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Die Vernunft ist...
Das Meeting und die «Sehnsucht»
Carlo Dignola

Die Vernunft ist Bedürfnis nach Unendlichem und gipfelt in der Sehnsucht und der Vorahnung, dass dieses Unendliche sich zeigt.
Der Vernunft genügt nicht, was sie sieht, sie ist Bedürfnis nach etwas anderem – dem Unendlichen – ohne das sie nicht bestehen kann. Sie ist sehnsüchtiger Seufzer und Vorahnung, dass dieses Unendliche sich zeigt.
Bericht über Begegnungen zum Titel des Meetings, der auf einen Gedanken Don Giussanis zurückgeht.

Während des Meetings klingelt mein Handy und eine liebe Freundin teilt mir mit, dass sie sich gerade von ihrem Mann trennt. Sie sagt nicht etwa, er habe einen unmöglichen Charakter, er wähle Berlusconi (sie ist Kommunistin), nachts schnarche er zuviel oder er habe eine andere, jüngere Frau gefunden; sie seufzt kurz und sagt mir: «Im Leben hat alles einen Anfang und ein Ende». Das stimmt. Als Erwachsener weiß man das – als Jugendlicher kann man noch so tun, als sei es nicht so. Das Boot der Liebe ist am Alltäglichen zerschellt, sagte Majakowskij. Ich habe ihr geantwortet: «Nicht alles».
War das nicht das Thema des Meeting? Jener Seufzer, der mich überraschend per Telefon erreichte, von einer Freundin, die nicht zu CL gehört. Und mein Seufzer. Warum genügt es der Vernunft nicht zu sehen, was sie sieht; sie erahnt, spürt, besser noch – sagt Giussani und redet Klartext – sie «verlangt» anderes. Aber das schafft sie nicht aus eigener Kraft.

Das ganz offensichtlich Unendliche
Beginnen wir mit dem Anfang, der Begegnung mit Marco Bersanelli und anderen Größen am Montagmorgen. Edward Nelson lehrt in Princeton Mathematik. Er fragte sich, was dieses Unendliche ist, diese Nicht-Zahl, bei der die Griechen am Ende ihrer Berechnungen – aber auch die Inder bei ihren Zeichnungen – schon vor 2 500 Jahren, in der Morgenröte der vernunftbegabten Menschheit angekommen waren.
Nelson sagt, mehr als alles andere sei offensichtlich unsere Unkenntnis des Universums unendlich: und das ist nicht wenig. Das Geheimnis, das Unendliche umgibt uns von allen Seiten. Genies wie Richard Dedekind und Giuseppe Peano haben versucht, es in einer Formel einzufangen, Kurt Gödel aber konnte mit seinem Unvollständigkeitssatz sogar zeigen, dass eine solche «Gefangennahme» nie möglich sein wird, selbst wenn die menschliche Intelligenz noch eine Milliarde Jahre existieren sollte. Denn unsere logischen Verfahren haben eine strukturelle Lücke. Das Unendliche ist ein wenig wie jene liegende Acht am Ende des Einstellrings der Objektive unserer Fotoapparate. Sie zeigt keine Entfernung an; nimmt man aber nicht den Horizont als Bezugspunkt, jene letzte Linie, auf die sich alles perspektivisch ausrichtet, dann kann man keine Nahaufnahme scharf einstellen. Steven Beckwith, der Leiter des Projekts Hubble des wissenschaftlichen Instituts für Weltraum-Teleskope der NASA, erklärte, dass wir in jedem Jahrhundert dem Unendlichen ein gutes Stück näher gekommen sind und doch nimmt der Abstand nicht ab, wird er nicht geringer: «In den letzten 400 Jahren haben wir die Grenze zum Geheimnis beträchtlich verschoben» sagt er, aber – wie die Mathematik uns lehrt – wird Unendlich nicht um das Geringste kleiner, wenn man etwas davon abzieht. Es bleibt immer unendlich. Im Gegenteil, man möchte sagen, du hast es größer gemacht. Massimo Robberto der als Wissenschaftler am Observatorium von Hawaii arbeitet, meinte, es sei, als würde die ganze Wirklichkeit um einen Schritt zurückweichen, wenn die Menschen ihren Blick tiefer in sie versenken und als würde sie fragen: «Aber was sucht ihr?». «Mich beeindruckt das immer, weil es die Frage ist, die das Evangelium dem Mensch gewordenen SEIN in den Mund legt. Als Jesus den ersten Jüngern begegnet, fragt er sie: “Was sucht ihr?“».

Jenes «Mehr», das zählt
Kurz gesagt, man hat sofort gesehen, was eine offene Wissenschaft ist und was eine Wissenschaft, die ihr eigener Sklave ist – das große Thema des diesjährigen Meeting mit Kardinal Schönborn, der sich gegen einen Ideologisierung Darwins wandte: «Das Leben – sagte der Erzbischof von Wien – ist mehr als seine materiellen Aspekte. Das Problem worin dieses “Mehr“ besteht, geht über die quantitative Methodologie der Naturwissenschaften hinaus, betrifft aber deshalb nicht weniger die Wirklichkeit.»
Was aber bedeutet dem Menschen von heute praktisch dieses «Mehr»? Wenig oder nichts – war die Antwort des spanischen Theologen Javier Prades. Er hatte Daten über den Glauben der Jugend-lichen seines Landes zur Hand. Im Zeitraum von 2000 bis 2004 hatte die Hälfte von ihnen mit der katholischen Kirche gebrochen. Im Leben – sagen sie – zählen Familie, Gesundheit, Freunde, Arbeit, Wohlstand ....Gott kommt nur an siebter Stelle, gerade noch vor Zapatero. Und wenn Religion noch etwas bedeutet, dann höchstens «rechtschaffen sein», «Bedürftigen helfen». Prades zitierte Nietzsche: «Der Begriff Gott wurde als Antithese zum Begriff Leben erfunden». Muss man aus der Kirche austreten, um alles tun zu können, was man auf der Welt an Unterhaltsamem tun kann?

Das Zeichen des Geheimnisses
Vernunft wird heute meist gleichgesetzt mit Naturwissenschaft, das Geheimnis mit der Dunkelzone, wohin ihr kristallenes Licht nicht fällt. Der moslemische Kamikaze ist jemand, der sich schlecht in die Gesellschaft eingegliedert hat, nicht etwa jemand, der Probleme mit einem falschen Gottesbild hat. Prades zitiert Octavio Paz: «Das Einzige, was Europa heute eint, ist seine Passivität gegenüber dem Schicksal». Und Europa – sagt der Theologe aus Madrid – sind nicht nur diejenigen, die am Samstag den Billigflieger nehmen, um zwischen Bergamo und Barcelona Diskotheken zu besuchen: Europa, das sind wir. Leute, die sich im Herzen vielleicht etwas christlich fühlen, aber im rechten Augenblick immer zu einem klugen Schweigen bereit sind. Warum gibt es aber im Westen die Vorherrschaft einer reduzierten Version der Vernunft, eine instrumentalisierte Auffassung, die dazu neigt, die Tiefe der Einsicht zu beschränken?» fragt Prades. Und er erzählt den Witz von einem Personalchef, dem zwei Karten für Die Unvollendete von Schubert geschenkt wurden. Er wollte die Kräfte des Orchesters optimieren, indem er die Violinen reduzierte, weil sie alle die gleiche Note spielten, und indem er alle Wiederholungen herausstrich. Eine solchermaßen «quantitativ» verstandene Vernunft erlaubt uns nicht einmal, die Realität wirklich wahrzunehmen. Ihr weitsichtiges Auge lässt uns das Leben und die Musik weniger genießen, nicht etwa mehr (das als Antwort auf Nietzsche).
Prades wandte sich auch gegen die These, dass wir das Geheimnis nicht erfahren können – allerdings geschehe dies stets durch Zeichen. Es geschieht also «immer innerhalb, nicht außerhalb der Wirklichkeit». Cesana erinnerte hier an folgendes Beispiel: «Giussani erzählte, er habe einmal in der ersten Klasse des Gymnasiums ein Lied von Tito Schipa angehört und plötzlich mit Schauder bemerkt, dass etwas fehlte; nicht etwa an der Romanze von Donizetti, sondern am Leben selbst. Und er habe “von keiner Seite Befriedigung, Hilfe, Vollendung, Antwort gefunden“», (...)

Der Fluchtpunkt
«Es gibt einen Fluchtpunkt, es gibt etwas, das dem Gegenstand, nach dem wir greifen, den Boden entzieht, weshalb wir ihn nie richtig fassen. Deshalb ist da immer so etwas wie eine unerträgliche Ungerechtigkeit, die wir vor uns selbst zu verbergen suchen, indem wir uns ablenken. Sich dem Instinkt überlassen, ist die tückischste Weise, sich der Öffnung zu verschließen, nach der alle Dinge verlangen, zu der sie drängen». Als Don Giussani die Schallplatte mit den Liedern anhörte, – sagt Cesana – da «hatte er zum ersten Mal verstanden, wer Gott wirklich sein könnte» (und damals war er schon im Priesterseminar!).
«Die Traurigkeit, die man spürt, wenn die Beziehung zu der Person, die man am meisten liebt, unvollkommen ist – weil ich unfähig bin, weil sie unfähig ist» – ist Zeichen der Sehnsucht nach Unendlichem, in der die Vernunft gipfelt, «das menschlichste Merkmal unseres Lebens: das Bewusstsein der eigenen Unvollkommenheit». Andererseits – sagt Cesana – kann man nicht auf Dauer auf etwas warten, das es nicht gibt. «Wenn es so wäre, wenn wir spürten, dass unsere Erwartung auf etwas gerichtet ist, das es nicht gibt, würde uns Angst ergreifen». Nach Melanie Klein, einer Psychoanalytikerin, die das Entstehen wahnhafter Störungen bei Kindern untersucht hat, wird für einen Menschen, der kein Vertrauen mehr hat, die Abwesenheit zu einer bösen Anwesenheit, die dir keine Ruhe lässt. In unserem Leben gibt es jedoch eine Vorahnung, eine Ahnung, die alle anderen vorwegnimmt, und diese ist anderer Natur, nämlich «dass das Sein da ist, dass du, auch wenn du durch das Leben hinken musst, diesen Arm, der dich stützt, nicht leugnen kannst». Aber das beginnen wir erst zu verstehen, «wenn wir es nötig haben; wenn wir jenen Mangel, der traurig macht, überborden spüren als Suche nach einer Antwort: Das Unendliche meldet sich immer dann, wenn uns etwas Endliches fehlt». Wie die Hecke in Infinito (Unendlich) von Leopardi, deren Schatten man sehen kann. Um den Hintergrund wahrzunehmen – sagt Cesana – muss man die Grenze zum Unendlichen berühren, sich manchmal weh tun: «Deshalb gehört das Leben den Armen. Denn wenn du nichts brauchst, merkst du nichts».

Der Duft des Ungeschuldeten
Was heute der Vernunft fehlt, «sind nicht Neuronen, sondern Leidenschaft. Denn Vernunft kann ohne echte Zuneigung nicht bestehen. Aber die Zuneigung hängt nicht von uns ab», betont Cesana. Auch wenn das Unendliche noch am Horizont aufscheint und es dem Menschen, dessen Kopf und Herz noch funktionieren, gelänge, es bei jedem Schritt wahrzunehmen, würde das nicht hinreichen. Es wäre zu weit entfernt. So zerschellt das Boot der Liebe, die Familien trennen sich, die Kinder scheiden von den Eltern, die Leute, die du liebst, gehen weg, um andere provisorische Hecken zu suchen. Wenn dir das Unendliche endlos entflieht, dann kannst du dir nicht selbst helfen, «du musst dich anderem anvertrauen». Das erläuterte Pater Mauro Giuseppe Lepori, der Abt des Benediktiner-klosters von Hauterive,
«Das, wovon wir überzeugt sind, ein Anrecht zu haben, wollen wir den Händen Gottes entreißen, also den Händen der anderen». Und dann erinnerte er an eine Episode aus dem Roman Die Elenden von Victor Hugo: Auch wir rauben dem Bischof das Silber, und wenn er uns vergibt, machen wir unter dem Druck des schlechten Gewissens vielleicht noch Schändlicheres und nehmen etwa einem bettelnden Kind die einzige Münze aus der Hand. Wir sind immer versucht, den Apfel zu stehlen, «dem Bedürfnis nach dem Unendlichen, die Liebe zu entziehen». Und dies letztlich, weil «wir Angst haben, ergriffen zu werden». Was dagegen das Leben wirklich ändert, ist die Schönheit des Ungeschuldeten, «das Wunder ist die Liebe». Es ist die Liebe, die auf jede Art von Buchführung verzichtet. Der wahrhaft große «ontologische» Unterschied, die Neuheit, die alles verändert, die Überraschung des Lebens, ist nicht lieben, sondern so geliebt werden. Die Liebe wird nie enden. Sie ist unendlich.