufer. Es war tatsächlich der Herr. Er hatte für sie gebratenen Fisch vorbereitet. Inzwischen kommen auch die anderen Apostel an Land. Ihr Boot ist nun voll von Fischen, da sie seinem Rat gefolgt waren: «Werft das Netz auf der anderen Seite aus.» Ein weiteres Wunder also. Nun stehen sie alle um jenen Mann herum, und keiner wagt etwas zu sagen, denn es war klar, dass es der Herr war. Unterdessen sagt er: «Essen wir!». Also setzen sie sich auf den Boden und essen. Jesus wendet sich Simon zu, der neben ihm sitzt. Er sagt nicht: «Simon, wirst du mich nochmals verleugnen?», «Simon, wirst du mich nochmals in Versuchung führen wie damals, als ich dir sagte: ‚Weg von mir Satan‘?», «Simon, wirst du dich nochmals meiner schämen, wie vor jener Magd bei Pilatus?», «Simon, wirst du nochmals all deine bisherigen Sünden begehen, all das Unheil verursachen?». Er sagt ihm nichts von all dem. Er schaut ihn an und sagt: «Simon, liebst du mich?». «Herr, du weißt - antwortet Simon beim dritten Mal -, dass ich dich liebe». Diese Antwort bedeutet die Anerkennung einer Zugehörigkeit: «Herr, ich gehöre zu dir». «Ja Herr, ich gehöre zu dir, ich bin dein; ich Sünder kann sagen: Ich bin dein, und ich bin ein Sünder, doch keine Sünde kann etwas daran ändern, dass ich dein bin.» Hier liegt der Schlüssel zu einer tiefgreifenden Veränderung, die auf einem Weg der Treue zu dem führt, was Gott will. Und man kann das nicht bemessen, man kann sich nicht hinstellen und Zeit damit verlieren, dies zu bemessen. Das Wunder besteht nicht etwa darin, dass es dem Menschen gelänge, sein Tun mit seinen Idealen in Einklang zu bringen, sondern dass er eine historische Person anerkennt und liebt, die dem Göttlichen entspricht, ja sogar mit dem Göttlichen übereinstimmt. Darin liegt das Wunder schlechthin auf Erden, dass ein Mensch Christus liebt.
In einem Interview sagte Mutter Teresa von Kalkutta unter anderem: «Ich erinnere mich, wie ich einen Mann von der Straße aufgelesen und in unser Haus gebracht habe. Und was sagte jener Mann? Er murrte nicht, er fluchte nicht, er sagte nur: ‚Ich habe auf der Straße gelebt wie ein Tier und werde jetzt sterben wie ein Engel, der geliebt und umsorgt wird.‘ Wir waren drei Stunden damit beschäftigt, ihn zu waschen. Und dann blickte er die Schwestern an und sagte: ‚Schwester, ich kehre jetzt in das Haus Gottes zurück.‘ Nie haben wir ein solches Lächeln gesehen wie auf dem Gesicht jenes Mannes.» Das Christentum hat diese Möglichkeit eröffnet, die Gegenwart Christi hat diese Möglichkeit eröffnet. Und dann fragt der Journalist: «Warum bringt ihr so große Opfer, gleichsam fast mühelos?». Und Mutter Teresa antwortet: «Es ist Jesus, für den wir alles tun, wir lieben Jesus.» Daher schreibt Kardinal Hamer zu Recht: «Auf diese Weise wird ein Faktum, das vor 2000 Jahren geschah, - welch Paradox! - für viele junge Leute von heute zur überraschendsten und interessantesten Neuigkeit.» Für viele junge Leute von heute: für Mutter Teresa oder für uns, in unserem Alter. Auch Mutter Teresa war nicht mehr ganz jung. Doch was jung ist, ist das Herz.
«Das Leben des Menschen besteht in der Zuneigung, die ihn am meisten trägt, und in der er seine größte Befriedigung findet» (so sagt in etwa Thomas von Aquin). Als Ehemann kannst du deiner Ehefrau gegenüber, die du liebst und der du treu geblieben bist, sagen: «Ja, Herr, ich liebe dich», wie Simon Petrus. Das ist kein Widerspruch, auch kein Nebeneinanderstellen. Vielmehr steht die eine Sache am Ursprung der anderen und trägt sie. Und wenn du nicht treu warst und das Zusammenleben mit deiner Frau mühsam ist, kannst du sagen: «Herr, du weißt, dass ich dich liebe», und doch machst du Fehler. «In der Erfahrung der großen Liebe - sagt Guardini - sammelt sich die ganze Welt [die ganze Welt, alles was geschieht: ein Kind, das geboren wird, die Frau, die Magenschmerzen, die Gesundung, die Sonne, der Regen, alles was geschieht] in das Ich-Du, und alles Geschehende wird zu einem Begebnis innerhalb dieses Bezuges.» Alles wird in der Liebe zu Christus angegangen, mit jener Liebe zu Christus, von der die Haltung einer jeglichen Sache gegenüber unterfangen ist.
Die Methode, um Christ zu sein, um Christ zu werden, um erneut Christ zu werden, ist also einfach. Diese Methode hat ihren Ursprung im Glauben. Der Glaube ist die Anerkennung einer außergewöhnlichen, unerklärlichen Gegenwart, von der wir spüren, dass sie mit unserer Bestimmung zu tun hat. Nochmals: Die Methode, um erneut Christ zu werden, hat ihren Ursprung im Glauben. Dieser besteht darin, im eigenen Leben eine außergewöhnliche Gegenwart anzuerkennen, die mit der Bestimmung zu tun hat. Wenn jemand Mutter Teresa von Kalkutta sieht, sieht er diese außergewöhnliche Gegenwart in ihr. Aber man versteht, dass es nicht sie allein ist. Dies ist es, wozu wir alle berufen sind; so dass andere, die uns sehen, verstehen, dass es in uns - egal ob Sünder oder nicht - etwas Außergewöhnliches gibt, das einen außergewöhnlichen Ursprung hat: «Ich liebe dich, Christus.» Auch ich, der größte Sünder, kann sagen: «Ich liebe dich, Christus.»
Ich schließe mit einem Satz, der ebenso wie der bereits zitierte von Kafka stammt. Doch gebt Acht, aus welchem Grund ich ihn zitiere. Kafka sagt: «Wenn auch keine [er war Atheist] Erlösung [der Sinn des Lebens] kommt, so will ich doch jeden Augenblick ihrer würdig sein..» Welch eine Größe, welch ein Großmut, welch ein Stoizismus! Er war wirklich ein Großer und meinte es ernst. Für ihn war es so. «Wenn auch keine Erlösung kommt, so will ich doch jeden Augenblick ihrer würdig sein.» Wenn einer nicht ständig danach strebt, der Erlösung würdig zu sein, auch wenn sie nicht kommt, ist er kein Mensch mehr. Denn der Mensch hat ein Herz voller Sehnsucht, und er ist für das Glück geschaffen, für die Wahrheit, für die Gerechtigkeit und die Liebe. Daher strebt er ständig danach, dieser Sehnsucht würdig zu sein, auch wenn es keine Antwort gibt. Doch Kafka macht einen Fehler. Wenn wir in der Schule wären, würde ich sagen: «Wer kann folgende Frage beantworten: worin macht Kafka einen Fehler?». In Folgendem: Er lebt jeden Augenblick so, dass er der Erlösung würdig ist, aber er erbittet die Erlösung nicht, er bittet nicht, er bettelt nicht. Dieses Wort gebe ich euch mit auf den Weg: das Betteln.
Mögen wir auch noch so große Sünder sein, aber betteln wir. «Ja, Herr, ich liebe dich», ich erbettle von dir die Fähigkeit voranzuschreiten, zu widerstehen, treu zu sein, fortzufahren; ich erbettle von dir die Fähigkeit, dich zu lieben. Denn von uns kommt nichts, alles kommt von ihm, von diesem Menschen, der vor 2000 Jahren von der Muttergottes geboren wurde und jetzt gegenwärtig ist: «Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt» - alle Tage bis zum Ende der Welt! Er ist gegenwärtig und zeigt sich durch die Außergewöhnlichkeit, die er in demjenigen verwirklicht, der an ihn glaubt. So klein wir auch sein mögen, wenn wir an ihn glauben und sagen «Herr, ich liebe dich», ereignet sich in uns etwas, das einen anderen, der es sieht, sagen lässt: «Wie gelingt es dir, so zu sein, warum bist du so?» Doch die größte Veränderung, die größte Außergewöhnlichkeit stellt der Mensch dar, der vom Geheimnis erbettelt, es zu erkennen, zu lieben und ihm zu dienen: Er bettelt. Und genau dies ist das Gebet. Das Gebet ist nichts anderes als Betteln: Von Gott die Fähigkeit zu erbetteln, den Satz von Petrus aussprechen zu können: «Herr, du weißt, dass ich dich liebe». Jeder von uns kann dies wiederholen, wer auch immer er ist und in welchem Zustand auch immer er sich befindet.