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Von der Utopie zur Gegenwart
Gegenwart, Urteil, Autorität
Roberto Fontolan

Bei der Abschlussversammlung des diesjährigen Meetings von Rimini ging es um die jüngste Veröffentlichung der Schriften Don Giussanis, Vorträge an Studenten aus den 70er Jahren die nun unter dem Titel Dall'utopia alla presenza / Von der Utopie zur Gegenwart. (1975-1978) erschienen sind. Dabei fielen auch die Schlüsselworte der Wende für die Bewegung im Jahre 1976. An der Buchvorstellung nahmen der US-Völkerrechtler Weiler, der italienische Wirtschaftsminister Bersani und der Mailänder Arbeitsmediziner Cesana teil.

Es war gewiss eine eigenartige Runde, die sich da in Rimini zur jüngsten Veröffentlichung der Schriften Don Giussanis eingefunden hatte (Von der Utopie zur Gegenwart. 1975-1978). Joseph Weiler, praktizierender Jude, ein bekannter Forscher für Internationales Recht, Dozent an der New York University, ein Amerikaner. Die Tatsache, dass er gläubig ist, ist nicht unbedeutend. Um die Sabbatruhe einzuhalten, sprach er, obwohl anwesend, nicht direkt, sondern durch eines am Vortag aufgezeichnetes Video. Eine eigenartige Situation, die er genial auf ironische Weise und gleichzeitig sehr ernsthaft erklärte. Dazu kam Pierluigi Bersani – ein «Kommunist!», würde Berlusconi sagen –, ein bedeutender italienischen Minister der Regierung unter Romano Prodi. Er war zum wiederholten Male auf dem Meeting und hat sich in seiner Jugend mit Philosophie und Theologie befasst. Die Tatsache, dass er ein (Ex-) Kommunist ist, ist ebenfalls bemerkenswert. Denn der tosende Applaus, mit dem er begrüßt wurde, wiederlegte auch angebliche politische Einseitigkeiten des Meetings.

Joseph Weiler
Ordinarius für Internationales Recht an der New York University

Er sitzt stumm vor seinem Mikrophon; vom Video aus spricht er über einen Don Giussani, der «wesentlich, giftig, aggressiv, enthusiastisch, kämpferisch, heiter» ist. So sieht er ihn in dem Buch. Und so sieht er ihn auch für sich selbst, indem er die Neuheit der Botschaft für sein eigenes Leben als praktizierender Jude annimmt. So zum Beispiel die Idee des Ereignisses. Für Weiler ist das Ereignis der Sinai und die Vorschriften, die zu beachten sind (wobei er wie gesagt selbstironisch ist). Es sind die tägliche Erinnerung an den Sinai, an den Sinai eines jeden Tages. Das hat er verstanden, als er Don Giussani las. Warum halte ich die Sabbatruhe ein und esse koscher? Weil sie die fortdauernde Erinnerung des Sinai-Ereignisses sind. Dann Herz, Verifizierung, Veränderung. Die starken Worte, die im Mittelpunkt der Gespräche mit den Studenten stehen, treffen den Intellektuellen Weiler. Er ist von einem der legendären Aussprüche dieser Zeit tief betroffen: «Die erste Politik besteht im Leben». Und das Leben, fügt Weiler bewegt hinzu, ist überall. Und jener Schritt von der Utopie zur Gegenwart, der Weg der giussanianischen Revolution? Der Professor sieht es folgendermaßen: «Für das Leben zu sein, heißt nicht, eine Politik für die Familie zu betreiben oder Programme für die Familie zu entwerfen. Das kann es auch bedeuten, aber als Folge. Es bedeutet in Wirklichkeit, das Leben zu lieben, Leben entstehen zu lassen.» Um dies zu unterstreichen, erscheinen auf der Leinwand Bilder der schönen Familie Weiler, «lebendig, chaotisch, streitbar, liebevoll wie alle Familien».

Pierluigi Bersani
Minister für Wirtschaftliche Entwicklung
«Ich komme zu euch, so wie ich bin, als einer, der leider Don Giussani niemals persönlich kennen gelernt hat. Ich lese diese Seiten wie ein Reisender auf dem Weg zum Christentum, der von einem großen Reformator an die Hand genommen wird.» Der Minister unterstreicht bei der Text-Reise drei Merkmale: Den Willen, den Dingen auf den Grund zu gehen («Es ist die realistische Chronik einer drängenden und scharfen Debatte, in der keiner der Teilnehmer sich zufrieden geben wird»), die absolute Konzentration auf die Tatsachen und die Idee, dass die Gegenwart vor der Initiative kommt. Er scheint fast bei den jüngsten Exerzitien der Fraternität von CL gewesen zu sein, wo Don Carrón mit Zitaten von Péguy und Graham Greene von der «Eliminierung der Gegenwart» gesprochen hat. Bersani sagt, dass die Bewegung sich mit der grundlegenden «kulturellen» Veränderung der Epoche auseinandergesetzt hat, die 1968 begann: Der «Entleerung» der Gegenwart in die Zukunft hinein. Diese Entleerung erfolgt sowohl über die politische Suche als auch die Ideologie. Da er bei der Beerdigung Don Giussanis anwesend war, erinnert er sich an die Worte von Don Carrón: «Der Glaube erblüht auf dem Gipfel der Vernunft.» Er hat viele Ideen und Vorschläge, vom Sinn der Studentenzeit bis zu den Grenzen der Politik, von der Kritik der Utopie zur Ausbildung von Autorität («Ein Buch, das die Soziologen bis ins Letzte studieren müssten»). Sehr leidenschaftlich sind die Schlussworte: «Wer gefunden hat, soll weitersuchen; wer sich seiner Identität sicher ist, soll mit Neugier und Staunen weiter voranschreiten»; «Wir sind dazu aufgerufen, ein bisschen mehr Volk zu sein, uns ein bisschen mehr zu lieben.»

Giancarlo Cesana
Dozent für Arbeitsmedizin an der Bicocca Universität Mailand

Er gehörte zu den engsten Begleitern Don Giussanis genau seit jenen Jahren, in denen er ihm gefolgt ist, und hat ihn geliebt. Bei der Erinnerung an jenen Menschen, der dich niemals in Ruhe ließ, fährt er auf. «Christus geht allem einen Augenblick voran! Aber ihr schert euch nicht darum.» «Mit diesem Satz», so erzählt Cesana, «hat Don Giussani meine Wahrnehmung des Vorschlags der Bewegung, die Wahrnehmung meiner selbst verändert.»
Diese «Reform», erinnert sich Cesana, vollzog Don Giussani mittels dreier Schlüsselbegriffe. Der erste: Gegenwart. «1976 sagte er: Eine Gegenwart, ein Leben, das, was wir sind, kann nicht reaktiv sein, kann sich nicht dadurch rechtfertigen, dass es die Antwort auf jemand anderen ist. Sie muss originell sein, das hießt sie muss einen Wert in sich tragen. Wir waren völlig von der Notwendigkeit eingenommen, den anderen zu zeigen, dass auch wir in der Lage waren, Befreiung zu erreichen. Das hat uns aufgerieben. Und er sagte: ´Was ist der Glaube? Der Glaube ist die Anerkennung einer Gegenwart der Befreiung des Lebens, der Rettung von allem. Christus kommt vor allem anderen.´ Diese Gegenwart hatte vor 2000 Jahren das Antlitz jenes Menschen, Jesus Christus. Heute hat sie das Antlitz unserer Einheit, die unser Sinai ist, die Überraschung der Offenbarung Gottes.» Der zweite Begriff: Das Urteil. «Wann ist man Protagonist? Wenn man beurteilt, wenn man sagt: Das ist in Ordnung, das ist schlecht, das ist richtig, das ist falsch, das ist für mich, das ist für dich. Das Werturteil ist keine intellektualistische Operation, sondern eine Anhänglichkeit, eine Zuneigung zu den Dingen. Es ist das Anerkennen des Wertes der Dinge, um ihnen anzuhängen.» Der dritte Begriff: Die Autorität. «Don Giussani sagte: ´Ich bin nicht deshalb der Chef der Gemeinschaft, weil ich bessere Ideen habe, sondern weil ich die besten Ideen, die von den Besten kommen, am ehesten wertschätzen kann.´ Und er fügte hinzu: ´Man folgt denen, die selber folgen´. Ich folge dir, weil du wiederum etwas nachfolgst, was größer ist als ich und du; etwas, das mich beurteilt, aber auch dich beurteilt. Andernfalls würde ich mich hörig machen. Autorität bedeutet Hilfe zur Reife. Der Faktor, der unsere Bewegung hervorbrachte, war das Treffen auf eine andere Menschlichkeit, die Menschlichkeit Don Giussanis und derjenigen, auf die er hinwies und mit denen er selber eins wurde.»
Indem man für zwei Stunden in ein lebendiges Buch eintauchte, schloss das Meeting so, wie Don Carrón es in der Einführung definiert hatte: als fortdauernde Geschichte.