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Glaube und Vernunft
Wie an jenem ersten Schultag
Luigi Giussani

«Ich erinnere mich an meine erste Unterrichtsstunde am Gym¬nasium, in der Klasse l E des Berchet-Gymnasiums. Ich wollte gerade an das Lehrerpult gehen, da erhob sich hinten links eine Hand (ganz hinten, in der letzten Reihe). Ich dachte: "Oh, Gott! Es gibt gleich Schwierigkeiten, noch bevor ich überhaupt an¬fange!", und ich sagte: "Bitte, was gibt es?" (ich sah später im Klassenbuch, dass der Junge Pavese hieß. Das weiß ich heute noch, nach 40 Jahren. Ich erinnere mich genau!) "Es ist völlig überflüssig, dass Sie vor uns hier über Religion sprechen, denn um zu sprechen, muss man denken, das heißt, Sie müssten Ihre Vernunft gebrauchen. Aber die Vernunft angesichts des Glau¬bens zu gebrauchen ist nutzlos, weil beide wie zwei Geraden sind, die sich nie kreuzen. Die Vernunft kann etwas behaupten, der Glaube etwas ganz anderes. Es sind zwei getrennte Welten." Darauf sagte ich, schon etwas betroffen von dem unerwarte¬ten Einwand: "Sagen Sie mir, bitte: Was ist Glaube?" Der Schüler sah sich um. Die Klasse grinste verlegen. Also fragte ich mutig: "Wer von euch weiß, was Glaube ist? Wer kann ihn mir beschreiben oder definieren? Wer kann sagen, was er ist?" Da wurden plötzlich alle ernst, und keiner sprach ein Wort. Ich wurde mutiger und sagte mit etwas lauterer Stimme: "Sagen Sie mir doch bitte: was ist Vernunft?" Die Szene wie¬derholte sich. Also wieder an die Klasse: "Was ist Vernunft?" Keine Antwort. Da legte ich los, mit Vollgas versteht sich: "Ihr redet über Glaube und Vernunft, ohne die Bedeutung der Wor¬te, die ihr verwendet, zu kennen? Schämt euch! Das ist eurer nicht würdig! Ihr seid jung, ihr müsst mit Klarheit und Aufrich¬tigkeit ins Leben treten. Worüber ihr nicht Bescheid wisst, zu dem müsst ihr sagen: 'Ich weiß es nicht', und nicht darüber reden und urteilen.»
(L. Giussani, Das Wagnis der Erziehung, Eos-Verlag, St.Ottilien 1995, S. 20-21)