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CL - La Thuile
Das Gedächtnis: Die Methode des Ereignisses


Die folgenden Zeugnisse aus Spanien, Japan, Kasachstan und Frankreich zeigen, was die christliche Begegnung im Menschen hervorbringt, gleich welcher Tradition und Kultur er angehört. Sie wurden bei der Internationalen Versammlung der Verantwortlichen der Bewegung vorgetragen. An dem Treffen Mitte August nahmen etwa 700 Jugendliche und Erwachsene aus 70 Nationen in La Thuile teil.

Der Bildhauer an der Sagrada Familia in Barcelona
Wie ein Sohn, der nach Hause kommt
Etsuro Sotoo

Ich lebe in Barcelona wie ein Ausländer. Schon in jungen Jahren war ich viel unterwegs, weniger um zu reisen, als in der Hoffnung, etwas außerhalb von mir oder in mir zu finden. Nun reise ich, zumindest physisch, schon seit langer Zeit nicht mehr. Das Erste, worauf ich stieß, war der Stein: Das schwierigste und zugleich geheimnisvollste Material mit einer ungeheuren Kraft. Für mich war dieser Stein der Grund zum Reisen, denn genau deswegen bin ich bis nach Europa gereist, wo ich auf die Sagrada Familia stieß. Im Innersten all dieser Unternehmungen hat eine weitere Reise mich jedoch viel weiter getragen. Während des gesamten Weges war ich allein, keiner begleitete mich, nur der Stein. Im Innersten war ich jedoch überzeugt, nicht ganz allein zu sein. Ich spürte, dass es etwas für mich geben müsste, etwas, das gleichsam für mich vorbereitet war. So existierte gleichsam um mich herum die Dunkelheit, aber ich setzte meinen Weg fort und kam an einen Ort, wo ich begann, das Licht zu erkennen. Ich trat in ein dunkles Zimmer, in dem man nichts sieht, aber wenn man einen Moment innehält, wird man sich bewusst, dass man anfängt, etwas zu sehen, denn das Licht existiert! Hier begann meine Reise. Plötzlich traf ich auf etwas, wie wenn man eine Tür sieht. Man versucht sie aufzudrücken, zu öffnen. Und wenn man sie öffnet, findet man eine weitere dunkle Kammer und nach einer Weile findet man wieder eine Türe mit einer neuen dunklen Kammer.
Es war, als ob es keine Türe für mich gebe, die mich zum Licht führte. Aber dennoch existierte diese Türe! Nun aber frage ich mich: «Warum suche ich diese Türe? Und warum durch Türen, die ich nicht kenne?» Diese Fragen, die in mir wachsen, provozieren also diese Reise.
Keiner zwingt mich zu dieser Reise, keiner zwingt mich, Fragen zu stellen oder «weitere Türen zu öffnen», um neuen Zimmern entgegenzugehen.
Von dem katalanischen Künstler Gaudi fasziniert, wollte ich seine Türe öffnen, aber es gelang mir nicht. Bis mir plötzlich bewusst wurde, das aus einer Richtung, die ich nicht kannte, ein Licht auf mich zukam. Und das war die Türe des Glaubens, auch wenn mir das damals nicht klar war. Aber indem ich diese Türe öffnete, fand ich eine Wüste und ich hatte keinen Gaudi mehr, der mir im Übrigen auch seine Tür nicht geöffnet hatte. Aber er hatte meine Augen geöffnet, um mir zu zeigen, wohin er schaute. Das ist genau das, auf was ich nun schaue. Gaudi wollte, dass ich meine eigene Türe öffnete. Für mich war es, wie in einer Wüste zu laufen und dazu noch alleine, denn Gaudi war schon lange tot. Ich war total allein, was also konnte ich tun?
Unvermittelt traf ich euch und nun ist mein Weg keine Wüste mehr, er ist voller Licht und ganz weit. Seit diesem Moment bin ich nicht mehr allein und es ist mir klar, dass es weitaus härter wäre, weiterhin allein zu bleiben. Ich bemerke, dass wir gemeinsam auf dasselbe Ziel zugehen. Warum sehe ich nun so viel Licht? Weil ihr da seid!
Ich habe mich immer gefragt, woher mein Bedürfnis kam, «Türen zu öffnen». Meine Antwort war, dass dies geschieht, wenn jemand in seinem Leben nicht glücklich ist, denn er spürt die Notwendigkeit zur Suche, um sich auf das zu stürzen, was er noch nicht kennt. Deswegen habe ich die Hälfte meines Lebens mit dieser ermüdenden Suche verbracht und war dabei allein, ohne jemandem meine Fragen stellen zu können. Nun aber habe ich euch getroffen, ihr, die ihr den gleichen Weg eingeschlagen habt. Und das ist mehr als ein Geschenk für mich, es ist das Paradies. Ihr erwartet gleichsam meine Fragen, beinahe, als ob ihr sie schon wüsstet, ehe ich sie überhaupt formulieren könnte. Dies bedeutet für mich viel mehr, als Antworten zu erhalten und verleiht mir einen großen Frieden, zugleich ist es eine große Überraschung. Sobald ihr zu mir nach Hause kommt, stelle ich euch Fragen und dabei macht ihr so ein fröhliches Gesicht, als ob ihr sagen wolltet: «Genau diese Fragen haben wir erwartet.» So, wie wenn ein Sohn zu Hause ankommt und alle Fragen stellen kann, die er möchte, alles tun kann, was er möchte und ihm alles erlaubt ist.
Stellt euch einen Menschen im Gefängnis vor, der jede Minute, jede Sekunde zu kämpfen hat, um zu überleben, ohne jedoch dabei zu vergessen, wer er ist und was seine Bestimmung ist. Unversehens verschwindet das Gitter und er kann alle seine Freunde wiedertreffen und sie umarmen. Man kann es kaum glauben. Ich bin ein Kämpfer, vielleicht auch zu sehr. Aber euch kennen zu lernen, hat mir sehr geholfen und mir bestätigt, dass ich in allem, was ich getan habe, keine Zeit verloren habe und dass alles, was passiert ist, notwendig war. Ja, es scheint sogar für mich vorbereitet gewesen zu sein. Jetzt weiß ich, dass all mein Suchen und meine Traurigkeit sich gelohnt haben. Ich habe Geduld gehabt, auch wenn ich mich zwischendurch geängstigt habe. Was mich dabei am meisten geängstigt hat, war, zu einem unsicheren Menschen zu werden. Es passierte mir, weil ich nichts hatte, auf das ich zugehen konnte. Dabei habe ich aber meine Frage nie vergessen.
Bevor ich euch kennen lernte, war ich dabei, allmählich unsicher zu werden. Unsicher bedeutet, dass du zweifelst, ob die Menschen, die du triffst, wirklich gut sind und dir helfen können. Statt dessen glaubst du, sie wollen dich betrügen und vertraust ihnen nicht mehr. Der unsichere Mensch ist schwach, und ich verwandelte mich in einen schwachen Menschen. Denn wenn du allein kämpfst, ist es leichter, auf die Hölle als auf das Paradies zu treffen. Ich musste diese Phase überwinden, denn sie führte dazu, sogar das anzuzweifeln, was ich gerade tat. Das machte mir Angst, aber zum Glück habe ich euch getroffen, die ihr eine Gewissheit lebt. Dieses Glück ist jedoch eine Gnade, die gesucht werden will. Sie kommt nicht einfach angeflogen, du musst dich auf diese Gnade zubewegen. Dies ist auch die Bestätigung, dass alles, was ich erlebt habe, positiv ist – auch wenn ich im Begriff war, zu fallen. Jetzt bin ich glücklich. Wenn ich euch nicht getroffen hätte, wäre ich wahrscheinlich gefallen und hätte mich, wie es in den Metamorphosen von Kafka beschrieben wird, in ein Insekt umgewandelt. Ich war schon dabei, meine Schlacht zu verlieren. Solange du aber deine Fragen wach hältst, bist du Sieger. Und das bedeutet, dass morgen ein neuer Tag beginnt und du voranschreiten kannst: Das ist der Sieg Christi. Wenn du auf deine Fragen verzichtest und darauf, Mensch zu sein, verlierst du die Schlacht. Und es gibt kein Morgen.

Tomoko Sadahiro, Sekretärin des Erzbischofs von Hiroshima
Spuren in Japan
Paolo Perego

Die Figur eines lachenden Don Giussani am Ende eines Kreuzweges in Caravaggio steht im Zentrum des Titelblattes der Ausgabe von Spuren, umgeben von japanischen Ideogrammen. Es ist die jüngste Ausgabe von Spuren, die ins Japanische übersetzt wurde: Sako hat einige Exemplare zur internationalen Versammlung der Verantwortlichen von Comunione e Liberazione mitgebracht. Eigentlich ist ihr Name Sadahiro, aber alle nennen sie Sako. Sie lebt in Hiroshima und gehört zur kleinen Gemeinschaft in Japan: Sie besteht aus etwa 30 Personen die in Tokyo und Hiroshima leben. Sie berichtet über sich und darüber, wie sie die Bewegung kennen gelernt hat. «Ich bin 1985 getauft worden. Schon vorher habe ich die katholische Universität der Jesuiten besucht, wo ich unter anderem auch gregorianischen Gesang studierte. Dafür war es obligatorisch, gelegentlich an einer Messe teilzunehmen, wie etwa Weihnachten und Ostern. Die Universität lag übrigens gleich neben der Kathedrale. Wenn ich an die Geschichte dieser 22 Jahre denke, bemerke ich, dass Gott mich wirklich gewollt hat, er hat gewollt, dass ich hier bin: er hat mich buchstäblich gezogen! Ich erinnere mich, dass ich einige Probleme mit meinen Freundinnen hatte und in der Folge der Wunsch nach mehr erwacht war. Ich sagte mir: «Ich möchte etwas, das nicht endet.» Genau in dieser Zeit lernte ich eine Italienerin, Angela, und ihren Ehemann, einen Gesangslehrer kennen, die mich mit Freunden der Bewegung bekannt machten. Seitdem habe ich begonnen, mich auf die Taufe vorzubereiten.»
Sako übersetzt auch die japanische Ausgabe von Spuren, in der zuletzt auch der Brief von Don Carrón an die Fraternität veröffentlicht wurde. «Wir sind zu zweit, um Spuren zu übersetzen, ich und Marcia, eine japanische Brasilianerin. Ich arbeite im erzbischöflichen Palast und wenn ich abends nach Hause komme, beginnen wir mit der Übersetzung. Das braucht sehr viel Zeit, etwa zwei bis drei Monate, auch weil es sehr viele Schwierigkeiten wegen einiger Ausdrücke und Begriffe gibt. Zum Beispiel das Wort „Identität“: Es ist ein Begriff, den man in der Umgangssprache nicht benutzt, sondern nur im akademischen Umfeld. Deswegen nimmt man den englischen Ausdruck „identity“ zu Hilfe. Auch der Ausdruck „Caritas“ existiert im Japanischen nicht. Und das gilt für viele andere Dinge. Schließlich schaffen wir es, drei Ausgaben pro Jahr zu übersetzen.» Während der Vorbereitung der Ausgabe bemerkte sie auch, dass die Enzyklika Deus caritas est noch nicht auf Japanisch erschienen war. Daraufhin beschlossen sie, anstatt Spuren die Enzyklika zu übersetzen. Fast am Ende ihrer Arbeit ist dann doch die Enzyklika auf Japanisch erschienen – Ironie des Schicksals. «Wir schicken Spuren an die Bischöfe, Mönche und Oberen der Ordensgemeinschaften ...mehr als 200 Exemplare. Aber wir sind kein Sklave des Erfolges. Trotzdem, wenn jemand die Ausgabe liest und uns antwortet oder etwas durch diese unsere Arbeit bewirkt wird, ermutigt uns das sehr! Ich erzähle ein Beispiel: Ich habe eine Freundin, die vor zehn Jahren die Bewegung verlassen hat und wegging, weil sie ihr, wie sie sagte, nicht entsprach. Vor drei Jahren hatte sie ein schweres Problem. Sie hat mich wieder aufgesucht und gemeinsam haben wir begonnen, zur Caritativa zu gehen. Wir teilen Bettlern, die bei uns in der Stadt leben, Essen mit aus. Danach reden wir oft im Auto und sie stellt mir viele Fragen. So ging das drei Jahre lang. Bei ihr habe ich immer an dem festgehalten, was ich von Don Giussani gelernt habe und immer in mir trage, nämlich die Wirklichkeit gut zu betrachten, denn sie macht dich aufmerksam für das Geheimnis. Wir haben sogar ein paar Mal gestritten, was in Japan höchst selten passiert. Denn wir werden dazu angehalten, die Dinge für uns zu behalten, einschließlich unserer Enttäuschungen. In einer Ausgabe von Spuren hatten wir die Übersetzung des Synthese des Büchleins Etwas innerhalb von etwas veröffentlicht. Meine Freundin begann es zu lesen und zwar jeden Tag, bis sie mir schließlich sagte:' Sako, ich habe endlich das verstanden, was Don Giussani sagt!' Sie war sehr glücklich! Und ich natürlich auch. Schließlich hat sie den Wunsch geäußert, den Kontakt zu uns wiederaufzunehmen.“
Den Japanern von Christus und dem Christentum zu erzählen, ist schwer, so Sako, denn sie haben ein großes Vorurteil. Im Allgemeinen meinen die Leute, dass die Kirche nichts mit ihrem Leben zu tun hat, da es nicht ihrer Kultur entspringt, sondern aus dem Westen kommt. Der Japaner hat zwar eine große Fähigkeit, zu betrachten und zu lernen, das gilt aber nicht im Bezug auf das Christentum. Zumindest geschieht dies nur gelegentlich und oft bleibt es eine sentimentale Sache. Es ist ein Problem der Mentalität, der Kultur und Tradition und manchmal scheinen dies riesige Hindernisse zu sein. Aber Sako liegt es am Herzen, hier zu präzisieren: «Schwierig, aber nicht unmöglich. Denn das Herz des Menschen ist überall gleich.»

Dmitriy und Ramziya Kuryachenko: ein Rechtsanwalt und eine Dozentin der Universität Astana
Ein Jahr Ehe in der Steppe
Von Paolo Perego

Dima und Ramziya leben in Astana, Kasachstan. Sie haben zu Beginn des am 3. Juli 2005. Wir baten Dima, das erste Jahr des gemeinsamen Lebens zu beschreiben.

Ein Jahr Ehe: Wenn du gefragt würdest, davon zu erzählen, womit würdest du beginnen?
Ich habe verstanden, dass es kein einfach zu gehender Weg ist, aber es ist ein Weg für mich und für sie. Es ist ein Geschenk, das Gott uns gegeben hat, damit Er sein Reich aufbauen kann. Das ist ein «Ereignis», wenn ich das Bewusstsein habe, dass diese Frau, Ramziya, meine Gattin, Jesus ist, der mich mit ihren Augen anschaut, mich mit ihren Armen umfängt, mir zulächelt, auch wenn sie gerade das Essen zubereitet.
Wir sind auf viele Schwierigkeiten gestoßen, weil wir zwei unterschiedliche Charaktere haben. Aber diese Weggemeinschaft, diese Begegnung mit Christus hilft uns zu verstehen, dass wir uns nicht genügen. Zum Beispiel, wie alle unterliegen wir der Versuchung, «besitzen» zu wollen, was sich bis in die kleinsten Dinge ausdrückt: Sei es, dass ich schlecht geantwortet habe und sie sich darüber ärgert oder ich zu spät nach Hause komme und sie mich deshalb zur Rede stellt. Wegen meines Temperamentes nehme ich mir das zu Herzen, weil ich nicht verstehe, wie aus einer so kleinen Sache ein Problem werden kann. Und so mache ich es nur noch größer. Schritt für Schritt habe ich verstanden, dass diese Haltung irrational ist. Aber wie habe ich es verstanden? Indem ich auf das schaue, was ist, indem ich vor der Realität stehe. Und meine Freunde helfen mir zu verstehen, dass die Realität diese ist und ich sie lieben muss: Es ist wesentlich rationaler, sie zu lieben, als sich zu ärgern.

Ist die Erfahrung der Familie, das heißt, dass zwei junge Menschen, die sich einander lieben, heiraten in Kasachstan «normal»?
Absolut nicht! Die Normalität, sagen wir, des Umfeldes, der vorherrschenden Mentalität ist, dass die Familie als Wert nicht existiert. Sie ist kein tragender Wert innerhalb der Kultur, im höchsten Maße nicht. Bei uns gibt es sehr viele Paare, die nicht verheiratet sind und zusammenleben. Und viele von denen, die heiraten, trennen sich nach einem oder zwei Jahren. Das ist auch im Hinblick auf die Kinder eine Katastrophe.
Zum Beispiel, als Ramziya in die gynäkologische Abteilung des Krankenhauses eingeliefert worden ist, kamen jeden Tag sechs bis sieben junge Frauen, um abzutreiben, und das im siebten oder achten Monat. Es ist eigentlich verboten. Die Ärzte machen es aber trotzdem. Weil diese Mädchen andernfalls zu Hause abtreiben und dabei ihr Leben riskieren. Es sind nicht nur Jugendliche, um die Wahrheit zu sagen. Es sind auch Familienmütter darunter, die abtreiben, weil sie vielleicht schon viele Kinder haben.
Ich denke aber, dass das nur Konsequenzen sind. Das Problem besteht darin, wie es bei der Versammlung mit Carrón gesagt wurde, dass die Person, das Erwachen der Frage, nicht existieren: «Wer bin ich, warum bin ich auf der Welt, für was lebe ich?» Die Gnade, die uns zuteil wurde, die Begegnung mit der Bewegung, ist wirklich eine Rettung. Denn selbst wenn du dich ärgerst, hast du danach die Möglichkeit, zu fragen: «Wünscht sich dein Herz das wirklich? Hat Er Ramziya und mich wirklich dafür vereint? Für diese Dummheit, für die wir uns ärgern und uns, zu guter Letzt die Gesundheit ruinieren?» Du beginnst zu verstehen, dass du jeden Tag gerettet werden musst. Du brauchst eine Begegnung, dein Herz braucht Antworten auf diese Bedürfnisse, die es hat, innerhalb der Beziehung mit der Ehefrau, zu Hause, in der Arbeit.

In welcher Weise?
Als Methode gibt es das Gebet. Am Morgen bete ich, wenn ich die Augen aufmache, weil ich ein Bedürfnis danach habe und nicht, weil ich es muss. Aber warum brauche ich es? Weil ich gerettet werden muss. Ich muss darum bitten, gerettet zu werden. Der Tag beginnt auf eine Weise, die mich rettet, die mir das Herz erfüllt. Ansonsten würde alles zu einem «ich muss, ich muss, ich muss machen!» Und am Ende des Tages frage ich mich: Bin ich zufrieden oder nicht? Und wie erledige ich meine Pflichten, die Dinge, die ich tun muss? Teilweise ist es ziemlich anstrengend, so vor dem zu stehen, was sich gerade ereignet. Aber zumindest kann man fragen. Es ist vernünftig. Ich kann nicht anders, gleich was im Einzelnen auch geschehen mag und geschieht! – es entspricht mir mehr. Mir geht es besser, ich bin glücklich.

Nehmen das die anderen im Alltagsleben wahr?
Mit unseren Nachbarn unterhalten wir uns nicht allzu oft. Aber wenn es einmal vorkommt, dass wir uns auf der Treppe oder vor dem Haus begegnen, passiert etwas Interessantes: Sie bleiben stehen, um sich zu unterhalten. Eine Sache, die zu Beginn, als wir in dieses Haus eingezogen sind, nicht geschah. Zu Hause unterhalten wir uns über alles, wie der Tag gelaufen ist und wir teilen uns einander die Dinge mit. Die Wände im Haus sind ziemlich dünn und zudem gibt es Löcher, Luftklappen, die mit der Nachbarwohnung verbunden sind. Du könntest hören, worüber sie sich unterhalten. Aber sie sprechen nicht, nein! Weißt Du was sie die meiste Zeit tun? Sie schauen fern, und Schluss! Das stillt ihre Langeweile. Wir haben keinen Fernseher. Vielleicht hören sie uns, wenn ich und Ramziya uns miteinander unterhalten. Manchmal zumindest sprechen sie uns auf der Treppe an und wir fragen sie: «Wie geht es? Was macht die Arbeit?» Eine Sache, die in Kasachstan nicht üblich ist. Niemand kümmert sich um niemanden. Wir haben noch nie unsere Nachbarn zu uns eingeladen, auch wenn es eine schöne Idee wäre. Allerdings laden wir die Studenten von Ramziya – die an der Universität unterrichtet – oder meine Freunde häufig ein. Ein Freund von mir, der mich besuchen kommt, seitdem er begonnen hat, in Astana zu arbeiten, sagte einmal nach einem Abendessen: «Es ist wirklich schön, ein Zuhause zu haben. Ich fühle mich hier zu Hause, auch wenn es nicht meines ist.» Und er wollte nicht mehr weggehen. So ist es jedes Mal, wenn er zu uns kommt. Auch die Studenten, die wir diesen Sommer eingeladen haben, waren beeindruckt. Nicht von uns, aber von dem Blick, der sie durch uns erreicht. Denn wir sind unfähig, vergessen uns, treiben es bunt miteinander, wir wollen alles haben und letztendlich verlieren wir uns selbst.

Murielle Fabre: eine Studentin in Paris
Der Mut, vor der Realität zu stehen
Paola Bergamini

Wir trafen uns am letzten Abend der internationalen Versammlung der Verantwortlichen. Ich war neugierig, die Studentin kennen zu lernen, die im letzten Frühling den Brief und das Flugblatt über Ausschreitungen von Paris verfasst hat (in der Mai-Ausgabe von Spuren veröffentlicht).
Als ich sie sah, kam mir für einen Augenblick eine berühmte Fotografie des Pariser Mai `68 in den Sinn: Eine wunderschöne junge Frau in der Menge, die ihre Arme zum Zeichen des Protestes erhob. Die selbe Lebendigkeit und die selbe Entschlossenheit. Murielle studiert in Paris an der Fakultät für orientalische Sprachen. «In Frankreich studiert man Sprachen sehr intensiv», erklärt sie, «und ich habe Chinesisch gewählt. Ich hatte schon immer eine Leidenschaft für die Sprachen. Ich habe den Vorteil, zweisprachig aufgewachsen zu sein. Meine Mutter ist Italienerin und mein Vater Franzose. Jede Sprache bringt auf ihre Weise die Realität zum Ausdruck. Für mich bedeutet eine Sprache die Möglichkeit, sich mitzuteilen und dem Anderen zu begegnen. Fangen wir damit an: Mein Leben wurde von einigen Begegnungen bestimmt.» Beginnen wir bei der ersten: «Bis zu meinem zehnten Jahre alt war, lebte ich in Frankreich gelebt. Dann bin ich aus familiären Gründen zusammen mit meiner Mutter nach Italien gekommen. Sie hatte als Jugendliche Don Giussani kennen gelernt und mir stets diese Art zu leben mitgeteilt. Wir wohnten in Mailand, wo meine Mutter sehr gute Freunde hatte, die mich sofort wie zuhause aufnahmen. Am Wochenende besuchte ich meine Großeltern in Brugherio am Stadtrand von Mailand. Dort begann ich, an einigen Treffen in der Pfarrei teilzunehmen, die Don Gianni Cachi Novati leitete. Ich war nicht getauft, weil mein Vater entschieden hatte, dass es meine eigene Entscheidung sein müsse.“ Der Katechismusunterricht? „Nein, das war nicht der erste Schritt. Eines Tages fragte Don Gianni: 'Wer möchte Menschenfischer sein?' Ich bin in ein Papiergeschäft gegangen, habe eine Karte gekauft und darauf geschrieben: 'Ja, ich möchte Menschenfischerin sein.' Mit denen, die ihm geantwortet haben, fing Don Gianni an, sich zum Abendessen zu treffen. Wir waren eine kleine Gruppe. An einem gewissen Punkt habe ich gebeten, getauft zu werden. Es war ein wunderschönes Fest. Für mich war es ein entscheidender Moment, wie eine Wasserscheide.“ Hast Du den Schulbesuch in Mailand fortgesetzt? „Ja, ich habe ein neusprachliches Gymnasium besucht, wo ich einer großartigen Lehrerin der Bewegung begegnet bin, die mich für die Welt begeistert hat, und die es mit mir gut meinte, wie eine Mutter. Ich nahm am Leben der Gemeinschaft von GS an meinem Manzoni-Gymnasium teilgenommen. So lernte ich Don Giorgio und die Freunde des Gymnasiums Sacro Cuore kennen. Im Sommer machte ich dann am Meer Bekanntschaft mit die Gemeinschaft von Chiavari (in Ligurien). Dort begegnet ich Don Pino De Bernardis, die Person, die mich mehr als jede andere für die Bewegung begeisterte und mein Leben verändert hat. Einmal war ich bei einem Treffen, das Don Pino über die Historizität der Evangelien gehalten hat. Für mich war es von entscheidender Bedeutung. Ich sah, wie es möglich war, durch das Studium der Häufigkeit einiger Konsonanten, geschichtliche Fakten zu rekonstruieren; Fakten, die fundamental sind für unseren Glauben, so dass man die Gründe für unseren Glauben aufzeigen kann. Da führte mich zur Gewissheit: 'Die Linguistik ist für mich meine kulturelle Berufung!' Am Ende des Treffens ging ich zu Don Pino. Er lud mit in die Università Cattolica ein, weil er mich einer Person vorstellen wollte. So lernte ich Eddo Rigotti kennen, der Professor für Linguistik ist. Wir haben uns zehn Minuten lang unterhalten und zum Schluss sagte er mir, vermischt mit einer Reihe von Ratschlägen: 'Studiere Russisch oder Chinesisch.' Ich neigte zu Russisch, weil es bereits eine Freundin studierte. Doch dann kam eine andere Begegnung. In jenem Sommer hörte ich bei der Equipe von GS sein Zeugnis von zwei Leuten, die gerade aus China zurückgekehrt waren. Ich war fasziniert von dem, was sie berichteten. Im Herbst schrieb ich mich in einen Abendkurs Chinesisch ein! Nach dem Abitur, kam die Entscheidung, dieses Interesse für die Sprache zu vertiefen. Schließlich kehrte dann vor allem wegen dem Linguistikstudium nach Frankreich zurück. Wegen einer Verkettung von Ereignissen und bürokratischen Schwierigkeiten musste ich mich aber zunächst für orientalische Sprachen einschreiben. Warum Paris? Ich könnte sagen, weil es mir am besten schien. Aber eigentlich fehlte mir Frankreich. Es war ein Teil meiner Geschichte. Das erste Jahr war sehr hart. Ich traf auf etwas, das mir vertraut war, aber weit von der Erfahrung entfernt schien, die ich in Italien gemacht hatte. Ich schwor mir sogar: 'Ich lasse mich nicht 'aufsaugen' von dem, was um mich herum geschieht.' Ich verstand die Mentalität der Leute nicht. Diese Schwierigkeit hatte ich sowohl mit den Kollegen an der Universität wie in der Gemeinschaft. Doch schließlich gab ich es auf, mich gegen die Wirklichkeit zu sperren. Die anderen sind interessant für mich, weil sie eine Gelegenheit für eine reale Begegnung darstellen. Ich hatte geschrieben, dass ich eine Menschenfischerin sein wolle… Das ist teilweise nicht einfach. An der Universität herrscht ein unglaublicher Konkurrenzkampf. Man gibt dir sogar falsche Mitschriften und lässt dich bewusst vor der Prüfung Zeit verlieren. Das Umfeld ist eine große Herausforderung, in dem man sich bis ins letzte ins Spiel bringen muss.“ Wie ist es mit dem berühmten Flugblatt abgelaufen? „Richtig, als ich auf der Toilette diesen Satz gelesen hatte. Wir müssen etwas tun, weil wir nicht immer Studenten sein werden', bin ich ausgerastet. Ich habe gedacht: 'Ich schlage nichts vor.' An diesem Abend haben wir uns bei mir zu Hause zum Seminar der Gemeinschaft getroffen und ich habe gesagt, dass man keine Zeit verlieren könne.“ Das Letzte, was einen in den Sinn kommt, wenn man sich Murielle anschaut, ist, dass sie jemand sei, die Zeit vergeuden würde. Es erscheint als mehr und mehr seltsam, Stunden damit zu verbringen, chinesische Ideogramme zu studieren. Ist das Studium dieser Sprache faszinierend? „Sehr. Die Chinesen leben, da sie den Schritt hin zur 'phonetischen Abstraktion' nicht gemacht haben, immer noch einen vertrauten Umgang mit der Realität. Das Kaligraphieren einer Sache ist mehr als nur das Schreiben eines Wortes. Es ist bereits das Sein der Sache selbst. Wenn du keine Erfahrung machst von dem, was Harmonie ist, könntest du nie einen Buchstaben genau kaligraphieren. Das ist nicht leicht zu verstehen, aber es ist sicherlich faszinierend. Jedoch gab es einen Moment, an dem ich mich gefragt habe, ob das das richtige Studium für mich wäre. Ich erinnere mich, dass ich während der Messe aus Anlass des Jahrestages des Todes von Don Giussani genau darum gebetet habe, zu verstehen, ob es sich lohnen würde. Wenige Tage später ist mir eine Zeitung in die Hände gefallen, in der es hieß: 'Warum Chinesisch lernen?' Neugierig geworden, lese ich. Keine wirtschaftliche Analyse zum Glück. Im Gegenteil. Ein Satz trifft mich: 'Die Sprache ist eine Gelegenheit für viele, sich dem anderen hin zu öffnen.' Der Artikel trägt die Unterschrift eines Jesuiten, des Leiters des Ricci Institutes in Taiwan. Die Zeitung war La Croix, die katholische Tageszeitung Frankreichs. Mir schien es wie eine Ermutigung, wie eine Antwort auf meine Frage.“