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Aufmacher
Gott ist Barmherzigkeit
Luigi Giussani

Aufzeichnung eines Gesprächs, das Luigi Giussani anlässlich des Einkehrtags zur Fastenzeit mit den Memores Domini führte. Pianazze, 16. Februar 1975

Das gestrige Abendgebet1 hat uns an zwei Ergebnisse der Bekehrung erinnert: zum einen an die Leidenschaft der Erkenntnis Christi - «Erkenntnis» im vollen und biblischen Sinne des Wortes. Es zum einen eine Leidenschaft für Christus, eine Liebe zu Christus, die sich in der Sehnsucht nach ihm und im Anhängen an Ihn ausdrückt. Zum zweiten sind es die guten Werke. Die Fastenzeit ist das Werkzeug - das sakramentale Mittel - um diese Bekehrung zu vertiefen. Das heißt: durch das Zeichen der Fastenzeit, durch die pädagogischen Hinweise, in denen die Ermahnungen der Kirche während dieser Zeit bestehen, ereignet sich Kraft des Geistes etwas viel Größeres, als es unsere gewöhnlichen Anstrengungen bewirken. Es handelt sich um eine sakramentale Zeit, eine Zeit, die uns von Gott gegeben ist, um uns einen größeren Eifer in der Veränderung zu geben.
Daher haben die üblichen Dinge, die praktischen Entscheidungen und Vorsätze aus Gehorsam gegenüber der Kirche in der Fastenzeit eine größere Bedeutung, eine größere verändernde Kraft. Sonst wäre alles ein reiner Nominalismus, alles wäre für uns lediglich Begriffe, und es gäbe keinen Unterschied und daher auch keine Geschichte: Wir gingen mit dem August und dem September genauso um, wie mit der Fastenzeit, also mit derselben Gleichgültigkeit und derselben Zerstreuung. Die Predigten oder die liturgische Meditation der Fastenzeit hätten dann, wenn es hoch kommt, vielleicht noch - aber nur vielleicht! - andere Themen, als im August oder September, aber alles bliebe Nominalismus. Alles wäre Nominalismus, bloße Begriffe. Dann aber fehlt die wirkliche Geschichte, es fehlt eine reale Geschichte, das heißt es fehlt der Sinn des Geheimnisses als Christus. Denn Christus ist das Geheimnis, das heißt, Gott, der sich in der Geschichte offenbarte, Gott, der innerhalb der Geschichte zur Erfahrung wurde. Es ist eine Geschichte, wie wir gleich sehen werden. Für sich genommen waren seine Taten eine unendliche Wiedergutmachung, jede seiner Taten war Gott würdig, konnte die Welt wieder aussöhnen. Aber wie in seinem Leben das Kreuz wichtig war, wie der Kreuzweg oder die Todesangst wichtig waren, wie der Tag wichtig war, an dem er seine Mission begann [weil es sich bei all den Taten Christi nicht um sinnlose Einförmigkeit handelte, auch wenn jede seiner Taten eine Tat Gottes darstellte, selbst wenn er als Kind aß oder trank], so müssen auch wir in unserer Generation, im Leben unserer Generation den Wert der Geschichte wieder zurückerobern. Aus diesem Grund heißt es in der Liturgie, dass die Fastenzeit ein «sakramentales Zeichen» ist, dass sie einen sakramentalen Wert für unsere Umkehr besitzt, den die anderen Momente des Jahres, die anderen Zeiten des Jahres, nicht haben. In diesem Sinn handelt es sich wahrhaft um eine Erwartung, die nicht nur formaler Natur ist.
Schon gestern Abend habe ich darauf hingewiesen, dass im Gebet des dritten Sonntags der Fastenzeit auch die Praktiken aufgezeigt werden, das, was wir die materiellen Zeichen dieses «Sakraments» genannt haben, das die Fastenzeit darstellt. Aber welches ist das materielle Zeichen dieses Sakraments, wie es für die Eucharistie Brot und Wein sind, wie es für die Taufe das Wasser ist? «Gott, unser Vater, du bist der Quell des Erbarmens und der Güte, wir stehen als Sünder vor dir, und unser Gewissen klagt uns an. Sieh [gütig] auf unsere Not und lass uns Vergebung finden durch Fasten, Gebet und Werke der Liebe».2 Wir wären uns in der Tat unserer selbst überdrüssig oder in Unruhe über uns selbst, in Unzufriedenheit: «Deine Barmherzigkeit lasse uns Vergebung finden». Anders ausgedrückt, deine barmherzige Gegenwart, die Tatsache, dass wir auf dich schauen, gibt uns Trost und Zuversicht.
Wir müssen uns und unser Leben an den wahren Gebrauch dieser drei Elemente erinnern. Die Fastenzeit muss ein Gehorsam gegenüber dieser Aufforderung der Kirche sein: Gebet, Fasten und Werke der brüderlichen Liebe.

1. Gebet

An erster Stelle ist es wichtig, dass wir in dieser Zeit die Aufforderung ernst nehmen, den Sinn des Gebets auf tiefere Art und Weise wiederzugewinnen. Und der Sinn des christlichen Gebets ist nur einer: Die Erwartung Christi. Wie wir im Seminar der Gemeinschaft gelernt haben,3 erinnerte der Prophet Gott an sein Volk. Aber um was bat der Prophet Gott für das Volk? Er bat um Gott selbst. So können wir für dieses Volk, das uns am nächsten steht, das wir selbst sind, um nichts anderes bitten, als dass Gott sich offenbare, die Erwartung der «seligen Hoffnung», die Rückkehr Christi oder, was das Gleiche ist, die Erfüllung der Auferstehung Christi. Und mit der Taufe in den «neuen und ewigen Bund» aufgenommen zu sein, bedeutet, dass dieses Ziel in uns bereits gegenwärtig ist. Dies ist der erhebende Gedanke, der Gedanke der Befreiung, dies ist die Befreiung. Daher ist die einzig wahre Sehnsucht, dass sich diese Offenbarung erfülle, oder besser, dass sich die Offenbarung dessen, was wir schon in uns tragen, erfülle: Christus ist auferstanden. Mit dem normalen Blick des Menschen auf die Zeit betrachtet ist dies gleichbedeutend mit der «Erwartung Seiner Wiederkehr».
Das christliche Gebet ist die Erwartung seiner Wiederkehr, die Bitte um Seine Rückkehr, dieses maranathà, «Komm Herr!», mit dem die Apokalypse endet.4 Wenn jedes unserer Gebete, wenn jede unserer Bitten, wenn jeder Blick auf Gott, wenn alle unserer Überlegungen nicht diesem «Komm Herr!» untergeordnet sind, dann ist es kein Gebet oder ein noch heidnisches Gebet. Darin liegt das Wesen des christlichen Gebets. Achtet darauf, dass man für all dies auch einen anderen Ausdruck verwenden kann, den wir immer gebraucht haben. Das Gebet ist das Gedächtnis Christi, das Gedächtnis der Auferstehung. Und das Gedächtnis der Auferstehung stimmt in unserer existenziellen Situation mit der Bitte überein, dass sich in uns diese Auferstehung ereigne, dass sie sich in uns und in der Welt erfülle. Es handelt sich um das Gleiche. Es gibt daher kein Gedächtnis, wenn es nicht Erwartung Seiner Wiederkunft ist. Das ist identisch. Wenn einer verliebt ist, dann fällt das Gedächtnis seiner Frau mit der Sehnsucht, sie wiederzusehen, zusammen.
Das Wesen des Gebets, an das wir uns gerade angesichts der Bekehrung während der Fastenzeit erinnern, der Vertiefung der Bekehrung in der Fastenzeit, umfasst zwei Dinge, die ich hervorheben möchte.

a) Die erste Implikation besteht in der Gewissheit; die Gewissheit, dass Er, indem er uns dazu berufen hat, nach ihm zu rufen, sein Gedächtnis zu leben und ihn zu bitten, Seinen Plan in uns vollendet. Daher liegt in dieser Gewissheit die Befreiung. Genau diese Erwartung stellt die Garantie des Glaubens dar, die Garantie dafür, dass der Glaube uns bis ans Ende geleiten wird. Darin besteht die Garantie, die Gewissheit oder das Unterpfand. Aber das Wort «Unterpfand» fügt noch etwas hinzu, weil das Unterpfand jene Garantie und Gewissheit bedeutet, die von einer bereits anfänglichen Erfahrung der Endgültigkeit herrührt. Nicht umsonst ist das Unterpfand vom Geist in uns bewirkt, dass heißt von der verändernden Kraft, von der Kraft, die die Befreiung bewirkt. Denn der Geist bewirkt die Befreiung. «Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes [als Unterpfand] in unser Herz, den Geist, der ruft: Abba, Vater».5 Man kann zu niemandem «Vater» sagen, wenn nicht mit jener absoluten Gewissheit und Sicherheit, von der der Herr im elften Kapitel bei Lukas (Verse 1-11) spricht, wo die Rede vom Vater ist, der dem Sohn keinen Stein gibt, wenn dieser ihn um ein Stück Brot bittet: «Wenn nun schon ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gebt, was gut ist, wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist denen geben, die ihn bitten».6 Was bedeutet es den Geist zu bitten? Es bedeutet, ihn um die Wiederkehr Christi zu bitten, darum zu bitten, dass sich die Auferstehung ereigne, darum zu bitten, dass sich die eigene Befreiung und die Befreiung der Welt vollziehe, die Christus ist. Denn die Befreiung liegt einzig in Christus und in nichts anderem. Es bedeutet, darum zu bitten, dass sich die Auferstehung Christi ereigne.
Es geht also in erste Linie um den Aspekt der Gewissheit, des verbürgten Herzens, des bereits erfahrenen Unterpfands. Ich unterstreiche diese beiden Implikationen - die zweite folgt nun - weil sie uns die größte Mühe bereiten und die beiden schwierigsten Aspekte des Gebets sind, und zwar aufgrund unseres Stolzes, unserer Eigenliebe, unseres Rationalismus, unseres Naturalismus, unserer Fleischlichkeit, unseres Autonomieanspruchs, unseres Festhalten an uns selbst. Dass sie «schwierig» für uns sind, zeigt sich darin, dass es die beiden Aspekte sind, die wir am häufigsten vergessen und beiseite lassen. Man könnte beten und dabei diese beiden Aspekte des «sacrificium fidei vestrae»,7 des Opfers des Glaubens vergessen.

b) An zweiter Stelle ein weiterer vollkommen in Vergessenheit geratener Aspekt unseres Gebets: Wenn das Gebet die Erwartung Seiner Offenbarung ist, so ist es diese Erwartung, die uns das wahre «Wie» der Zeit zeigt, das «Wie» der Zeit, die vergeht. Das Gebet stellt das Herz der Zeit, die vergeht, dar - das Herz! -, das heißt, es verleiht uns die Haltung, das «Wie» der Zeit, die vergeht. Die Zeit, die vergeht, bedeutet: Am Morgen aufstehen, den Milchkaffee trinken, die Straßenbahn nehmen, zur Arbeit gehen oder in der Küche stehen, um alle Sachen wieder zu ordnen, die Betten machen, fegen, Spinnweben entfernen, essen, wieder die Straßenbahn nehmen, nach Hause fahren und mit Leuten reden. Das ist die Zeit, die vergeht. Das «Wie» der Zeit, die vergeht, das Herz der Zeit, die vergeht, und daher der Wert, die Bedeutung der Zeit, die vergeht, liegt im Gebet. Wenn das Gebet die Erwartung Seiner Wiederkunft ist und Seine Wiederkunft den Bestand aller Dinge darstellt, dann ereignet sich gerade im Gebet das «wie» der Zeit, die vergeht.
Es erscheint mir nicht indiskret, euch diesen Ausschnitt aus einem Brief vorzulesen, den ich bekommen habe: «Jedes Mal, wenn ich in der Messe sage: " ... damit wir den verheißenen Lohn empfangen", frage ich mich nach dem Warum dieser Erwartung [ich lese diesen Brief vor, um euch zu zeigen, wie diese beiden Aspekte, die das Gebet impliziert und die ich hier unterstreiche, tatsächlich die größte Schwierigkeit für den Menschen als Maß der Dinge, für unseren Autonomieanspruch, darstellen]. Jedes Mal, wenn ich sage: "Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast" wünschte ich, dass dieses Gebet sich sofort wörtlich erfülle. Denn was könnte die Zeit dem noch hinzufügen? [Wenn wir das Heil bereits besitzen, ist die Frage: Warum gibt es die Zeit?] Dies öffnet auch weitere Fragen, zum Beispiel nach der Bedeutung der Geschichte der Kirche [in der Tat ist dies das Gleiche: Warum die ganze Geschichte der Kirche, wenn das Heil schon gekommen ist?]. Warum warten, wenn wir wissen, dass "unser Herz nicht ruht, bis dass es ruht in Ihm"? Warum warten, wenn wir wissen, dass die Zeit, die Geschichte, nicht die Möglichkeit der eigenen Rettung in sich trägt, sondern nur das Offenbarwerden des göttlichen Gerichts erwartet? Warum warten, wenn wir wissen, dass wir auf dieser Welt nie eine vollkommene Handlung vollbringen werden, dass sich unsere Vollkommenheit nicht durch das Werkzeug der Zeit regenerieren kann? Das heißt, die Zeit, die Geschichte stellt ein Faktum dar, das ich nicht als positiv wahrnehmen kann, sondern nur in seiner Charakteristik des Fragmentarischen und des Unvollendeten».

Versteht ihr, dass man nur so wirklich wie Abraham handelt und den Sohn Isaak opfert? Normalerweise sind wir nicht imstande die Dinge so wahrzunehmen, wie sie sind. Der einzige Sinn der Geschichte - der absolut einzige - ist das Geheimnis des Willens Gottes, die absolute Freiheit Gottes. Wir könnten auch fragen [auch wenn davon nichts in diesem Brief steht]: Warum ist Christus gerade vor 2000 Jahren in die Welt gekommen, und nicht vor 30.000, 20.000 oder auch heute? Warum? Auf diese Fragen finden wir keine Antwort; die einzige Antwort darauf ist der Wille Gottes, der Plan Gottes, der geheimnisvolle Plan des Vaters. Aber wenn wir das einmal akzeptiert und anerkannt haben, dann müssen wir uns diesem Plan hingeben, denn das ist wahr [die Wahrheit ist nie ein Bild, das wir uns von ihr machen], das ist gut [gut ist nie das, was wir für menschlich halten] und gerecht, weil Gott Gerechtigkeit ist. Und damit tut sich vor uns ein unauslotbarer Abgrund auf, der jedes Maß sprengt. Man kann hier kein Kriterium anlegen, es gibt kein Maß. Und es wird einem klar, dass genau das der Punkt ist, wo man sich verlieren muss, sich vollkommen hingeben muss. Man erkennt, dass man selber nichts und der Plan Gottes, der Wille des Anderen, das Absolute [denn man kann es an nichts festmachen, es gibt dafür kein Maß], der Unaussprechliche [denn man kann ihn weder beschreiben, noch von ihm sprechen und auch nicht definieren] alles ist. Und wenn es im Gebet nicht darum geht, dann ist es völlig umsonst. Man könnte es vergleichen mit dem Anspruchsdenken eines pubertierenden Jugendlichen. Aber wenn wir uns dem hingeben, überwinden wir eine rein intellektuelle Haltung und bleiben nicht bei einer reinen Ästhetik stehen « ... und Schiffbruch ist mir süß in diesem Meere».8 Diese Hingabe wird nur in der Erfahrung des Christentums wirklich real und existenziell. Wenn man dazu einmal Ja gesagt und es anerkannt hat, dann versteht man - dann kann man es förmlich durchbuchstabieren - , dass es diese Wege sind, «die nicht unsere Wege sind»,9 dass es «diese Weisheit ist, die nicht unsere Weisheit ist, Gott sei’s gedankt»10 [so Miguel Mañara am Ende des Abschnitts, den wir im Seminar der Gemeinschaft gelesen haben], durch die Gott seinen Plan verwirklicht. Wenn man das einmal verstanden und akzeptiert hat, dann erkennt man, dass dieser Plan aus Liebe zu unserer Freiheit existiert, aus Barmherzigkeit angesichts unserer Zerbrechlichkeit. Die Zeit, die uns gegeben ist, ist Liebe zu unserer Freiheit und Barmherzigkeit gegenüber unserer Zerbrechlichkeit.
Im zweiten Petrusbrief heißt es in Kapitel 3, 8ff.: «Das eine aber, liebe Brüder, dürft ihr nicht übersehen: dass beim Herrn ein Tag wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag [von 24 Stunden] sind. Der Herr zögert nicht mit der Erfüllung der Verheißung, wie einige meinen, die von Verzögerung reden. Er ist nur geduldig mit euch, weil er nicht will, dass jemand zugrunde geht, sondern dass alle sich bekehren [Freiheit und Geduld, Freiheit und Barmherzigkeit]. Der Tag des Herrn wird aber kommen wie ein Dieb. Dann wird der Himmel prasselnd vergehen, die Elemente werden verbrannt und aufgelöst, die Erde und alles, was auf ihr ist, werden [nicht mehr] gefunden. Wenn sich das alles in dieser Weise auflöst [das heißt: ihr müsst euer Maß über den Haufen werfen, es muss ganz neue Gestalt annehmen]: wie heilig und fromm müsst ihr dann leben [was heißt dieses "heilig und fromm leben"? es zeigt sich im "Wie" der Zeit, das aus dem Gebet erwächst], den Tag Gottes erwarten und seine Ankunft beschleunigen! An jenem Tag wird sich der Himmel in Feuer auflösen und die Elemente werden im Brand zerschmelzen. Dann erwarten wir, seiner Verheißung gemäß, einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt.»11 Fromm leben heißt genau das: «Den Tag Gottes erwarten und seine Ankunft beschleunigen».
Welch geniale Beschreibung des heiligen Petrus! Diese Worte müssten dafür stehen können, wie wir die Dinge des Alltags angehen: «Den Tag Gottes erwarten und seine Ankunft beschleunigen». Das heißt Gebet: Seine Rückkehr erbitten!
Ausgehend von dem vorher zitierten Brief möchte ich auf zwei Dinge näher eingehen: zum einen auf die Frage der Gewissheit, auf die ich gleich noch zu sprechen komme, da sie die wichtigste Frage von allen ist. Momentan bin ich aber noch beim zweiten Punkt: dem Wert der Zeit. In besagtem Brief heißt es weiter: «Und wenn ich den Grund meiner Erwartung nicht kenne, dann weiß ich erst recht nicht, wie ich sie leben kann. Ich sehe, dass ich mir nur noch Zeiten der Stille, des Gebetes und der Betrachtung wünsche [wenn das irgendwie möglich wäre], denn ich habe den Eindruck, dass ich in diesen Momenten das, was Endgültigkeit besitzt, noch am ehesten erfahren kann; auch wenn das Gebet in den Momenten, in denen mein Herz von Schwere und Stumpfsinn geplagt wird, mich [mehr noch als die Nähe] die abgrundtiefe Ferne von Gott wahrnehmen lässt und so auch das Gefühl eines Missverhältnisses zunimmt und die Sehnsucht größer wird. Ich überrasche mich immer wieder dabei, wie ich zur Arbeit gehe, die Beziehungen im Alltag lebe, um diese Ferne nicht so extrem wahrzunehmen. Ich überrasche mich dabei, dass ich nicht mehr einen so großen Wunsch danach habe, eine authentische Moralität zu leben, weil mir scheint, dass mich nichts meinem Ziel näher bringen kann [das ist die logische Konsequenz, wenn Zeit und Geschichte eines Sinnes entbehren]. Am Ende mache ich mir Vorwürfe: entweder weil ich ungeduldig bin oder weil ich aus Bequemlichkeit die Mühe einer Askese und die mir aufgetragene Mission bewusst umgangen habe. Aber ich gelange dadurch nicht zu einem Frieden, weil in mir keine wahre Reue wach wird». Auf der einen Seite versucht man also, sich nicht auf die Dinge einzulassen - «Es bringt doch eh nichts!» - , man bleibt lieber bei Gebet und Betrachtung. Andererseits ist es aber so, dass diese Momente einen noch weiter sehen lassen; die Alternative dazu ist, dass man in einen Aktionismus verfällt, damit man dieses Unbehagen nicht mehr wahrnimmt.
Also, wenn der Grund für die Erwartung, wenn der Wert der Erwartung darin besteht, dass Gott unser Leben so befreit und sich angesichts unserer Zerbrechlichkeit als barmherzig erweist, dann ist alles, was in der Zeit geschieht - absolut alles! - Wille Gottes: alles, aber auch alles! «Gott führt alles zum Guten, bei denen, die heilig sind»,12 bei denen, die seinen Bund anerkennen. Bund heißt Gott, der in Zeit und Geschichte eingegangen ist, der sich auf unsere Ebene der Zeit eingelassen hat. Deswegen ist das «Wie» der Dinge oder anders gesagt die Art und Weise, «wie» wir die Erwartung leben, «wie» wir die Zeit leben - angefangen beim Aufstehen am Morgen, über das Ankleiden, Frühstücken, die Straßenbahnfahrt oder das Aufräumen, bis hin zum Nachhausekommen und Schlafengehen - Gebet; das Gebet klärt das «Wie», denn alles, was wir tun, muss Gebet werden. Wenn Gebet heißt, die Rückkehr Christi zu erwarten, dann geschieht das gleichzeitig zu dem, was wir gerade leben, gleichzeitig zu den Tätigkeiten, die wir gerade verrichten. Denn das Aufstehen, Essen oder der Gang zur Arbeit ist. Es muss Gebet werden, es muss Bitte werden. Das bedeutet das Wort «Hingabe». Es ist das vollkommenste, wahrste und endgültigste Wort überhaupt. Wir haben es schon öfter gesagt, aber ich werde nie müde, es euch erneut in Erinnerung zu rufen, so wie es auch euch nicht schadet, wenn ihr es euch noch einmal sagen lasst.

***

In dem Brief hieß es zu Beginn: «Ich werde unruhig, wenn ich höre, dass es nicht so ist und auch niemals so sein wird, dass ich in meinem Glauben [man könnte hier auch von Berufung sprechen, was das Gleiche ist] beständig sein werde. Es macht mich unruhig, dass meine Freiheit immer die Möglichkeit hat und auch in Zukunft haben wird, sich Gott gegenüber zu verschließen. Manchmal gehe ich deswegen mit mir ins Gericht, weil ich dem Rationalismus da noch nicht ganz abgeschworen habe». Genau das ist es! Genau das ist der Grund. «Rationalismus» heißt, dass der Mensch den Anspruch erhebt, sein Leben und die Dinge aus seiner Sicht heraus beurteilen zu wollen. Anders gesagt: der Mensch beansprucht, Maß aller Dinge zu sein. Aber das, was unser Leben bestimmt, ist das Ereignis Christi, es ist das Ereignis des Bundes, das unserem Leben Sinn gibt. Es ist das, was uns passiert ist, was uns in unserem Leben Sicherheit und Gewissheit gibt. «Ja, aber ich kann mich dem, was passiert ist, immer noch verweigern». Merkt ihr, wie fragwürdig dieser Einwand ist? Weil man wirklich bewusst Nein sagen muss, und das ist nur möglich, wenn man sich nicht erinnert, wenn man das Gedächtnis nicht lebt.
Dass diese Sätze, diese Ängste und diese Unruhe wahr sind [wenn wir es abstrakt aus unserer Warte heraus formulieren], liegt nur daran, dass die Zeit, die Geschichte, das Leben als Berufung und die Geschichte, wie es der heilige Petrus gesagt hat, uns gegeben sind, damit wir unsere Freiheit wirklich entfalten können. Sie sind uns gegeben, damit wir unserer Freiheit wirklich Ausdruck verschaffen können, damit wir dem Geheimnis Christi anhängen, es unser wird, dass wir die Rückkehr Christi ersehnen. Die Zeit macht das zu unserer Treue. In der Zeit wird es unser, denn das ist die Methode, die Gott gewählt hat. Das geschieht nicht mechanisch, nicht unmittelbar oder instinktiv, dahinter steckt auch keine Magie. Es geschieht in der Zeit. Jeglicher Einwand wäre hier vollkommen fehl am Platz. Man kann dem kein «Wenn und Aber» entgegensetzen, denn wir sind so geschaffen. Jedes «Wenn und Aber» ist ein Gebilde unserer Phantasie, wie ein Esel mit einer Drehorgel und zwei Flügeln, der am Himmel von Stern zu Stern fliegt. Das ist reine Gedankenspielerei. Es gibt nur das von Gott geschaffene Wesen. Allein in der Zeit, das heißt in der Zeit der Berufung, also im Sein und in der Geschichte, wird die Auferstehung Christi zu unserer. In Zeit und Raum wird unser Missverhältnis, unsere Ferne langsam vergeben, das heißt, vollkommen besiegt durch die Barmherzigkeit.
Da wir unserer Freiheit in der Zeit Ausdruck verschaffen und auch in der Zeit unsere Zerbrechlichkeit Rettung erfährt, nehmen wir sie als eine unendliche Unsicherheit wahr. Aber das geschieht, weil wir unsere Freiheit und Zerbrechlichkeit betrachten, als würden sie uns gehören. Wir betrachten sie nicht aus der Sicht Gottes. Aber das, wovon wir zuallererst ausgehen müssen, ist Gott, das Geheimnis Gottes, Gott, der sich uns geschenkt hat, seine Barmherzigkeit, sein Bund. Wenn das nicht unser Ausgangspunkt ist, dann gerät alles durcheinander, dann stimmt nichts mehr.
Wenn wir eine Gewissheit haben und keine Unruhe mehr verspüren wollen, wenn wir eine Garantie und Gewissheit - wie ich zu Beginn gesagt habe -, im Glauben und ein authentisches Herz haben wollen, dann gewährt uns dies der Bund als eine gegenwärtige Größe. Allein das muss unser Bewusstsein bestimmen, das muss unseren Blick auf alles bestimmen. Dann versteht man, dass das Sein und die Geschichte, was auch immer passiert, eine Gewissheit haben, dass in ihnen Friede ist. Wenn wir die Dinge in Christus anschauen, schenkt er uns Frieden. Das Problem ist also nicht unsere Freiheit, auch nicht unsere Zerbrechlichkeit [«Werde ich ihm treu bleiben können?»]. Unser Problem ist, dass in unserem Leben das Gedächtnis Christi größer werden muss. Das ist alles.
Kurz und gut: Warum sage ich das? Weil unserem Gebet wirklich - und das ist die erste Beobachtung, die ich machen möchte - die Gewissheit fehlt, gerade deswegen, weil es keine wahre Bitte ist. Wir erflehen nicht Gott, es geht nicht darum zu bekräftigen, dass Gott alles ist, sondern wir erbitten Gott nur, dass er sich der Sorge, die wir mit uns haben, annehme, und das war’s. Dazu kommt, dass wir zwischen dem Gebet und dem, was wir tun, trennen. Und das ist ein schlechtes Symptom nicht nur für das Gebet, sondern auch für unsere Arbeit. Unser Gebet ist nicht eine Haltung, die auch in der Arbeit Raum gewinnt. «Herr, ich bin nicht würdig»: Das müsste das Bewusstsein sein, wenn wir zur Arbeit ins Krankenhaus gehen oder in die Kulturredaktion, zu Hause arbeiten oder an der Uni und so weiter. Das fehlt unserem Gebet vollkommen. Es wird höchstens von außen übergestülpt. Auch das, was wir unter Hingabe verstehen, dringt nicht zum Kern vor: «Ich gebe dir hin, was ich tue», aber dann hat das, was wir tun, nichts mit dieser Hingabe zu tun. Wir beginnen also langsam, besser zu verstehen, worin der Wert der Zeit besteht. Die Zeit ist der Faktor, durch den die Seele langsam wie durch einen osmotischen Prozess von der Hingabe durchdrungen wird. Sie wird zur Seele der Handlungen, geht langsam auch auf die physische Gestalt dessen über, was wir tun. Alle Handlungen werden auf Dauer von dieser Haltung, diesem Gemütszustand geprägt, alles, was wir tun, erhält so eine neue Gestalt.
Auch wir zahlen den Preis für die Bewegung der «Christen für den Sozialismus», für die es auf der einen Seite das Gebet gibt und auf der anderen Seite das, was man tut. Selbst wenn wir theoretisch nicht so sind, wenn wir uns auch nicht wünschen, so zu sein, sind wir es in der Praxis dann doch. Und das ist ein Verbrechen, durch das wir Gott vorenthalten, was ihm zusteht. Genau dasselbe bringt auch das Gebet zum Ausdruck, das wir vorhin gesprochen haben: «Schau [gütig] auf uns, die wir uns unseres Elends bewusst sind [das ist unser Elend] und, da uns die Last [die Gewissensbisse] unserer Sünden erdrückt, richte uns deine Barmherzigkeit auf». Aber was heißt das: «Deine Barmherzigkeit richte uns wieder auf»? Es meint, dass Gott dadurch, dass er mit uns Erbarmen hat [«seine Huld ist besser als das Leben»,13 so haben wir im Psalm heute Morgen gebetet], in uns langsam ein neues Bewusstsein reifen lässt. Er lässt das, was wir tun, zum Gebet werden. Aber das geschieht in der Zeit, durch das Leben, das ist der Sinn der Geschichte. Weil der Sinn der Geschichte und der Zeit das Erbarmen ist, wie es der heilige Petrus gesagt hat, ist es dieses Erbarmen, das die Wahrheit, in unserem Elend, bekräftigt.
Übrigens sagt das gerade auch der Psalm 63, den wir heute Morgen gebetet haben und den jeder für sich noch einmal betrachten sollte. Er bringt diese Erfahrung einer vollkommenen Gewissheit zum Ausdruck, hinter der sich keinerlei Anspruch verbirgt und der die ganze Freiheit dieser Welt vollkommen respektiert, aber eine Freiheit, die auf der Wirklichkeit des Bundes gründet und nicht abstrakt aus einer philosophischen oder naturalistischen Position heraus formuliert wird. Denn dann könnte man keinen Augenblick mehr ruhig sein. Gott ist es, der sich selbst treu ist, und nicht wir, die Gott treu sind. Das aber muss alle Gefühle und Handlungen bestimmen: das ist Umkehr. Und das ist es auch, wozu uns die Fastenzeit wieder aufruft, wie keine andere Zeit. Dass muss die Fastenzeit in uns wirken [«sakramentales Zeichen der Umkehr»]. «Ich denke an dich auf nächtlichem Lager und sinne über dich nach, wenn ich wache [ein Bild für die Unruhe des Menschen, weil er zuviel gegessen hat, von der Liebe enttäuscht worden ist oder durch Betrug bankrott gemacht hat]. Ja, du wurdest meine Hilfe [Gedächtnis]; jubeln kann ich im Schatten deiner Flügel».14 Diese Dinge bewegen uns, wenn wir sie lesen, aber sie werden nicht zum Kriterium unseres Betens und so können sie auch nicht Kriterium dafür werden, wie wir leben; und das hat eine Verwirrung in der Frage nach dem «Wie» der Erwartung zur Folge.

2. Fasten

Das zweite Thema, der zweite Hinweis des liturgischen Gebets auf ein Zeichen der Fastenzeit, ein Zeichen der physischen, sichtbaren Wirklichkeit, die die sakramentale Handlung einschließt, ist das Wort «fasten». Man konnte zunächst nicht das Wort «opfern» gebrauchen, weil es einen zu unmittelbar religiösen und kulturellen Sinn hatte. Für uns hat es eine allgemeinere Bedeutung. Deshalb können wir ohne weiteres den Begriff «opfern» statt «fasten» oder «entsagen» im engeren Sinne des Wortes gebrauchen. Wir reden also im engeren Sinne des Wortes von opfern, entsagen oder fasten. Das bedeutet unmittelbar eine Besonnenheit im Verlangen, eine Mäßigung, ein Maßhalten beim Gebrauch des Instinkts. Das lateinische temperare bedeutet, die Dinge entsprechend ihrem Ziel, ihrer Bestimmung zu beherrschen, und deshalb Ordnung zu halten. Die Ordnung ist die Beziehung des Dings zu seinem Ziel sowohl mit Blick auf die Richtung als auch auf die Zeit. Maßhalten heißt also, die Dinge ihrem Ziel gemäß zu beherrschen und sie deshalb in der dynamischen Ordnung auf ihr Ziel hin zu behandeln.
Wir könnten also die Einladung zum Opfer, die Einladung zur Entsagung und zum Fasten, als Treue gegenüber dem verstehen, was für eine Sache die umfassendste Bedeutung hat. Die Norm bei der Sache, in der wir Maß halten, in der wir entsagen und Opfer bringen sollen, ist damit jene Treu gegenüber dem, was sie bedeutet, gegenüber der Bedeutung der Sache. Wir können sagen: Das Opfer ist die Treue gegenüber der «umfassenderen Bedeutung». Eine Sache hat in der Tat eine unmittelbare Bedeutung: Jemand hat Hunger, er stürzt sich auf etwas; jemand empfindet eine Zuneigung und «tack», er heftet sich an die Person. Es gebe noch einen dritten Bereich, den wir der Vollständigkeit halber erwähnen wollen, nämlich die Eitelkeit, den Stolz oder besser die Sucht nach Besitz, aber nach ökonomisch-politischem Besitz. Johannes verweist in seinem ersten Brief darauf: «Concupiscentia carnis, concupiscentia oculorum, superbia vitae».15 Es handelt sich um eine instinktive Gier, eine Maßlosigkeit des Instinkts.
Aber ich möchte mich nun stärker auf meine Definition vom Opfer beziehen, als Treue gegenüber dem, was die umfassende Bedeutung einer Sache ist. Beim Essen oder Trinken besteht die größte Bedeutung darin, dass sie Instrumente auf unserem Weg sind. Das Ziel ist also nicht, sich den Magen voll zu schlagen oder beim Kontakt mit den Wein-Molekülen ein sanftes Prickeln auf dem Gaumen zu verspüren. Deshalb ermahne ich uns alle, dass wir diese Entsagung als Ausdruck der konkreten Suche nach der umfassenden Bedeutung verstehen, auch beim Essen und Trinken. Das Wort Fasten verwies in der Liturgiegeschichte in der Tat unmittelbar hierauf [wer also normalerweise eine «Schnepfe» beim Essen ist, für den ist das Gegenteil von Bedeutung].
Vor allem aber müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf die Zuneigung richten [die dritte Sache, diese Behauptung der Gier nach sich selbst, kann in einem anderen liturgischen Hinweis aufgenommen werden, der von der Nächstenliebe spricht]: Gerade in der Zuneigung muss dieses Opfer, diese Entsagung als Liebe zur umfassenderen Bedeutung wirksam werden. Hier muss sie handeln und sie muss auf der Hut sein, sie muss ohne Falsch, ohne Ermüdung, ohne Verdrängung handeln. Die Treue zur umfassenderen Bedeutung heißt in der Zuneigung nicht, dem unmittelbaren Widerschein anzuhängen, den die Zuneigung hat [gleich auf welcher Ebene und welcher Intensität, gleich welchen Namen er haben mag]. Deshalb gibt es einen Einklang, der aber trennt, wenn er sich auf bestimmte Art und Weise zeigt, und es gibt eine Spannung, die den Menschen verändert und vom Weg abbringt, wenn sie nicht gezügelt wird. Es reicht hier aber der Gedanke über die «Treue zur umfassenderen Bedeutung» aus.
Im Übrigen braucht uns das Wort Entsagung nicht ängstigen. Denn der Tod zeigt sich bereits in jener Trennung, aufgrund derer man sich auch in der größten Intimität nicht wirklich in den anderen einfühlen kann. Das, was einem wirklich erlaubt, sich in den anderen hineinzuversetzen, ist die Suche nach der umfassenderen Bedeutung. Es ist die Treue zur umfassenderen Bedeutung. Denn die vollkommende Einfühlung ist jene «in Christus»,16 wie der heilige Paulus sagt. Die Formel des heiligen Paulus «in Christus», «tut alles in Christus», «die Welt in Christus», verweist auf eine tiefe und letzte Einheit von allem, als das Ziel, zu dem wir bestimmt sind. Und wenn wir immer gesagt haben, dass die Befreiung in der Einheit liegt, in der Trennung aber die Sklaverei, dann müssen wir diese Mahnung nicht als etwas Feindliches betrachten, sondern als etwas Freundliches.
Diese «Treue zur umfassenderen Bedeutung», die zu einer Haltung aufrichtiger Entsagung führt, ja die Bestandteile wirklicher Entsagung hervorbringt, hat eine bestimmte Wirkung - und hierfür gibt es einen Test, ein Resultat: Die Freiheit, die Freiheit in der Sache. Dies ist der wirkliche Test. Und von hier aus erkennt man physisch die Treue gegenüber der umfassenderen Bedeutung. Die Entsagung bringt die Freiheit hervor, sie lässt sie aufleben und baut sie auf. Es handelt sich um die wirkliche Freiheit, die wirkliche Liebe und nichts anderes, die endgültige Liebe, ohne jede Lüge. Und in zweiter Linie bringt sie die Freiheit von sich hervor, das heißt vom Geschmack; die Freiheit vom Ergebnis, vom anderen und die Freiheit vom Geschmack [beispielsweise auch von den Bergen, vom Schnee, von den Felsen und vom Gletscher; ansonsten würde die Suche nach der umfassenderen Bedeutung im Alpenverein enden].

3. Die Nächstenliebe
Als Drittes verwies das liturgische Gebet auf die Nächstenliebe. Auch hier weise ich auf das hin, wodurch die Umkehr sich vollziehen muss, auf die grundlegendsten Aspekte, in denen sich die Umkehr vollzieht. Die Einzelheiten über das Leben im Haus spare ich mir für eine andere Gelegenheit auf. Vor allem möchte ich einige allgemeine Hinweise erwähnen, die den Gedanken konkreter machen.
Wir behandeln die anderen normalerweise, indem wir ihre Geschichte verstümmeln, wie jemand von euch zu Recht festgestellt hat. Was bedeutet es aber, die Geschichte des anderen oder die Person zu verstümmeln, den anderen und seine Geschichte zu verkürzen? Wir neigen dazu, die Geschichte des anderen auf unsere Kriterien zu verkürzen, auf unser Maß, auf unseren Gemütszustand und damit auf unseren Vorteil, auf unsere Bewertung der Dinge. Wir neigen dazu, die Geschichte des anderen zu reduzieren und wir neigen dazu, die Persönlichkeit des anderen zu verstümmeln, denn wir heben das hervor, was uns interessiert, was entspricht. Wir vermeiden aber den Blick auf das, was uns nicht interessiert und nicht entspricht, oder wir hassen es sogar. Das bedeutet, wir instrumentalisieren den anderen. Dies ist die erste ernorme und ständige Sünde in unseren Beziehungen: Die Instrumentalisierung des anderen.
Der zweite Aspekt, den ich unterstreiche, unter allen, auf die ich verweisen könnte, ist die Abwandlung dieser Verstümmelung des anderen und dieser Reduzierung der Geschichte des anderen, dieser Instrumentalisierung, ist die Gleichgültigkeit gegenüber dem anderen. Achtet bitte auf diese Hervorhebung. Denn wenn man aus euren Häusern kommt oder auf die Gruppo Adulto schaut, dann springt einem dies ins Auge: die Gleichgültigkeit gegenüber dem anderen. Gewiss, das geschieht immer wieder. Dann gibt es den Augenblick, in dem er dich interessiert. Aber abgesehen von diesen Augenblicken bist du gleichgültig.
Den dritten Aspekt hat die Liturgie von gestern als «Fingerrecken»17 bezeichnet, als Wut, entweder als inneren Groll oder als explodierenden Groll oder aber als schleichenden Groll, nämlich das Jammern und die Nachrede.
Das, was diese schweren Verfehlungen in der Nächstenliebe hervorruft, und was wir im Auge behalten sollten, wie uns die Fastenzeit mahnt - im Auge behalten meint hier, dass ihr täglich die Gewissenserforschung über diese Fragen machen solltet; und Gewissenserforschung zu halten, bedeutet, Christus darum zu bitten, dass diese Dinge durch seine Barmherzigkeit vergeben werden, das sie aus unserer Geschichte resorbiert, ausgelöscht werden; ohne diese Geduld ist es keine Bitte - das, was diese Verfehlungen in der Nächstenliebe verursacht, ist der Mangel an «Einfachheit des Herzens», der psychologische Aspekt der «Armut im Geiste».
Wir beharren auf dem Wort «Einfachheit», Einfachheit des Herzens. Die Einfachheit des Herzens lebt das Gedächtnis Christi in der Beziehung. Die Einfachheit des Herzens verurteilt den anderen nicht, denn, wie Paulus im Brief an die Römer schreibt: «Vor seinem Herrn steht der Mensch, oder er fällt («Domino suo stat aut cadit», «... seinem eigenen Herrn steht oder fällt er»18. Die Einfachheit des Herzens beurteilt den anderen nicht, sondern sie versucht gegenüber dem anderen nur, auf den Anruf Gottes zur eigenen Reife zu antworten, der in der Haltung des anderen liegt: Die Haltung des anderen ist die Art, mit der Gott mich zu meiner Reife aufruft; sei es, dass diese Haltung beispielhaft ist, oder eben von schlechtem Beispiel. Deshalb fehlt in der Beziehung die Nächstenliebe, weil die Einfachheit des Herzens im Urteil fehlt, die Einfachheit des Glaubens. Denn die Gegenwart des anderen ist die wesentliche geschichtliche Art und Weise, mit der Gott mich zu meiner Reife ruft - er ruft mich! - er ruft mich zu meiner Reife zurück.
Dies sind die Punkte jener asketischen Praxis, die das sakramentale Zeichen der Fastenzeit ist: Es sind die Zeichen innerhalb des umwandelnden Geheimnisses der Fastenzeit. Diese Praxis muss der Ausdruck der Fastenzeit sein, nicht aus einer Anmaßung der Praxis, sondern weil diese asketische Praxis unsere Ausdrucksform, unsere gestammelte, infantile, chaotische, machtlose Antwort auf die Liebe Christi ist. Und genau diese asketische Praxis versucht während der Fastenzeit jenen Glauben zum Ausdruck zu bringen, für den Christus alles für uns und für die Welt ist.
Aber gebt Acht, eine asketische Praxis geht immer aus zwei Wurzeln hervor. Man braucht zwei Wurzeln, um diese Dinge zu leben. Das Erste ist das Werturteil, das sich Glaube nennt, denn der Glaube ist ein Werturteil. Wer bist du, für mich, jetzt? Wer bist du, der du vor mir stehst? Das ist die Frage. Es ist ein Werturteil, das auf diese Frage antwortet. Und indem dieses Werturteil auf diese Frage antwortet, gestaltet es meine Beziehung, auch wenn ich sie dann nicht einzuhalten weiß.
Die zweite Wurzel ist die persönliche Mühe. Deshalb müssen wir sie aber als Formel: «Es fällt mir schwer, welche Mühe!» vermeiden. «Welche Mühe!» mag noch als Ausruf hingehen. Aber «wie mühsam ... », Auftakt zu einem Dialog, als etwas, das man einer ernsthaften, einer brüderlichen Auseinandersetzung voranstellt; «Es macht mir Mühe!» als Problem, das man unterbreitet, dies sollten wir wirklich vermeiden - es wäre jedenfalls besser. Denn es handelt sich um etwas Offensichtliches. Wenn jemand hingegen sagt: «Wie gut ist doch das Essen», dann kann man sagen: «Welche Mühe, welche Bauchschmerzen». Aber «Es macht mir Mühe!», als Problem, das man ernsthaft vorlegt, ist vollkommen überflüssig. Es ist eine reine Zeitverschwendung und eine Ausflucht.
Das Evangelium von heute,19 das von der Versuchung Christi handelt, ist als Unterweisung für uns von äußerster Klarheit. Auf welchen Angelpunkt stützt sich die gesamte Versuchung? Auf ein Werturteil. Zunächst der Instinkt: Du hast Hunger, also iss. Dann wird der Versucher kühner, denn er sieht das Jesus antwortet: «Nicht vom Brot allein lebt der Mensch» [Es gibt ein Maß]. Also baut er seine Versuchung auf den Werten auf. Es sind Werte, die er später nennt. Und sie werden in der Tat mit dem Wort Gott verbunden. Aber es sind Werte, die aus dem Zusammenhang mit dem Bund gerissen sind, das heißt aus der Geschichte Gottes. Sie sind ihrer Wahrheit entrissen, als Verständnis der Freiheit oder als Verständnis der Zerbrechlichkeit und Sünde, so wie wir sie üblicherweise benutzen: Sie sind ihrer Wahrheit entrissen. Und diese Wahrheit besteht in ihrem Zusammenhang mit dem Bund, mit der Geschichte.
Uns hingegen ist gesagt: «Selig, selig, selig seid ihr, denn euch ist es gegeben, das Geheimnis zu kennen».20

1 «Allmächtiger Gott, du schenkst uns die heiligen vierzig Tage als eine Zeit der Umkehr und der Buße. Gib uns durch ihre Feier die Gnade, dass wir in der Erkenntnis Jesu Christi voranschreiten und die Kraft seiner Erlösungstat durch ein Leben aus dem Glauben sichtbar machen». (Tagesgebet des ersten Fastensonntags)
2 Tagesgebet des Dritten Fastensonntags nach dem römischen Ritus.Italienische Version: «Dio misericordioso, fonte di ogni bene [bontà], tu ci hai proposto a rimedio del peccato [come conversione] il digiuno [la mortificazione], la preghiera e le opere di carità fraterna: guarda [benevolo] a noi che riconosciamo la nostra miseria e, poiché ci opprime il peso [rimorso] delle nostre colpe, ci sollevi la tua misericordia»
3 «[Der Prophet] erinnerte Gott durch sein Gebet und flehentliches Bitten an sein Volk (Es 33, 12-13): darin bat er nicht um die eine oder die andere Sache, sondern um Gott selbst, um Seine Gegenwart, seine offenbare Gemeinschaft, seine Hilfe, seine fortwährende Aktualisierung des Bundes (Es 33, 14-17)» (Seminar der Gemeinschaft 1974-75: Die Christliche Versöhnung - 2. Die Befreiung von der Sünde, pro manuscripto, S. 28).
4 Vgl. Apg 22, 20.
5 Vgl. Gal 4, 6.
6 Vgl. Lk 11, 13.
7 Vgl. Phil 2, 17.
8 G. Leopardi, Das Unendliche, V.15, in: Canti · Gesänge, München 1989, S.93.
9 Vgl. Jes 55, 8.
10 Vgl. O. Milosz, Miguel Mañara.
11 Vgl. 2 Petr 3, 8-13.
12 Vgl. Röm 8, 28.
13 Vgl. Ps 63, 4.
14 Ps 63,7-8.
15 1 Joh 2, 16.
16 Gal 3, 28.
17 Liturgie des römischen Ritus vom Samstag nach Aschemittwoch: Is 58, 9.
18 Vgl. Rm 14, 4.
19 Erster Sonntag der Fastenzeit im römsichen Ritus, Jahreskreis A: Mt 4, 1-11.
20 Vgl. Lk 8, 10.