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Benedikt XVI.
Die Wiederentdeckung der Weite der Vernunft
Pigi Colognesi

Papst Benedikt XVI. hat mit seiner Regensburger Rede alle herausgefordert, die Weite der Vernunft wiederzuentdecken. Eine Rede, die aus der Welt des Islam ebenso angegriffen worden ist wie von Intellektuellen und Akademikern des Westens, die sich taub stellten oder sie einfach ignorierten.
Benedikt XVI. zeigt in seinen Ausführungen eine kühne Wertschätzung der Vernunft und ruft dazu auf, sie wieder auf rechte Weise zu benutzen. Zugleich gibt er ein leuchtendes Zeugnis der Vernünftigkeit des katholischen Glaubens: Die Erfahrung einer vernünftigen Beziehung zu Gott, ausgehend von dem Bedürfnis nach Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit und Glück, das im Herzen jedes Menschen verankert ist. Von dort führt der Weg bis zur Begegnung mit einem Faktum, einer Tatsache, die die Vernunft herausfordert, ihr Gefängnis zu verlassen – denn sie steht ständig in der Versuchung, sich in sich selbst zu verschließen. Anmerkungen zur Rede des Papstes von Pigi Colognesi und Marta Sordi.

«Es ist völlig überflüssig», so musste Giussani sich am Beginn der ersten Schulstunde im Jahre 1954 sagen lassen, «dass Sie vor uns hier über Religion sprechen.» «Und warum denn?». «Denn um zu sprechen, muss man denken, das heißt, Sie müssten Ihre Vernunft gebrauchen. Aber die Vernunft angesichts des Glau¬bens zu gebrauchen, ist nutzlos, weil beide wie zwei Geraden sind, die sich nie berühren. Die Vernunft kann etwas behaupten, der Glaube etwas ganz anderes. Es sind zwei getrennte Welten.» Seit jenem fernen, noch halb unbewussten, Beginn von Comunione e Liberazione ist es offensichtlich, dass das wahre Problem für das Christentum nicht der Glaube ist, sondern das rechte Verständnis der Vernunft. Nicht umsonst stand dies auch im Mittelpunkt des Meetings von Rimini 2006.
Man hole also in aller Ruhe die Rede Benedikts an der Universität von Regensburg vom 12. September wieder hervor und lese mit Aufmerksamkeit dieses glänzende Preislied auf die Vernunft. Die folgenden Anmerkungen haben sicher nicht die Absicht, die Aussagen des Papstes zusammenzufassen oder zu kommentieren. Sie sollen nur ein paar Gedanken hervorheben, damit so wenig wie möglich verloren geht. Jeder kann dann in den Texten unserer Geschichte nach Stellen suche, die im Einklang damit stehen und weitere Klärung bringen.
Kommen wir also zu dem, was ich hervorheben möchte.

Die Universität
Benedikt XVI. hat sein Hauptthema – den Zusammenklang von Glaube und Vernunft – vor akademischem Publikum nicht von ungefähr mit einer Reflexion über die Bedeutung der Universität eingeführt. Sie solle der Ort sein, wo ein jeder «im Ganzen der einen Vernunft» über die einzelnen Spezialisierungen hinaus arbeitet und so die universitas konstituiert. Die Universität scheint aber gerade ihre «Universalität» aufgegeben zu haben. Das kommt aber nicht so sehr von der Vermehrung des Fachwissens, sondern vielmehr dadurch, dass sich ein verengter Begriff von Vernunft durchgesetzt hat, wie die Rede darlegt. Dieser verengte Vernunftbegriff sucht nicht mehr das Ganze, sondern gibt sich damit zufrieden, spezialisierte Kleingärtnerei zu betreiben. Aber das ist nicht mehr Vernunft; sondern ein Bruchstück der Vernunft.

Das Wesen Gottes
Der laut Benedikt XVI. zentrale Satz in diesem Abschnitt (der auch die Straßen der islamischen Welt mit Zorn erfüllte), lautet folgendermaßen: «Nicht vernunftgemäß handeln ist dem Wesen Gottes zuwider». Warum ist das so wichtig? Zuerst, weil er jede gewalttätige «Pathologie» im Gebrauch der Religion verdammt. Aber vor allem, weil er auf die Fähigkeit der Vernunft hinweist, Gott zu «entdecken», wenn von ihr der rechte Gebrauch gemacht wird. Immer dann nämlich, wenn sie zur Wirklichkeit in Beziehung tritt, wird die Vernunft aus ihrem Wesen heraus dazu gedrängt, nach der Bedeutung zu fragen, ja das Wirkliche selbst als «Zeichen» des Geheimnisses, Gottes, zu verstehen. Dieser Schwung – also die Dynamik des Zeichens – wäre in der Praxis unausführbar, wenn es zwischen dem Handeln Gottes und unserer Vernunft keine «Analogie» gäbe. Mit anderen Worten, gerade weil der unbedingt transzendente Gott zugleich auch in der Wirklichkeit gegenwärtig ist, also auch nicht völlig abgeschieden ist, kann unsere Vernunft seine Existenz erkennen. Natürlich bleibt das Antlitz des Geheimnisses für die Vernunft geheimnisvoll verborgen. In der Tat knospt der Glaube wie eine unerwartete Blüte (die Selbstoffenbarung Gottes) auf dem Zweig einer nicht verengten Vernunft. Um diese Fähigkeit der menschlichen Vernunft zu benennen, benutzt Benedikt XVI. das kühne Wort von der «rechten Aufklärung». Als wolle er sagen, dass unsere westliche Kultur, die sich als vernünftig anpreist, weil sie Gott abgelehnt hat, alles andere als aufgeklärt ist.

Der griechische Geist
Das Bewusstsein davon, dass «zwischen Gott und uns, zwischen seinem ewigen Schöpfergeist und unserer geschaffenen Vernunft eine wirkliche Analogie» besteht, hat die Kirche immer schon besessen. Bei ihrem Aufstieg hatte sie Zeichen davon in den besten Ausdrucksformen der griechischen Philosophie gefunden. Das geht so weit, dass Johannes Gott zu Beginn seines Evangeliums als logos bezeichnet, also nicht nur Wort, sondern eben auch Vernunft. War diese Begegnung von christlicher Offenbarung und griechischem Geist nun zufällig, und muss sie überwunden werden, oder notwendig und daher von Dauer? Benedikt XVI. ergreift kraftvoll die letztere Option. Nicht etwa, weil er den griechischen Geist bevorzugt, sondern mit Blick auf das Wesen der Fleischwerdung. Diese nämlich verwirklicht sich immer durch besondere, konkrete Ausprägungen. Sobald diese Ausprägungen einmal angenommen sind, können sie nicht mehr als zufällig angesehen werden: Das Antlitz der Fleischwerdung selbst besteht nun aus ihnen. Das gilt sicherlich nicht für alle Ausprägungen gleichermaßen. Aber die Entdeckung der logos-Natur Gottes ist sicherlich kein griechischer Überbau der Inkarnation, sondern ein grundlegender Teil davon, gerade deshalb, weil das Evangelium sie sich unmissverständlich zu eigen macht. Es drängt sich hier die beispielhafte Erläuterung dieser Dynamik durch das Zusammenspiel von menschlichem und göttlichem Faktor auf, wie es Giussani in seinem Buch Warum die Kirche? entwickelt.

Die Enthellenisierung
Der Begriff «Enthellenisierung» mag schwierig erscheinen. Aber es ist klar, worum es geht: Wenn der Glaube sich von der Vernunft lossagt (unter dem Vorwand, den griechischen «Rationalismus» abzuschütteln), trifft das das Christentum im Wesenskern. Die Reformation führt letztlich zur Trennung zwischen «reiner» Vernunft, innerhalb derer die Frage nach Gott nicht gestellt werden kann, und der «praktischen» Vernunft, wo der Glaube nur in moralischer Hinsicht, in der Lebenspraxis Einfluss hat. Zu einem ähnlichen Schluss kommt die «zweite Enthellenisierungswelle», die den historischen Christus nur in den Texten sucht und aus ihm «im letzten den Vater einer menschenfreundlichen moralischen Botschaft» macht. Bleibt zuletzt die gegenwärtige Enthellenisierungswelle, derzufolge dasjenige Christentum, das durch die europäische Tradition hindurch empfangen wurde, für die Völker außerhalb des Alten Kontinents ungeeignet sei. Hier sei nur daran erinnert, dass sich ein Glaube, der nicht als unverdient empfangene und unvorhersehbare Antwort auf das Bedürfnis der Vernunft (die ja allen Menschen gemeinsam und einzig mögliche Grundlage für einen Dialog ist) verstanden wird, zum Moralismus zusammenschrumpft, also zum Vorrang des Sollens vor dem Sein, oder zu einer allgemeinen Menschenfreundlichkeit. Ferner ist auch die Mission unmöglich, wenn man sich nicht gewiss sein kann, dass der Glaube eine Antwort auf das Herz beziehungsweise die Vernunft jedes Menschen ist. Und tatsächlich vertreten einige Theologen die Theorie, dass die Mission sogar schädlich sei.

Die Gleichsetzung von Wissenschaft und Naturwissenschaft
Wenn der Vernunft keine «Analogie» zum Geheimnis Gottes zueigen wäre, könnten Fragen über Gott – also über den Sinn – gar nicht gestellt werden. Wir wären dann gezwungen, einzig der naturwissenschaftlichen Rationalität einen Wert beizumessen. Das aber würde bedeuten, dass der Mensch nur in jenen Bereichen Gewissheit erlangen könnte, die ihn im Grunde genommen am wenigsten interessieren, da ja gerade alles, was mit einer Bedeutung zu tun hat, ausgeschlossen wird. Hier wird der Vernunft die Form eines verschlossenen Zimmers gegeben, während sie doch ein weit aufgerissenes Fenster ist. Das Fenster, von dem aus Gott, der uns als seinesgleichen geschaffen hat, sich als Geheimnis erspähen lässt. Auf diesem Weg der unerschöpflichen Suche nach Bedeutung liest die Vernunft in der Wirklichkeit und entdeckt ihre Antriebkräfte mit den je angemessenen Mitteln für jeden Gegenstand, dem sie begegnet. Mit anderen Worten, sie betreibt wahre Wissenschaft.