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CL - La Thuile
Das Gedächtnis: Die Methode des Ereignisses


Samstagabend, 26. August 2006
Einführung
Julián Carrón

Wenn ich an einen jeden von euch denke, an die lange Reise, die ihr hinter euch habt, um hierher zu kommen, mit der ganzen Erwartung, die in eurer Menschlichkeit und eurem Herzen begründet ist, dann kann ich nicht umhin die absolute Unverhältnismäßigkeit zu sehen, die Ohnmacht all unserer Mühen, auf diese Erwartung zu antworten. Das, was wir ersehnen, ist zu groß, was ein jeder von uns in seinem Herzen ersehnt, ist zu groß, als dass wir armseligen Menschen auf diese Erwartung antworten könnten. Dies lässt uns die Kraft eines anderen erflehen, die Kraft des Geist Gottes, damit er diese Sehnsucht erfülle: Er ist es, der uns hier zusammengeführt hat, Er ist es, der uns zusammenruft, weil Er der einzige ist, der diese Sehnsucht erfüllen kann. Je mehr uns dies bewusst ist, desto mehr wird unser Wesen mit dem Ruf zusammenfallen, mit der Bitte, die wird jetzt an den Heiligen Geist richten.

Komm Heiliger Geist
Als ich über diesen Moment unserer Begegnung und über den Schritt, vor dem ein jeder vor uns steht, nachdachte, habe ich mich gefragt: was kann uns, die wir aus allen Teilen der Welt zusammengekommen sind, gemeinsamer sein als die Sehnsucht nach Gewissheit auf dem Weg, den wir gehen? Jeder von uns – ich kann dies ohne jeden Vorbehalt sagen – will im Leben keine Zeit verlieren, will sich in den wichtigsten Dingen des Lebens nicht irren, will den Weg nicht verfehlen, will gewiss sein, sicher sein, auf dem richtigen Weg zu sein. Wir wollen unser Leben nicht verspielen, wir wollen nicht, dass die Zeit umsonst vergeht. Wir wollen die Gewissheit haben, dass der Weg, den wir gehen, der wahre sei – und zwar sowohl im Hinblick auf unsere Zuneigung wie unsere Arbeit, unsere Beziehungen oder unsere Zeit. In allem wollen wir Gewissheit erlangen. Wir alle kennen die Folgen, die sich einstellen, sobald sich in unserem Leben auch nur die Möglichkeit auftut, den Weg zu verfehlen, sich zu verirren.
Je öfter man auch nur einen Augenblick innehält und daran denkt, desto größer wird das Bewusstsein der eigenen Sehnsucht nach Gewissheit. Dies ist keine Frage der Kohärenz. Denn man kann auf dem Weg auch humpeln. Das Problem besteht hingegen darin, mit der Gewissheit voranzugehen, dass man auf dem richtigen Weg ist, auch wenn es langsam geht, sogar humpelnd, aber eben mit einer Gewissheit, was den Weg angeht. Wir alle kennen die unzähligen Versuche, die wir im Leben anstellen, um gut zu leben. Es ist wirklich beeindruckend, wenn man bedenkt, wie viele Versuche wir in einem jeden Teilaspekt unseres Lebens anstellen. Aber die Gewissheit kann nicht aus einem Voluntarismus unsererseits hervorgehen. Es reicht nicht zu «sagen»: Ich bin gewiss, sondern es ist notwendig, gewiss zu «sein». Und die Gewissheit besteht in einem Urteil. Wir können erst dann wirklich ausruhen, wenn wir mit Gewissheit sagen können: «Das ist wahr. Das ist der Weg.» Auch wenn uns das nicht das Drama erspart, diesen Weg zu gehen und zu leben. Der Weg endet demnach nicht hier, aber diese Gewissheit lässt uns ausruhen.
Deshalb ist es entscheidend für uns, dass wir lernen, unseren Weg zu beurteilen, wie Giussani stets gelehrt hat. Kein Voluntarismus kann dieses «urteilen» ersetzen, diese Gewissheit, die von einem Urteil herrührt. Deswegen werden wir erst dann wahrhaft Freunde und Weggefährten zur Bestimmung, wenn wir uns bei der Beurteilung, das heißt, wenn wir uns helfen, den Vergleich anzustellen, zu dem uns Giussani seit Beginn der Geschichte unseres Charismas immer wieder eingeladen hat. Das heißt, alles, was passiert, mit jener Gesamtheit an Bedürfnissen und Evidenzen zu vergleichen, die unser Herz konstituieren. Mir scheint, vom Gesichtspunkt der Methode aus gesehen gibt es nichts Entscheidenderes als diese Fähigkeit, in allem den Vergleich anzustellen. So kann der Mensch lernen, welches der Weg ist – auch wenn er Fehler macht. Denn er kann zwischen dem unterscheiden, was ihm entspricht, und dem, was seiner wahren Sehnsucht nicht entspricht.
Wir haben das Glück erfahren, dass wir dabei nicht allein gelassen sind. Wir sind hier zusammen, als Begleiter auf dem Weg zur Bestimmung, um uns zu helfen, um urteilen zu lernen und so zu einer Gewissheit zu gelangen, die uns erlaubt, den Weg als Menschen zu gehen. Denn wir sind gewiss, dass dieser Weg uns nicht ins Nichts führt. Die Gnade, die der Herr uns zuteil werden ließ besteht darin, dass wir einen Ort gefunden haben, in dessen Zentrum das Ich eines jeden von uns steht. Und der einzige Grund des Zusammenseins besteht darin, dass jeder von uns die Bestimmung erreicht; gleich wie auf welche Weise wir zusammengefunden haben, entsprechend einem Plan, der nicht von uns stammt, sondern den das Geheimnis vorgegeben hat.
Das ist das exakte Gegenteil eines schematischen Verständnisses oder eines Automatismus. Wir sind nicht hier, um uns gegenseitig zu ersetzen oder irgendjemandem von uns das Drama der Beziehung zum Geheimnis zu ersparen, sondern um uns gegenseitig zu unterstützen und zu begleiten. Alles, was wir in diesen Tagen tun werden, die Arbeit, die wir auf uns genommen haben, um dieses Treffen vorzubereiten, dient ausschließlich dem Ziel, uns in der Erkenntnis dessen zu helfen und zu unterstützen, was wahrhaft auf die grundlegenden Bedürfnisse unseres Ich antwortet. Die Zärtlichkeit des Herrn gegenüber jedem von uns ist beeindruckend. Er hat uns nicht in unserem Nichts gelassen, sondern ist uns entgegen gekommen und hat sich unserer Nichtigkeit erbarmt.
Welche Arbeit dies bedeutet, habe ich in aller Klarheit durch einen Brief verstanden, den mir ein Mädchen in diesem Sommer geschickt hat. Sie schreibt: «Lieber Julián, ich will nochmals betonen, wie sehr mich dein Beharren auf dem Herzen aus meinem Nichts herausreißt. Als ich diesen Weg begann, habe ich am Anfang unausweichlich mein Herz gebraucht, aber danach habe ich die Methode umgekehrt und den religiösen Sinn nur noch als eine hochinteressante Voraussetzung betrachtet, dabei aber die Frage zensiert: „Was will ich jetzt? Was entspricht mir wirklich?“ [Diese Frage zu zensieren, bedeutet den religiösen Sinn zu zensieren]. Ich wurde mir bewusst, dass ich in diesen Jahren aufgehört habe, mein Herz zu gebrauchen, so dass ich die Beschreibung des Anfangs nun gerade umkehren könnte. An die Stelle der Wahrnehmung einer Verheißung und der Bindung an alles Wirkliche ist der Nihilismus getreten, also der Gedanke, dass die Sehnsucht nach Unendlichkeit und nach Glück letzten Endes ein wenig übertrieben sei. Bestand das Problem am Anfang noch darin, dass man meinte, man müsse einfach mit dem Vergleich beginnen, um Ihn anzuerkennen, so verstehe ich jetzt, dass ich diese Gegenwart regelrecht auslösche, wenn ich das Herz nicht mehr gebrauche. Also erneut die umgekehrte Methode: Ich wende ein Schema an (vielleicht sogar das „Schema CL“) und folgere dann, wie ich mich zu bewegen habe, anstatt immer neu mich in das Abenteuer eines jeden Tages zu stürzen, um zu sehen, wie er enden wird und wohin Er, wohin das Geheimnis mich führen will. Die Bitte bleibt dabei als religiöse Formalität weiter bestehen, aber sie dominiert nur noch im Hintergrund, aus Pflichtgefühl und Sorge.
Am Anfang war die Wahrnehmung dieses Bruchs noch evident. Es erschreckte mich aber, diese Dramatik überhaupt nicht mehr zu spüren. Mit Sicherheit ergab sich aus dem Treffen mit einer Freundin erneut diese Notwendigkeit, das Bild aufzuopfern, das man sich vom Herzen gemacht hat; von diesem wirkmächtigen Herzen, das so unbequem und unbezähmbar ist, dass ich es – dem Himmel sei Dank – nicht selbst verwalten kann. Das Herz hat angesichts der Entdeckung dieses wertvollen Schatzes, für den ich alles verkaufen will, plötzlich zu vibrieren begonnen: angesichts von Christus, der mir jetzt entspricht, der mich mit Sehnsucht danach erfüllt, dass jeder Augenblick Beziehung zu Ihm sei. Es interessiert mich nicht länger, das zu verteidigen, was ich schon weiß oder was ich mir errichtet habe. Ich will, dass diese Gegenwart mich besiegt und mich durchdringt. Ich entdecke das Bedürfnis, meinem Tag eine Ordnung zu geben, um diesem einzigartigen Du, Zeit zu geben und um innerhalb der Dinge, die ich zu tun habe, dieser Bevorzugung Raum zu geben, dieser konkreten Liebe in meinem Leben. Ich bitte dich, mich weiterhin immer wieder wachzurütteln und mich zu korrigieren. Ich umarme dich.»
Es handelt sich also um ein Problem der Methode. Wenn wir die Methode umkehren, dann ist nicht mal mehr Er, Christus, interessant und die Angst dominiert im Hintergrund.
Bei den letzten Exerzitien der Fraternität haben wir nicht wie vielleicht andere Male ein neues Thema in den Mittelpunkt gestellt (Die Hoffnung lässt uns nicht zugrunde gehen), sondern wir haben einen umfassenden Vorschlag gemacht, verbunden mit einer Wegvorgabe. Was hat sich von damals bis heute ereignet? Indem ich wie bereits im letzten Jahr dieses Treffen mit einer Versammlung beginne und so die Methode ändere, versuche ich euch zu zeigen, dass die Neuheit des Lebens nicht darin liegt, einige geniale Sätze zu hören (die ich wahrscheinlich gar nicht von mir geben könnte). Die Gewissheit, nach der wir uns alles sehnen, kommt aus der Überprüfung eines Vorschlages. Denn wir können nicht von einem korrekten Diskurs und einer ständigen Angst im Hintergrund leben. Wir leben, wenn wir in der Gegenwart, in unserem Alltag, diese Neuheit überprüfen können, die Christus in das Leben bringt. Darum wird es die Überprüfung des Vorschlages sein, der uns bei den Exerzitien der Fraternität gemacht wurde. Sie wird einem jeden von uns klar machen, dass es vernünftig ist, dem Weg zu folgen, der uns von der Vernünftigkeit des Christseins überzeugt, also davon, das ganze Leben Christus zu geben.
Wenn wir dies nicht in unserem Leben erfahren, wenn wir den menschlichen Gewinn von dem, was wir uns sagen, nicht sehen, wenn wir in der Erfahrung nicht sehen, wie sehr das Leben vom Morgen bis zum Abend wieder aufblüht, dann werden wir – ob wir wollen oder nicht – weiterhin bloß Versuche anstellen, «Antworten» auf das Leben suchen. Und dies geschieht oftmals auch unter uns, die wir Christus bereits begegnet sind. Angesichts mancher Dinge, die ich höre, muss ich oft feststellen: «Was du da sagst, ist wie das Bild, das Don Giussani von der Ebene beschreibt in seinem Buch Am Ursprung der christlichen Anspruchs : Es bleibt einer der Versuche, eine Beziehung mit dem Geheimnis aufzubauen, diese Brücke zu errichten: Dein Versuch ist edel, aber traurig.» Und dies gilt nicht nur für jene, die noch nichts von Christus gehört haben, sondern oft können wir dies über uns selbst sagen. Warum? Etwa weil wir Ihm noch nicht begegnet sind? Nein! Aber es reicht nicht, Ihm zu begegnen! Wenn wir keine Verifikation beginnen, die uns jedes Mal mehr von dem überzeugt, dem wir begegnet sind, dann klammern wir uns weiter an unsere Versuche. Wir können sagen: «Aber das weiß ich schon, diese Rede kenne ich schon», und machen mit unseren Versuchen weiter.
Helfen wir uns in diesen Tagen bei der Überprüfung, der Verifikation dessen, was wir uns bei den Exerzitien der Fraternität gesagt haben. Darin liegt die Möglichkeit, nicht wieder Versuchen zu erliegen, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt sind. Deshalb werden wir die morgige Versammlung der Verifikation widmen. Wir haben keine Eile, es ist ein Weg, den wir gemeinsam gehen, es ist nicht notwendig, neue Inhalte in den Diskurs einzuführen. Wir müssen uns aber darin helfen, das Gesagte zu verstehen. Wir müssen uns helfen, die Verifikation dessen, was wir gelebt haben, miteinander zu teilen, die Fragen, die sich uns stellen, die Zweifel, alles, was unklar ist, so dass wir wirklich zu Weggefährten werden. Deswegen ist das Thema die Erfahrung. Morgen geht es um die Erfahrung, nicht um die Reflexionen dessen, was ich gesagt habe: Die könnt ihr euch sparen! Wir wollen eine Erfahrung überprüfen, so dass wir alle – und darum gilt es zu bitten – mit einer größeren Gewissheit von hier weggehen werden: gewisser, überzeugter und sicherer, dass dies der Weg ist.
Ich grüße euch alle, einen jeden persönlich. Ein jeder von euch ist wertvoll, weil er uns vom Geheimnis gegeben wurde. Denkt man kurz darüber nach, dann wird einem bewusst, dass keiner von uns hier wäre, wenn ihn nicht das Geheimnis erwählt hätte, um an dieser Gemeinschaft teilzuhaben. Aus diesem Grund umarme ich jeden von euch, weil ihr ein Teil von mir seid, so wie ich ein Teil von euch bin.
Wir sind hier aus 71 verschiedenen Ländern, in denen die Bewegung gegenwärtig ist, zusammengekommen. Ich hoffe, wir können alle fruchtbar an der Arbeit dieser Tage teilnehmen. Bitten wir in der heiligen Messe, dass ein jeder sein Bestes dazu beitragen kann, so dass es entsprechend der Gnade, die ihm zuteil wurde, allen dient.

Montagmorgen, 28. August 2006
Lektion
Julián Carrón

Mein Beitrag von heute morgen soll gleichsam die Dinge auf den Punkt bringen, um so der gemeinsamen Arbeit zu helfen. Ich will aber keine neuen Themen aufreißen (denn es gibt inhaltlich noch viel über die Exerzitien der Fraternität zu arbeiten).
Wir haben am ersten Abend bei der Sehnsucht nach Gewissheit angesetzt, die uns allen zueigen ist. Wir sehnen uns danach, uns in unserem Leben nicht zu verirren, uns unseres Weges gewiss zu sein. Oftmals müssen wir dabei jedoch eine letzte Zerbrechlichkeit feststellen, für die ein mangelndes Urteilsvermögen verantwortlich ist. Denn es ist in der Tat ein Urteil, das uns gewiss werden lässt, das uns die Dinge, die Tatsachen, das Gegebene mit Gewissheit bejahen lässt, und uns so in die Lage versetzt, unsere ganze Existenz auf das zu setzen, was sich uns ereignet hat. Wenn dieses Urteil fehlt, dann sind wir den Gefühlen, den Umständen und den Gemütsverfassungen ausgeliefert. Deshalb besteht Don Giussani immer darauf, dass es einer Erziehung bedarf.

I. Die zum Verständnis notwendige Erziehung
Den ersten Punkt will ich daher der Erziehung widmen, die für das Verständnis notwendig ist. Don Giussani schreibt eindrücklich im achten Kapitel seines Buches Am Ursprung des christlichen Anspruchs («Wie Jesus das Leben versteht»): «Um den Wert einer Person [oder von etwas] anhand ihrer Gebärden und ihres Handelns zu beurteilen [die Neuheit], braucht man eine ‚Genialität’ – eine ‚menschliche Genialität’.»
Wir machen täglich die Erfahrung, dass es gleichsam einer Genialität bedarf, wenn jemand verstehen soll, was wir ihm mitzuteilen versuchen, – wenn er uns wirklich verstehen soll. Wenn der andere diese nicht hat, dann kann er uns trotz all seines guten Willens einfach nicht verstehen. Wie oft haben wir in schwierigen Situationen oder bei großen Sorgen versucht, andern davon mitzuteilen (wir haben dazu nicht den Erstbesten ausgesucht, sondern haben die Person gut ausgewählt, eine Person, die bereit ist, uns zuzuhören und uns anzunehmen). Dann mussten wir aber an der Art seines Ja-Sagens und auf unsere Frage «Verstehst du mich?» bemerken, dass er überhaupt nichts verstanden hat. Denn der gute Wille reicht zum Verstehen nicht aus. Es braucht eine menschliche Erfahrung, die es uns erlaubt, das, was der andere sagt, auch zu begreifen und zu verstehen. Auch wenn der andere – weil er unser Freund ist, weil es ihm wichtig ist, weil er uns achtet – ganz aufmerksam, ganz darauf ausgerichtet und begierig ist, uns zu verstehen, versteht er ohne diese menschliche Erfahrung trotzdem nichts.
So versteht man die Genialität Don Giussanis, der sich dieses Faktors bewusst ist und sagt, dass es, um zu bewerten, um zu urteilen, um etwas zu begreifen «einer Genialität» bedarf. Es braucht die Möglichkeit «einer menschlichen Übereinstimmung» . Daher ist das Ich notwendig und wir können uns nie erlauben, dieses Ich zu überspringen. Denn genau dieses Ich begreift, dieses Ich, das zum Staunen fähig ist und dazu, die Andersartigkeit zu entdecken; das fähig ist, das, was ihm auf dem Weg begegnet, zu beurteilen und einzuordnen.
Don Giussani hat diese beiden Dinge nie getrennt voneinander gesehen, wie wir bei den Exerzitien gesagt haben. In Dall’utopia alla presenza (Von der Utopie zur Gegenwart) betont er: «Wir erkennen Christus als wahr, weil er diese [unsere] ursprüngliche Erfahrung bewegt. In diesem Sinn können wir das Menschliche nicht umgehen und es braucht das Menschliche, um bewusst Christ sein zu können» ; wir können hinzufügen: ... um bewusst Mensch sein zu können, um uns untereinander zu verstehen, damit ein menschlicher Dialog, eine menschliche Beziehung möglich ist. Was mein und dein Ich in einem Dialog ergreift und was von Christus ergriffen wird, ist genau dies: «das Fleisch und die Knochen, die wir haben, dieses Bündel an Bedürfnissen, die uns ausmachen, ist unsere Menschlichkeit» . Das, was ein jedes Ding ergreifen kann, ist unsere Menschlichkeit.
Je größer diese Menschlichkeit ist, je bewusster, je lebendiger, je reicher unsere Menschlichkeit ist, umso leichter ist es ihr, die Zeichen zu begreifen. Don Giussani macht das Beispiel vom Arzt. Wir erkennen den anderen an den Zeichen, die er uns gibt: Die Person drückt sich in ihren Gesten aus, diese Gesten sind wie Symptome, durch die wir den anderen begreifen und verstehen, wer er ist. «Je genialer der Arzt ist, desto besser kann er die Symptome einordnen.» In diesem Sinn bedarf es einer menschlichen Genialität. Je genialer und ausgeprägter unsere Menschlichkeit ist, je lebendiger dieses Bündel an Bedürfnissen in uns ist, desto schneller begreifen wir die Unterschiede zwischen der einen und der anderen Sache, desto weniger Symptome oder Zeichen brauchen wir, um zum entscheidenden Punkt zu gelangen. Unser Freund, der Bildhauer, der gestern Abend sprach, hat die Andersartigkeit dessen, was er hier vor sich hatte, sofort wahrgenommen: Es war wie im Paradies, sagte er. Wir können auch zerstreut hier sein. Wenn aber unser Freund nach Hause geht, wird er das, was er hier gesehen und was sein Ich ergriffen hat, nicht vergessen können! Um dahin zu gelangen, hat er sich nicht mehr angestrengt als andere oder mehr geübt. Nein, aber er kam mit einer Menschlichkeit hierher, die potenziell so menschlich war, dass sie die Andersartigkeit sofort begriffen hat. Wir alle waren gestern Abend hier, aber wie viele von uns haben wie er die Andersartigkeit wahrgenommen? Wer war in der Lage, so wie er zu urteilen? Es ist nicht so, dass einigen von uns mehr Fakten zur Verfügung standen als anderen. Wir haben alle das gleiche gesehen.
Der Unterschied lag nicht in dem, was wir vor uns hatten (das war für alle gleich), sondern in dieser Menschlichkeit, die in der Lage ist, zu begreifen, in der menschlichen Genialität, von der Don Giussani spricht. Wenn diese fehlt, fehlt uns die Fähigkeit zum Urteilen, die notwendig ist, um im Leben voranzuschreiten. Daher sehnen wir uns danach, mehr von dieser Fähigkeit zu haben, um alles, was uns begegnet, beurteilen zu können.
Was können wir tun, damit diese Fähigkeit zum Urteil, diese menschliche Genialität, diese letzte Öffnung wächst? Don Giussani definiert diese Genialität als «letzte Öffnung des Geistes», als totale Öffnung des Ich. «Was wir religiöse [menschliche] Genialität genannt haben, dieses letzte Sich-Öffnen des Geistes – wenn auch ausgehend von den je unterschiedlichen natürlichen Anlagen – ist etwas, um das sich jeder Mensch immerfort bemühen muss. Hier liegt eine große Verantwortung in der Erziehung.» Denn wir kommen tatsächlich ganz offen in die Welt, ganz auf die Wirklichkeit hin geöffnet. Wir sehen das im Kind, das allem gegenüber neugierig ist: Alles versetzt es in Erstaunen, alles zieht es an. Aber um als solche bestehen zu bleiben, muss diese letzte Öffnung, mit der wir zur Welt kommen, ständig erzogen werden. Darin besteht die Aufgabe der Erziehung.
«Diese Fähigkeit des Verstehens entspricht zwar unserer Natur [unserem Ich], aber sie entsteht nicht spontan.» Vorsicht, es ist keine Spontaneität! Es ist nicht so, dass ich sie einfach so wach halten kann, ohne etwas dafür zu tun. Daher ist es auch schwierig, einen Erwachsenen zu finden, der nicht skeptisch wäre. Denn diese Offenheit bleibt nicht spontan erhalten. Wir müssen uns ständig dafür einsetzen. «Im Gegenteil», sagt Don Giussani, «wenn man sie auf reine Spontaneität reduziert, dann stirbt auch die Basis an Sensibilität ab, über die man ursprünglich verfügt.» Wir verstehen das sehr gut, weil wir dies in unserer Erfahrung nachvollziehen können.
«Die Verkürzung des Religiösen [dieser letzten Öffnung des Geistes] auf reine Spontaneität [sprich diese Arbeit, diesen Einsatz nicht zu erbringen] ist die endgültige und subtilste Weise, es auszulöschen [nichts zu tun, bedeutet also, sie auszulöschen]. Man sieht dann nur noch seine wechselnden und vorläufigen, an eine zufällige Sensibilität gebundenen Aspekte.» Man reduziert alles auf eine zufällige Sentimentalität. Don Giussani macht ein klares Beispiel. «Wenn unsere Empfindsamkeit für das zutiefst Menschliche nicht immerfort gefördert und ausgerichtet wird, kann kein Faktum [Achtung: kein Faktum], nicht einmal das Aufsehen erregendste, uns ‚etwas sagen’.»
Das ist furchtbar! Denn das heißt, es ist nicht etwa so, dass uns nichts entspricht, sondern selbst das eklatanteste Ereignis findet keine Entsprechung mehr in uns, weil ich es nicht als entsprechend wahrnehmen und begreifen kann. Nicht dass es verschwunden oder inexistent wäre, sondern dass ich es nicht als solches wahrnehme, selbst wenn es das eklatanteste Ereignis ist. «Jeder lernt früher oder später das Gefühl eines dumpfen Fremdseins der Wirklichkeit gegenüber kennen, wie man es etwa empfindet, wenn man sich einen ganzen Tag lang von den Umständen hat treiben lassen und keinerlei Eigeninitiative entwickelt hat: Unversehens haben Dinge, Worte und Fakten, die vorher klare Motive für unser Handeln gewesen waren [also evident waren und uns entsprachen], ihre Bedeutung für uns verloren [wir nehmen sie nicht länger als entsprechend wahr] und wir verstehen sie nicht mehr [sie sagen uns nichts mehr].» Versteht ihr dieses Drama? Um die Entsprechung wahrzunehmen, reicht es nicht, dass Christus in der Geschichte gegenwärtig bleibt («Ich bleibe bei euch alle Tage, bis ans Ende der Welt» ), sondern es bedarf eines Ich, das in der Lage ist, Ihn anzuerkennen. Und dieses Ich muss kontinuierlich angeregt werden. Man muss sich fortwährend darum bemühen. Worin besteht diese Bemühung? Nicht in einer wie auch immer gearteten Anstrengung, sondern in dem, was im zehnten Kapitel des Religiösen Sinn genannt wird. Diese Bemühung bedeutet nichts anderes als «stets intensiv das Wirkliche zu leben» . Damit in diesem Zusammenprall meines Ich mit der Wirklichkeit diese letzte Frage, diese letzte Öffnung, von der die Rede war, auftaucht. Was mich in Staunen versetzt und mir diese Öffnung erleichtert, ist dieses intensive Leben der Wirklichkeit, gleich ob sie schön oder hässlich ist. Denn die Frage wird nicht etwa nur von der Schönheit einer Sache wachgerufen, vom Gesicht der geliebten Person («Aber wer bist du?»); sie wird auch im Schmerz über die Krankheit der Mutter oder des Freundes oder über den Tod des Kindes wachgerufen, oder wenn mir meine Arbeit Mühe bereitet oder ich keine Lust mehr habe: «Aber welchen Sinn hat dies?» Die Wirklichkeit ruft die menschliche Bitte hervor. Diese Bitte entsteht nicht in dem, der nichts tut, sondern in dem, der sich mit der Ganzheit des Lebens auseinandersetzt. Je mehr du dich einsetzt, desto mehr kümmerst du dich um die Person, die krank ist, und desto klarer stellt sich dir die Frage: «Aber was für einen Sinn hat dies?»
Hier kommt die Natur unseres Ichs zum Vorschein: Das Ich als Geheimnis, das Ich, das nicht reduziert werden kann, das immerfort offene Ich, weil es die Begegnung mit der Wirklichkeit immer wieder auf dieses Geheimnis hin öffnet. Es liegt in der Natur der Vernunft, sich zu öffnen und so zur wahren Vernunft zu werden. Hier begreifen wir die wahre Natur der Vernunft: Es ist diese letzte Öffnung, die sich angesichts der Wirklichkeit in uns auftut: «Aber welchen Sinn hat dies?», «Warum lohnt es sich zu leben?»
Die Natur der Vernunft ist diese Sehnsucht, dieses absolute Verlangen nach einer Bedeutung. Eine Wirklichkeit, die ganz erfüllt ist von den Worten: Gesamtheit, Geheimnis, Bedürfnis nach einer Gesamtbedeutung, das ist mein Ich! Dies ist das Bedürfnis, das ich in mir vorfinde, wenn ich die Wirklichkeit lebe: Je intensiver ich sie lebe, umso mehr taucht die Frage mit Klarheit in der Erfahrung auf. Nicht in der Theorie über das Wirkliche, in der Definition des Herzens oder der Vernunft, sondern nur im Zusammenstoß mit der Wirklichkeit. Nur in der Erfahrung begreife ich die Natur der Vernunft und die Natur meines Ich, nur dort nehme ich mein Ich als diese letzte und absolute Öffnung wahr.
Darin besteht der Kampf. Don Giussani ist zum Unterrichten in die Schule gegangen und hat betont, dass das Problem nicht der Glaube, sondern die Vernunft ist, der Begriff, den wir von Vernunft haben. Und unterscheiden wir uns oft nicht von den anderen und benutzen die Vernunft genauso wie sie. Es ist eine Vernunft ohne Geheimnis, ja eine Vernunft, die in Feindschaft gegenüber dem Geheimnis lebt.
Weil die Entsprechung, um die es uns geht, eine Antwort auf dieses Ich als Geheimnis ist, kann ich in der Erfahrung entdecken, was mir entspricht. Es handelt sich nicht darum, ein Konzept A oder ein Konzept B zu klären: Die Natur meines Ich «entsteht» in der Begegnung mit der Wirklichkeit, das, was wir Erfahrung nennen. Aus diesem Grund versteht man diese Dinge, die wir sagen, wesentlich besser durch die Beobachtung als durch theoretische Überlegungen – wie uns Don Giussani immer wieder lehrt –, also indem man auf die Erfahrung schaut, in der alle Faktoren vereint sind. Beispielsweise angesichts des Schmerzes über den Tod eines Kindes von Freunden, das gerade geboren wurde. In der Begegnung meines Ich mit dieser Tatsache, in dieser Erfahrung, kommt die ganze Tragweite meines Bedürfnisses nach Bedeutung zutage. Es handelt sich nicht um Teilaspekte, die wir irgendwie zusammensetzen müssen, sondern in der Erfahrung ist alles geeint.
In der Erfahrung sehen wir die Natur unseres Ich und der Wirklichkeit. Je intensiver man lebt, desto mehr wird man sich ihrer bewusst. So entsteht – kurz gefasst – die Frage: Quid animo satis? Was kann mein Ich erfüllen? Nur das, was in der Lage ist, mich zu erfüllen, kann ich wirklich als meinem Ich «entsprechend» bezeichnen. Was aber kann mein ich in der Erfahrung vollkommen zufrieden stellen?
Die Symptome einer ausbleibenden Antwort auf diese Suche, sind die Traurigkeit, die Langeweile, die Einsamkeit, das Gefühl des Ungenügens; und man beklagt, dass die Dinge, unzulänglich und nichtig sind, wie Leopardi es tat. Diese Symptome betrachten wir oftmals als Erschwernisse, die es zu verdrängen und zu zensieren gilt. Für ein Genie wie Leopardi hingegen sind es Zeichen der Gegenwart von Etwas anderem. Diese Symptome sind für jemanden, der wie Don Giussani über eine solche Vertrautheit mit dem Menschlichen verfügt, die ersten Zeichen für das Geheimnis: «Ich bin es, der dir in allem, was du kostest, fehlt». In der Begegnung mit einem solchen Menschen, der ein jedes dieser Symptome als Zeichen für das Geheimnis erkennt («Ich bin es, der dir fehlt»), sehen wir, was es bedeutet, das Ich nicht zu reduzieren. Wir erkennen ein Ich, das seiner Natur als Geheimnis entspricht.
Oftmals fragen wir uns, warum uns die Wirklichkeit zuerst anzieht und dann enttäuscht! Wir verstehen nicht, dass das, was uns anzieht in Wahrheit das ist, was in dem Wirklichen verborgen liegt. Das, was uns anzieht, ist der Fluchtpunkt. «Jede Sache – sagt Don Giussani in dem Text über die Auferstehung – hat einen Fluchtpunkt hin zum Unendlichen, zum Ewigen. Und genau dies zieht uns an, weil es dem Maßstab des Herzens entspricht» . Das, was dich in den Dingen anzieht, ist nicht das Ding selbst, sondern dieses «Etwas innerhalb von etwas», von dem wir letztes Jahr gesprochen haben, dieses Etwas, das der «Fluchtpunkt» ist. Wenn man sich der Tatsache nicht bewusst wird, dass es der Fluchtpunkt ist, der uns anzieht, werden wir früher oder später enttäuscht. Und das geschieht nicht, weil uns die Wirklichkeit enttäuscht, sondern weil man das, was man vor sich hat, auf ein Wirkliches ohne Geheimnis reduziert hat, ohne Fluchtpunkt.
Es bedarf einer Treue, einer enormen Treue zur eigenen menschlichen Erfahrung, um nicht stehen zu bleiben. Vielleicht sieht man das am deutlichsten in der Erfahrung der Liebe. Nichts weckt unser Ich so sehr auf, nichts lässt uns unserer Sehnsucht nach Glück so bewusst werden, wie die geliebte Person. Ihre Gegenwart ist ein so großes Gut, da es die wahre Natur unserer Sehnsucht wachruft, uns die Tiefe und wahre Dimension dieser Sehnsucht begreifen lässt, die in der Sehnsucht nach Unendlichkeit liegt (wie oft haben wir Pavese zitiert, der schreibt: «"Da das, was der Mensch in den Lüsten sucht, etwas Unendliches ist und niemand je auf die Hoffnung verzichten würde, diese Unendlichkeit zu erlangen, darum geschieht es, dass alle Lüste im Ekel enden." – 21. Oktober 1940)!» Ein begrenztes Ich und ein begrenztes Du erwecken im jeweils anderen die Sehnsucht nach Unendlichkeit. Beide entdecken sich durch ihre Liebe auf eine unendliche Bestimmung hin ausgerichtet, spüren das Bedürfnis nacheinander, um nicht gelähmt und verschlossen innerhalb der eigenen Grenzen zu verweilen, sondern kontinuierlich auf das Unendliche ausgerichtet zu sein.
Je mehr mich das Gesicht der geliebten Person betroffen macht, umso mehr öffnet es mich und weckt in mir die Sehnsucht nach dem Unendlichen: Ich brauche sie, ich brauche ihn. Aber wenn ich hier stehen bleibe, werde ich mir irgendwann bewusst, dass mich das nicht erfüllt. Darum hat der Papst sehr scharfsinnig bemerkt: «Die Liebe verheißt Unendlichkeit. In der Liebe machen wir die Erfahrung dieser völligen Öffnung auf das Unendliche hin. Die Liebe verheißt Ewigkeit, verheißt eine größere und gegenüber unserem alltäglichen Dasein vollkommen andere Wirklichkeit» . Der andere ist ein so großes, so wertvolles Gut, dass er unsere ganze Sehnsucht nach Fülle, die wir in uns tragen, zum Vorschein kommen lässt.
Die bezeugt Leopardi, das Genie Leopardis, in seinem Hymnus an Aspasia: «Ein Strahl des Göttlichen erschienst du mir, / o Weib, in deiner Schönheit.» . Die Schönheit der geliebten Person, der Frau, wird vom Dichter als göttlicher Strahl wahrgenommen, als Gegenwart des Göttlichen, des Unendlichen. Durch ihre Schönheit klopft Gott selbst an die Türe des Menschen. Wenn der Mensch die Natur dieses Rufes nicht versteht, und anstatt ihm Folge zu leisten und sich zum Unendlichen, zum Göttlichen ziehen zu lassen, bei der Schönheit, die er vor sich hat, stehen bleibt, wird sich diese Schönheit bald als unfähig erweisen, die Verheißung nach Glück, die sie geweckt hat, zu erfüllen. Wie Leopardi sagt: «Und noch vereint mit ihr, mit ihrem Leibe, / umfängt und liebt er jenes Bild, nicht sie. / Zuletzt erkennt er zürnend seinen Wahn / und sein vertauschtes Ziel, und ohne Fug / gibt er dem Weibe schuld.» Der Mann beginnt mit der Frau zu streiten, er wird zornig, weil ihre Gegenwart ihn nicht erfüllt, in ihm einen Durst erweckt, den sie nicht zu stillen in der Lage ist, einen Hunger hervorruft, der in ihr, die ihn hervorgerufen hat, keine Antwort findet. Daher kommt die Wut, die Gewalt, die uns häufig übermannt, wenn wir auf die Wirklichkeit zornig werden. Die Schönheit ist in Wahrheit ein göttlicher Strahl, ein Zeichen, das auf etwas anderes verweist. Ihre Schönheit ruft mit den Worten von Lewis: «Ich selbst bin es nicht. Ich bin nur die Erinnerung. Schau! Schau! An was erinnere ich dich?» Mit diesen Worten hat Lewis in seiner Genialität die Dynamik des Zeichens zusammengefasst, für die die Beziehung zwischen Mann und Frau beispielhaft ist.
Es brauch ein Ich, das in der Lage ist, das zu begreifen, was es sucht, so wie Leopardi, der sich bewusst wird, dass das, was er in der Schönheit der Frau sucht, die Schönheit schlechthin ist; nicht die Schönheit der Frau, sondern die Schönheit schlechthin (nach der Interpretation, die Don Giussani uns gelehrt hat). Im Hymnus Alla sua donna [An die Geliebte] bringt er wirkungsvoll zum Ausdruck, dass die Sehnsucht, die die Schönheit der Frau in ihm weckt, die Sehnsucht nach der Schönheit schlechthin ist, nach dieser «ewigen Idee» der Schönheit – und diese ist letztlich Verheißung der Menschwerdung, wie Don Giussani sagt.
Das ist es, was wir ersehnen. Wenn wir uns nicht bewusst werden, dass das, was wir suchen, diese Schönheit schlechthin ist, dieser Fluchtpunkt in allem, was wir finden, dann enttäuscht uns die Wirklichkeit, nicht weil sie uns ein Versprechen gegeben hat, das sie nicht halten kann, sondern weil wir die Natur der Wirklichkeit nicht begriffen haben, ihre Natur als Zeichen, das uns auf etwas anderes verweist. Dies ist kein Problem der «Meditation» – Leopardi hat nicht darüber meditiert. Das Problem liegt darin, dass wir uns von der Natur des Zeichens nicht bis zu jenem Jenseits mitreißen lassen.

II. Der Fluchtpunkt
Das ganze Problem besteht also darin, ob wir dieses Jenseits finden können, ob wir diesen Fluchtpunkt jetzt erfahren können! Das ist es, was uns in der christlichen Begegnung geschehen ist. In der Begegnung mit dem Fleisch gewordenen Wort sind wir diesem Fluchpunkt begegnet (Für Leopardi stellt die Schönheit, von der er «träumte» das fleischliche, geschichtliche Zeichen hierfür dar). Die Frage ist also, wie wir diesem Fluchtpunkt in dem, was wir leben, in der Wirklichkeit, ständig begegnen können. Wie uns Don Giussani erinnert hat, stellt die Auferstehung Christi, die einzige Möglichkeit für die Fortsetzung dieser Erfahrung dar. Der auferstandene Christus ist die Erfahrung dieses Fluchtpunktes. «Der auferstandene Christus ist das erste und grundsätzliche Ereignis, in dem der Fluchtpunkt zur Erfahrung des Menschen geworden ist.»
Der Inhalt dieses Fluchtpunktes wurde zur Erfahrung des Menschen. Indem wir Christus begegnen, können wir diesen Fluchtpunkt jetzt erfahren. Wie? In der Erfahrung, in der wir, angesichts mancher Ereignisse nicht umhin kommen zu sagen: «Er ist’s!» Also nicht in der Vorstellung, nicht außerhalb des Wirklichen, nicht allein in unserem Zimmer grübelnd, sondern vor unseren Augen. Seine Gegenwart zeigt sich so wirkmächtig, dass man ganz von ihr «eingenommen» ist. Zumindest in gewissen Momenten ist die Erfahrung des Ewigen sonnenklar für uns. Wir machen die Erfahrung, dass wir vollkommen ergriffen sind, und zwar so, dass wir dies für immer wollen, dass wir wollen, dass es immer so sei. Deshalb ist der entscheidende Punkt, dass sich dieses wieder ereignet.
Diesen Sommer hat mich ein Satz von Giussani beeindruckt, in dem es heißt, dass die Neuheit nie im «Unterschied» besteht. Sie besteht nicht darin, die «Zelle» zu wechseln (wie es Kafka nennt). Oftmals denken wir uns die Neuheit als einen solchen Zellenwechsel, den Wechsel der Umstände, den Wechsel der Arbeit (ganz zu schweigen vom Wechsel der Ehefrau). Aber die Neuheit besteht nicht darin. Sie wird vielmehr dann erfahren, «wenn etwas eintrifft, was man erhofft» : Die Neuheit besteht in dem Ereignis. Wenn sich dies wahrhaft ereignet, in welchem Umstand auch immer, sehen wir, dass uns Seine Gegenwart, sobald sie sich zeigt, genügt.
Das einzige Problem des Lebens besteht also darin, dass sich dies wieder ereignet, dass sich seine Gegenwart immerfort wieder ereignet. Und das hilft uns von Mal zu Mal in dem Urteil zu wachsen: «Er ist’s! Er ist’s!», so dass wir mit Gewissheit sagen können: «Der auferstandene Christus ist ein Ereignis», nicht ein Gefühl von mir, sondern ein Urteil. Das gilt so sehr, dass wir uns manche Dinge nicht einmal hätten vorstellen können. In manchen Augenblicken der Fülle, einer Intensität, die uns so entspricht und so jenseits all unserer Erwartung liegt, können wir nur sagen: «Er ist’s!».
Wir sagen das nicht als Ergebnis eines Diskurses, sondern auf Grund der Kraft Seiner Gegenwart, die die Stille erfüllt. Seine Gegenwart ist es, die die Stille erfüllt. Und hier entsteht der Glaube. Der Glaube geht von einem Faktum aus, das uns dazu bringt, uns an Seine Gegenwart zu klammern. Wir bleiben an Seiner Gegenwart haften. So entsteht die Zuneigung zu Ihm. Nicht der Glaube bringt das christliche Faktum hervor, sondern das Faktum erzeugt den Glauben. Wenn sich dieses Faktum nicht immerfort ereignen würde, könnten wir angesichts der Umstände des Lebens nicht einmal an Christus denken.
Er ist es, der uns entspricht. Darum sagt Don Giussani in Dall’utopia alla presenza: «Unsere Identität besteht darin, dass wir uns in Christus hineinversetzt haben», so dass dieses Ereignis seiner Entsprechung jetzt vor allem anderen steht. «Dieses Sich-Hineinversetzen in Christus ist die konstituierende Dimension unserer Person. Wenn Christus meine Persönlichkeit definiert, so werdet auch ihr, die ihr [wie ich] von Christus ergriffen wurdet, notwendigerweise zum Teil meiner Persönlichkeit.» «Auf der kulturellen Ebene existiert nichts Revolutionäreres, als ein solches Verständnis der Person, die in einer Einheit mit Christus, mit einem Anderen ihre Bedeutung und ihren Bestand findet und durch diese [Einheit mit Christus], in einer Einheit mit all denen, die Er ergreift, mit all denen, die der Vater Ihm in die Hände legt» . Ohne dies haben wir keinen Bestand: wir sind zerbrechlich und, sobald wir weggehen, sobald wir alleine sind oder sich die Umstände ändern, lässt uns jeder Hauch, jedes Luftzügchen erzittern.
In dieser Identität, in dieser Gewissheit die «Seinen» zu sein, weil Er uns ergriffen hat, können wir verändert von hier weggehen. Denn unser ganzes Ich ist von Seiner Gegenwart ergriffen. Darin besteht die Neuheit. Diese fordert uns ständig zu einer Änderung unserer Haltung heraus. Denn ich kann diesem Ereignis gegenüber verfügbar sein, und es in mein Leben einlassen und ihm anhängen – und so die Wahrheit meines Ich in dieser Erfahrung der Entsprechung lieben. Ich kann es aber auch ablehnen. Ich kann dieses Ereignis gesehen haben, aber wenn ich morgen oder auch in fünf Minuten Ihm gegenüber nicht mehr verfügbar bin, es nicht mehr hereinlasse ...
Welche Treue verlangt diese einzigartige Erfahrung der Entsprechung! Welch Liebe zu sich selbst, welche Zärtlichkeit sich selbst gegenüber ist notwendig, damit der Mensch eine Fülle des eigenen Ich erfährt, wie in dieser Erfahrung der einzigartigen Entsprechung, die anders als alle anderen ist.
Das Problem des Lebens besteht darin, diese Methode zu lernen, so dass wir uns dies alles jedes Mal mehr zueigen machen. Dies heißt «folgen». Ich zitiere noch mal aus Dall’utopia alla presenza: «Folgen bedeutet, sich in diejenigen Personen hineinzuversetzen, die den Glauben mit einer größeren Reife leben, um so an einer lebendigen Erfahrung teilzuhaben. Personen, die uns ihre Dynamik und ihren Geschmack vermitteln (lat. tradit > Tradition)». Im Zusammenleben vermitteln uns die anderen ihren Geschmack. «Diese Dynamik und dieser Geschmack werden uns nicht durch unsere Überlegungen vermittelt, nicht als Ergebnis eines logischen Prozesses, sondern gewissermaßen durch einen osmotischen Druck». Und hier verwendet Don Giussani einen wunderschönen Ausdruck: «Ein neues Herz teilt sich dem unseren mit, es ist das Herz eines anderen, das in unserem Herzen zu vibrieren beginnt» . Ein Herz, das in unserem Herzen pocht. Das ist alles andere als eine Gebrauchsanweisung! Es ist die Mitteilung von Erfahrung zu Erfahrung. Darum bedarf es einer lebendigen Gegenwart und zwar jetzt, damit uns durch ein Zusammenleben, durch diesen osmotischen Druck, dieses Herz vermittelt werden kann, so dass es in unserem Herzen zu schlagen beginnt. Sind wir dafür verfügbar? Das ist die einzige Frage. Es ist ein Blick, der unseren Blick formt, ein Herz in unserem Herzen, so dass es in uns immer wieder das Gedächtnis an Ihn wachruft: Eine Vertrautheit wie die, die wir durch die Teilnahme an einem Ort wie diesem erfahren. Wir, die wir bereits in der Taufe von Christus ergriffen wurden, haben durch die Vertrautheit zu diesem Ort existenziell erfahren dürfen, was es bedeutet, von Christus ergriffen zu sein, uns in ihn hineinzuversetzen.

III. Eine ursprüngliche Gegenwart
So entsteht ein neues Geschöpf, ein neues Subjekt in der Geschichte, das die Wirklichkeit lebt, das alles lebt. Wenn er es ist, der uns entspricht und «alles in Ihm besteht» («Christus ist die Wirklichkeit» ), wenn Christus uns so vertraut wurde, dann entspricht mir alles, weil es mir gegeben wurde, weil es Teil von Christus ist. Aus dem anfänglichen «nichts entspricht mir» wird ein «alles entspricht mir», weil alles von Ihm erfüllt ist. Alles spricht mir von Ihm, alles ruft mich zu ihm.
«Liebe, Liebe ruft ein jedes Ding» (wie die geliebte Person: Alles spricht uns von ihr oder von ihm). Alles – die Geschichte, die Zeit, die Umstände – ist uns gegeben, damit sich darin die Wahrheit widerspiegelt. Darin besteht die Verifizierung. Es ist nicht so, dass ich verifizieren muss, ob es wahr ist. Die ganze Geschichte «zeigt», dass es wahr ist. Das, was ich in der Begegnung als wahr erkannt habe, erweist sich in allen Umständen als wahr, lässt seine Wahrheit erstrahlen und erfüllt alles mit Freude. Alles kann zum Ort des Lebens werden, weil Er da ist, weil ich Ihn dort anerkennen kann, weil alles mir von Ihm spricht. Wie Anne Vercors in Die Verkündigung an Maria sagt: «Ich lebe auf der Schwelle des Todes und eine unerklärliche Freude durchdringt mich». Wie ist das möglich? Es ist möglich! «Ich lebe auf der Schwelle des Todes [des Nichts, des Schmerzes, der Lüge, des Bösen] und eine unerklärliche Freude durchdringt mich [nichts kann mir diese Freude nehmen]» .
Dies tragen wir in unseren Gesichtern, in unserem Antlitz, dies tragen wir in die Wirklichkeit. Die Mission ist nichts anderes als diese neue, ursprüngliche Gegenwart. Es ist die Ausweitung dieser neuen Menschlichkeit in allem, was wir berühren, um dieses neue Herz, diesen neuen Blick auf die ganze Welt mitzuteilen. Don Giussani sagt: «Eine Gegenwart ist dann ursprünglich, wenn sie dem Bewusstsein der eigenen Identität entspringt und der Zuneigung zu ihr, und in diesem ihren Bestand findet» . Das macht uns zu einer Gegenwart, die sich von allen anderen unterscheidet, eine ursprüngliche Gegenwart. Es ist keine reaktive oder von der Macht «diktierte» Gegenwart. Eine ursprüngliche Gegenwart, die sich in der Art, wie wir unser Kind, anschauen, bis hinein in die Politik und die Kultur auswirkt.

Mittwochabend, 30. August 2006
Zusammenfassung
Julián Carrón

Am ersten Abend haben wir bei der Sehnsucht nach Gewissheit, die wir alle haben, angesetzt, bei jenem oft verspürten Bedürfnis, den Weg nicht zu verfehlen. Wo auch immer wir uns auf unserem Weg gerade befinden, wir alle sind hier, weil wir in dieser Begegnung, die wir gemacht haben, das Wahre erahnt haben. Und dies hat in uns eine Neugier wachgerufen. Es ist so wie bei Johannes und Andreas, die Jesus auf Grund genau dieser Vorahnung in der Beziehung zu ihm gefolgt sind. Diese Neugier hat uns hierher gebracht.
Aber was ist in diesen Tagen geschehen? Am Ende dieses Treffens können wir uns die Frage erneut stellen: Gehen wir mit einer größeren Gewissheit von hier weg als jener, die wir bei unserer Ankunft hatten? Ist in uns die Sehnsucht gewachsen, dieser Geschichte noch mehr anzuhängen? Ist in uns eine größere Zuneigung zu diesem realen, geschichtlichen und konkreten Ort gewachsen? Das ist die Verifikation, die wir ein jedes Mal, wenn wir uns treffen, anstellen müssen, um mit einer größeren Gewissheit weggehen zu können. Aber dazu ist es notwendig, ein Urteil über das, was wir gelebt haben, zu fällen: Bin ich gewisser oder nicht? Dabei handelt es sich um keine intellektuelle oder abstrakte Anstrengung, sondern um das Anerkennen einer Entsprechung. Wie kann man sehen, ob es uns entspricht? Wenn diese Sehnsucht gewachsen ist, wenn wir selbst überrascht feststellen, dass wir diesem Ort mehr anhängen und uns danach sehnen, noch mehr anzuhängen. Wie dies geschehen ist – und jeder von uns muss selbst auf diese Frage antworten –, dann hat sich etwas ereignet: Ein Ereignis, das ein Schritt auf dem Weg der Gewissheit ist, ein Schritt auf dem Weg der Überzeugung.
Wir denken dabei unvermeidlich an den Abschnitt im Seminar der Gemeinschaft, wo Don Giussani von der Entwicklung der Überzeugung spricht. Nach der ersten Begegnung suchen die Jünger Jesus wieder auf, und drei Tage später gehen sie mit Ihm, begleiten Ihn zur Hochzeit von Kanaan und sehen dort das Wunder, den Wandel von Wasser zu Wein. Im Evangelium heißt es, dass die Jünger Seinen Ruhm sehen, also den Widerschein der Wahrheit: Diese Wahrheit, die sie bereits in der ersten Begegnung gesehen haben, leuchtet nun noch heller auf. Die Schönheit Christi leuchtet und lässt uns an der Wahrheit dieses Mannes teilhaben. Das führt die Jünger dazu, so heißt es im Evangelium, mehr an Ihn zu glauben: «Und seine Jünger glaubten an ihn» . Don Giussani kommentiert das mit den Worten: «Diese Feststellung erscheint uns vielleicht merkwürdig. Haben wir nicht bereits im vorangehenden Kapitel gehört, dass die Jünger bereits, an ihn glaubten [bei der ersten Begegnung]?» Warum sagt das Evangelium, dass seine Jünger an Ihn glaubten? «Und doch ist dies die treffende und genaue Beschreibung eines uns allen bekannten psychologischen Phänomens. Trifft man einen Menschen, der für das eigene Leben wichtig ist, gibt es meist ein erstes Vorgefühl, irgendetwas drängt uns zu der Einsicht: Das ist er! Das ist sie!» Das ist es, was sich in der Begegnung ereignet: Ein untrügliches Erkennen. «Erst wenn wir das Leben mit diesem Menschen teilen, kann dieser Eindruck tiefer in uns Wurzel fassen, bis er schließlich zu einer Gewissheit wird.» Es ist beeindruckend, denn dies ist die Dynamik! «Für dieses stufenweise „Erkennen“ [nicht ein Gefühl, sondern Erkenntnis] werden wir im Evangelium noch manchen Beleg finden. Es wird ihm noch viel „nachgeholfen“ werden müssen [man muss also nicht davor erschrecken, dass wir viele Bestätigungen brauchen], so dass uns die Wendung „Und seine Jünger glaubten an ihn“ bis zum Schluss immer wieder begegnen wird. Diese Einsicht wird langsam zu einer Überzeugung, was nicht bedeutet, dass sie nicht auch schon vorher „an ihn geglaubt“ hätten.» Das ist genauso, wie wenn man beginnt, sich mit einer Person zu treffen, bei der man das Vorgefühl hat, dass «sie es vielleicht ist», und sich diese erste Ahnung jedes Mal, wenn man sie trifft, beim Spazierengehen, im Gespräch, beim Kaffeetrinken, immer wieder bestätigt. Der christliche Weg ist einfach, so einfach wie der, den wir gehen, wenn wir die geliebte Person treffen. Und er vollzieht sich langsam. «Im Zusammensein mit Jesus bestätigt sich immer mehr, dass er dieses ganz Außergewöhnliche und so ganz Andersartige ist, das sie vom ersten Moment an in ihren Bann gezogen hat. Indem sie mit ihm das Leben teilen, verstärkt sich nach und nach diese Gewissheit.»
Daher wurzelt unser Bedürfnis nach Bestätigung nicht etwa, wie wir oft denken, in der Tatsache, dass wir etwas falsch machen, sondern es gehört zur Natur des Weges der Überzeugung, die sich langsam vollzieht. Nicht weil wir zerbrechlich sind, nicht weil uns etwas fehlt: Das Bedürfnis nach Bestätigung gehört zur Natur des Weges, zur Art, wie der Mensch eine beständige Gewissheit erlangt, zu einer Überzeugung kommt.
«Im Evangelium wird also anschaulich gezeigt, dass der Glaube auf dem Weg zur Überzeugung aufeinanderfolgende, wiederholte Akte des Erkennens verlangt». Es braucht ein Faktum, und dieses Erkennen muss sich immer wieder ereignen. «Aufeinanderfolgende, wiederholte Akte des Erkennens, denen man zu ihrem Vollzug Zeit und Raum gewähren muss. Wir stoßen hier durch das Zeugnis der Evangelien [...] auf den methodischen Grundsatz, dass die Erkenntnis eines Gegenstandes Raum und Zeit braucht. Dies gilt erst recht für eine so einzigartige Person, wie sie Jesus war.»
Was brauchen wir daher, damit diese Sehnsucht nach Gewissheit eine Antwort findet, damit diese Gewissheit Bestätigung findet? Unser Erkennen muss sich wiederholen können. Worin besteht also unsere Hoffnung, nachdem wir von hier fortgegangen sind? Sie besteht darin, dass sich dieses Ereignis weiterhin ereignet, damit wir ein jedes Mal eine größere Bestätigung erfahren.
Wir haben also das Bedürfnis, dass sich dieses Ereignis erneut ereignet. Und dabei sollte es uns so sehr ergreifen, dass uns das Erkennen leicht gemacht wird, und uns das widerfährt, was Don Giussani vom ersten Hören von Donizettis La Favorita berichtet: «Ihr werdet mir erlauben, kurz vom ersten Moment zu erzählen, in dem ich zum ersten Mal verstanden habe, was die Existenz Gottes bedeutet. Ich war in der ersten Klasse des klassischen Lyzeums im Priesterseminar und wir hatten Gesangsunterricht. Normalerweise erklärte uns der Lehrer in der ersten Viertelstunde die Geschichte der Musik und spielte uns dabei auch einige Schallplatten vor. Auch an diesem Tag waren wir ruhig, die Platte begann mit 78 Umdrehungen und plötzlich hörte man die Stimme eines Tenors, der damals hochberühmt war: Tito Schipa. Mit einer kräftigen und vibrierenden Stimme begann er, eine Arie des vierten Aktes von La Favorita von Donizetti zu singen: “Du holder Geist, im Traume bist Du mir erschienen, doch hab’ dich verlorn. So entfliehe meinem Herzen, verlogene Hoffnung du, ein Trugbild nur der Liebe, entferne Dich von mir.” . Von der ersten Note an überkam mich ein Schauder. [...] In dieser ersten Klasse des Lyzeums, in diesem Gesang von Tito Schipa ergriff mich der Schauder von etwas, das fehlte; nicht etwas, was diesem wunderschönen Gesang aus der Romanze von Donizetti gefehlt hätte, sondern was meinem Leben fehlte. Etwas, das fehlte und nirgendwo eine Befriedigung, einen Halt, eine Erfüllung, eine Antwort finden würde.» In dem Schauder, den diese Stimme von Tito Schipa ausgelöst hatte, erkannte Giussani die Existenz Gottes. Das heißt, es geschah etwas, das ihn in diesem Schauder so sehr ergriff, dass es ihn in das Geheimnis einführte.
Das ist nichts anderes als das erste Morgenrot dessen, was in der christlichen Gemeinschaft geschieht. Wir haben in diesen Tagen das Zeugnis unserer jungen amerikanischen Freundin gehört. Sie hat uns vor wenigen Monaten kennen gelernt und fand keinen Namen für das, was sie gesehen hat. Aber gleichzeitig war sie zutiefst davon ergriffen. Dieses Faktum ließ sie nicht in Ruhe und riss ständig neu die Wunde auf: «Aber was ist das?». Es war ein Faktum, von dem sie sich plötzlich ergriffen sah, ein Faktum, das Vernunft und Freiheit herausgefordert hat, wie auch viele andere von euch im Laufe dieser Tage bezeugt haben. Wie viele haben davon erzählt, wie sie in manchen Augenblicken ergriffen waren! Das Ich eines jeden steht auf dem Spiel. Wie viele von denen, die Tito Schipa gehört haben, haben die Existenz Gottes erkannt? Wie viele von denen, die jetzt hier sind, haben in diesen Tagen bewegt «Du» zu Christus gesagt? Ich frage nicht einfach danach, ob wir bewegt waren, ob wir von einem Schauder ergriffen wurden (wie Giussani, als er Tito Schipa hörte). Ich frage, wie viele von uns sind dabei nicht stehen geblieben, sondern haben sich dazu bewegen lassen, Ihn anzuerkennen? Dies ist der Test unserer Begegnung. Viele waren bewegt. Aber wie oft haben wir uns in diesen Tagen wirklich selbst dabei überrascht, «Du» zu Christus zu sagen? Wir können den ganzen Tag von Christus reden, ohne «Du» zu sagen, genauso wie man den ganzen Tag mit seiner Frau zusammen sein kann, ohne sie auch nur einmal mit der Rührung des ersten Momentes anzuschauen. Täuschen wir uns nicht: Wir können den ganzen Tag von Christus reden und ohne Ihn auch nur einen Augenblick lang zu erkennen.
Er ergreift mich – so wie viele von uns in diesen Tagen ergriffen wurden – durch einen Ort und lässt mich Seine Gegenwart an diesem Ort erfahren. Aber dies ist nur der Anfang. Es bedarf eines Ich, das Ihn anerkennt. Aber Vorsicht, wir können auch viel gebetet haben – als schöne Zugabe zum Tag – ohne nur einmal durch die Wirklichkeit bewegt und gerührt, «Du» zu Christus gesagt zu haben! Und das ist etwas ganz anders. «Das Ewige – sagt Don Giussani – ist dort in die Welt eingetreten, wo das ist, was ich mit Vorliebe anschaue.» Durch meine Vorliebe erreicht mich das Ewige, indem es mein Ich ergreift (ohne das wäre ich eine tickende Zeitbombe). Meine Vorlieben erlauben mir dies. Sie erleichtert mir das Erkennen, ohne meine Freiheit auszulöschen, ohne dass es jemals mechanisch würde, «Du» zu sagen. Sie ruft das Drama wach, das es mir erleichtert «Du» zu sagen. Wenn wir nicht bis hier vordringen, verlieren wir das Beste und finden nicht das, was auf die Gesamtheit der Sehnsucht unseres Herzens antwortet. Versucht einmal daran zu denken, wie oft uns Seine Gegenwart in diesen Tagen mit Stille erfüllt hat, so dass in uns – wie in den Jüngern – die Frage wachgerufen wurde: «Aber wer bist du, Christus?», oder wie einer von euch sagte: «Wer bist Du, der du in mein verschlossenes Herz eingedrungen bist?». Darin besteht die Erziehung: Er erzieht uns, indem er etwas geschehen lässt, das uns ergreift und uns nicht mehr erlaubt, bei unserem eigenen Maßstab zu verweilen, uns mit dem Schein zu begnügen. Auf diese Weise ermöglicht er uns die Beziehung zum Geheimnis.
Don Giussani schreibt: «Der Ursprung dieser Rührung [dieses Ergriffenseins] liegt in der Natur der Gegenwart. [...] Sie rührt und ergreift mich! [...] Es ist ein Ergriffensein, auf Grund der Natur der Gegenwart [die Gegenwart des anderen ist ein Ergriffensein]. Die Natur der Gegenwart ist letztendlich Gott, und deshalb kann die Wahrnehmung Seiner Gegenwart nichts weniger sein, als die höchste Intensität der Rührung [des Ergriffenseins: dieser Schauder beim Anhören von Tito Schipa]». Man stellt ihm dann die Frage: «Aber ist dieses Ergriffensein [...] auch das Ergebnis einer Arbeit?» Don Giussani antwortet: «Es ist eine Einladung, der Beginn dieser Rührung ist die Einladung zu einer Arbeit, aber es ist selbst keine Arbeit, sondern Gnade, reine Gnade. Wie die Gegenwart des Seins reine Gnade ist, und die Einladung lautet: „Komm mit mir“. Wie Jesus gesagt hat. Denkt an den reichen Jüngling – der sich Platz verschafft und Jesus mit offenem Mund zuhört – und an Jesus, der ihn anschaut. Also sagt er ihm: „Guter Meister, was muss ich tun, um dahin zu gelangen, was du das Reich Gottes nennst, in die Wahrheit der Wirklichkeit, in die Wahrheit des Seins zu gelangen?“. Und Jesus schaut ihn an und sagt: „Beachte die Gebote“. „Aber ich habe sie immer geachtet“. Und Jesus blickte ihn liebevoll an, er liebte ihn sogar noch mehr als zuvor und sagte: „Dir fehlt eine einzige Sache: geh’ bis auf den Grund“. Das ist die Arbeit. Er hat ihm den Vorschlag einer Arbeit gemacht: dass nämlich die Ungeschuldetheit, von der er überwältigt war, zu einer Arbeit wird“. Daher ist das Ereignis selbst reine Gnade und es ist der Anfang, die Einladung zu einer Arbeit, die Einladung dazu, Ihn anzuerkennen, die Einladung zu einer Arbeit, die dieses Erkennen erleichtert. Weil nur Christus der Gegenstand unserer Sehnsucht ist, wie Leopardi erahnt hat:“ „Ein Strahl des Göttlichen erschienst du mir, / o Weib, in deiner Schönheit» . Es ist etwas, das mich auf etwas anderes verweist.
Daher vollzieht sich am Höhepunkt dieses Ereignisses, das mich mit Stille erfüllt und mein Erkennen erleichtert, das Gebet: der Gestus des Gebets ist nichts, was außerhalb der Wirklichkeit liegt, das ich in einem frommen Moment vollziehe. Sondern das christliche Gebet ist dieser «Höhepunkt» der Beziehung zu dem Geheimnis, der genau deshalb stattfindet, weil ich von Ihm ergriffen bin, und der mir erlaubt, Ihn anzuerkennen. Wenn es deshalb in unserer Mitte kein Gebet gibt, wenn wir der Stille keinen Raum lassen, ist es nicht, weil wir nicht fromm genug sind, sondern weil sich in unserer Mitte nichts ereignet oder weil wir gegenüber dem, was sich ereignet, nicht treu sind und ihm keinen Raum geben. Das ist die Größe des Weges, den uns Don Giussani vorschlägt. Ich konnte dies selbst erfahren, weil ich selbst lange Zeit dualistisch gelebt habe: das Gebet als etwas dem Leben Hinzugefügtes. Deshalb weiß ich sehr gut, wovon ich spreche. Ich habe über die Evangelien reflektiert, über die Stellen, in denen die Jünger fragen: «Wer bist du?», «Wer ist dieser da?», aber ich habe mir diese Frage nie angesichts dessen, was ich in der Wirklichkeit erlebte gestellt: es war hinzugefügt. Die Entdeckung der Bewegung hingegen stellte für mich den Sieg über diesen Dualismus dar. Und dies gab mir eine Gewissheit, die ich früher nicht besaß, eine Vernünftigkeit im Glauben, die ich früher nicht hatte, eine Fähigkeit alles herauszufordern, die ich vormals nicht kannte. Ein Gewissheit, die sich in der Wirklichkeit einstellt, und die dich zu einem viel tieferen Ergriffensein führt, als aus einer Meditation über Christus erwachsen kann. Wenn ich also nunmehr die Evangelien lese (dasselbe gilt für das Gebet), kann ich sie nicht anders lesen (oder beten) als innerhalb des Horizontes der Erfahrung, die ich jetzt mache. Und die Texte sprechen mit einer Fülle und einer Intensität zu mir, die sie früher nicht hatten ...
Wir brauchen keine besondere Anleitung, wir brauchen nicht noch mehr Instrumente. Ich habe das immer abgelehnt. Ich brauchte nicht mehr als andere, nicht mehr als das, was alle haben, was ein jedes Mitglied unseres Volkes hat. Der, der mich dort in Madrid froh und dankbar gemacht hat, glücklich und erfüllt, lässt mich auch hier froh und dankbar sein. Deshalb könnte ich auch morgen in mein «Loch» nach Madrid zurückkehren, mit der Gewissheit, alles zu haben, was ich zum Leben brauche, was ich brauche, um zu atmen; wie jeder von euch mit der Gewissheit dessen, was er gesehen hat, in sein «Loch» zurückkehren kann, mit der Gewissheit, alles zu haben, was man zum Leben braucht. Es reicht, das ich Ihn anerkenne. In der Tat ist Er es, der uns durch das, was Er geschehen lässt, immer wieder ruft, an unsere Tür klopft, um uns so das Erkennen zu erleichtern. Wenn wir das Seminar der Gemeinschaft ernst nehmen, wenn wir der Stille Raum geben, ist es unmöglich, dass uns das nicht ein jedes Mal vertrauter mit Christus werden lässt. Deshalb ist die Methode des Ereignisses nichts anderes als das Gedächtnis, das Gedächtnis Christi, der jedes Mal mehr in unser Herz eintritt, den wir jedes Mal mehr eintreten lassen.
Es ist einfach, es reicht, unsere Widerstände aufzugeben. Aber oftmals lassen wir dem Ereignis nicht den geringsten Raum. Auf Grund der Sorge angesichts dessen, was wir nicht gemacht haben oder angesichts dessen, was wir tun müssen, lassen wir das Ereignis außen vor, geben wir ihm nicht einmal eine Minute lang, die Möglichkeit zu bleiben. Das macht mich wirklich betroffen: einen Moment, nachdem wir von Ihm ergriffen wurden, einen Moment, nachdem wir uns dessen bewusst wurden, «gehen wir weg», entweder auf Grund des Bösen, das wir gemacht haben oder auf Grund der Sorgen angesichts der Zukunft. Es ist schrecklich. Was für einer Einfachheit bedarf es, um diesem Ereignis Raum zu geben! Oftmals begehen wir im Namen einer als Kohärenz verstandenen christlichen Moral das Unmoralischste überhaupt: wir lösen uns von einer Anziehungskraft, in der unsere Moralität besteht. Denn die Moralität kann nur darin bestehen, uns nicht von dieser Anziehungskraft loszusagen, so wie Petrus. Darin besteht das Drama, von dem unser Freund gestern gesprochen hat: Obwohl wir die Anziehungskraft Seiner Gegenwart spüren, geben wir unsere Widerstände nicht auf. Mir kam dabei ein Text von Giussani in den Sinn: «Wer kann sich selbst ändern? Wer hat eine solche Herrschaft über das eigene Wesen, dass er es ändern könnte? Dies ist so wahr, dass die ursprüngliche Reaktion, die wir in den Beziehungen unter uns haben die ist: je mehr uns eine Person interessiert, je mehr wir sie lieben, umso mehr «würden wir gerne ...»; aber über dieses «würden wir gerne ...» hinaus wird man dann traurig: Denn wir schaffen es nicht, mehr zu sagen, wir schaffen es nicht, das zu tun, was wir gerne tun würden. Je größer unsere Zuneigung ist, umso mehr würden wird gerne mehr können, mehr wissen, mehr geben, mehr machen. Aber niemand ist so Herr seiner selbst, als dass er sein Wesen existenziell in einer Weise zu verändern vermag, um ganz dem zu entsprechen, was ihn bewegt und berührt. Wenn wir alle fünf Minuten innehalten und daran denken würden, dann würde sich die Welt etwas verändern, aber wie würde sie sich ändern? Etwa durch eine plötzliche Fähigkeit zur Kohärenz? Nein, die Veränderung findet auf einer einfacheren Ebene statt, die noch vor dem Maßstab einer Umsetzung liegt. Was ist aber diese einfachere Schicht, dieses ursprüngliche Fundament, das mit der Kraft eines anderen, zu einer größeren Kohärenz, einem besseren Handeln befähigt, das eine bessere Gegenwart ermöglicht? [Was ist diese letzte Schicht?] Das Ja von Simon Petrus. Diese Ja des Simon ist am umfassendsten, es ist grenzenlos. Es kennt nur einen Horizont, nämlich den, wo die Sonne immer neu aufgeht. Und es ist der zärtlichste Ausdruck, den der Mensch erdenken kann. Es ist die stärkste Ausdruck für das eigene Bedürfnis, die Liebe anzuerkennen, die uns berührt. Ich wünsche euch, dass ihr dies angesichts aller Existenzen, die ihr kennt, betrachten könnt [deshalb musste ich unvermeidlich an unseren Freund denken]: alle Existenzen, die ihr kennt, geben schließlich nur nach angesichts der Zärtlichkeit einer liebevollen Kraft, die sich ihrem Herzen vorschlägt, und sprechen das Ja.»
«Aber liebst du mich?» Gerade eine Situation, die nahezu an das Nichts grenzt, ist die Voraussetzung, um alles zu verstehen. Egal was du getan hast, was auch immer dich beunruhigt ... «Aber liebst du mich jetzt?». Darin liegt der Wert des Augenblicks. Wir fliehen stets vor der Gegenwart im Namen einer Vergangenheit (dessen, was wir falsch gemacht haben) oder im Namen einer Zukunft (dessen, was wir machen müssen). Weil aber das Leben gegenwärtig ist, besteht die Frage allein darin, ob wir unsere Widerstände jetzt aufgeben und uns Ihm hingeben (alles spielt sich im gegenwärtigen Moment ab), ob wir uns Seiner Gegenwart jetzt hingeben, die uns fragt: «Aber liebst du mich?».
Diese Art der Hingabe bezeugt uns Potok: «Ich habe Erleichterung verspürt und habe gespürt, wie sich mein Ich erschöpft der Umarmung einer Gegenwart hingegeben hat, die ich nicht verstehen konnte und die ich doch um mich herum wahrgenommen habe wie den Wind und das Meer.» Das ist der entscheidende Punkt: Sich der Umarmung einer Gegenwart hinzugeben, sich in der Umarmung einer Gegenwart zu verlieren. Wenn man Ihn hineinlässt, erfüllt Er uns mit Neuheit, wie es Luisa Muraro beschreibt: «[Das Christentum] beginnt (hat begonnen) mit Jemandem, der sich dem anderen zuwendet, Freund oder Feind, Fremder oder Bruder, Frau oder Mann, und dabei nicht das Gewicht der Dinge in den Mittelpunkt stellt, die schon entschieden oder verworfen sind, sondern alles gemäß dem Neuen, dem Menschlichen, dem potenziell Glücklichen anschaut, das sich dort, in diesem Kontext ergeben könnte.» Hierin liegt «die subversive und überraschende Modalität in den üblichen Dingen» .
Wir sind Christus begegnet. Christus hat uns berufen, hat uns erwählt, damit diese Neuheit ein jedes Mal alltäglicher wird. Diese Erfahrung des Hundertfachen hier auf Erden, diese Neuheit, die kein Umstand verhindern kann, die kein Schmerz verschließen kann, all dies bestätigt uns die Vernünftigkeit des Glaubens. Und dort in der Wirklichkeit, in den schlimmen und den schönen Umständen, in den mühevollen oder weniger mühevollen Situationen sehen wir, wie Christus siegt, so dass uns nichts von der Liebe zu Ihm trennen kann und alles zur Bestätigung der Vorahnung des Anfangs wird: Ja, Er ist es! Er ist es, der alles neu macht!