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Beiheft
Das Menschsein mit Sympathie betrachten
Don Julián Carrón

Anmerkungen von Don Julián Carrón bei Versammlungen mit Studenten und Verantwortlichen von Comunione e Liberazione. Mailand, 6. und 9. Februar 2007

Ich schlage euch vor, den Text des Seminars der Gemeinschaft nochmals gemeinsam durchzugehen (L. Giussani, Spuren christlicher Erfahrung, in: Der Weg zur Wahrheit ist eine Erfahrung, Eos-Verlag, St. Ottilien 2006). Dann können wir prüfen, wie wir am Text arbeiten. Wir sollten dabei berücksichtigen, was Don Giussani über das Seminar der Gemeinschaft sagt - es ist «das wichtigste Instrument des neuen Lebens. Es ist das Mittel, um auf neue Art und Weise das Ziel des neuen Ichs zu verfolgen» («Schule und Methode», Spuren, 1 / Januar 2007, S. 4) - und auch die Methode, die dieser Text uns nahe legt. Als ich mich auf diese Versammlung der Verantwortlichen von CL vorbereitet habe, habe ich noch einmal den Text des Seminars, der Gesprächsthema sein sollte, gelesen. Die Lektüre hat mich wieder einmal in der Art und Weise korrigiert, wie ich mich damit befasse. Ich sage das als Ergebnis meiner persönlichen Auseinandersetzung mit dem Text. Sich mit dem Text zu beschäftigen, ist ein dauernder Vergleich, der uns korrigiert, weil wir vor einer Gegenwart stehen, die von einer menschlichen Erfahrung spricht. Man kann sich ständig einem Vergleich mit dieser Gegenwart aussetzen, von der diese Seiten zeugen.
Am Anfang des zweiten Kapitels («Begegnung mit Christus») sagt Don Giussani: «Die geschichtliche Begegnung mit diesem Menschen bildet den zentralen Angelpunkt, von dem aus die menschliche Erfahrung verständlich und ihrer entscheidenden Bedeutung zugeführt wird». (S. 76) In Christus wird die menschliche Erfahrung ihrer entscheidenden Bedeutung zugeführt, das heißt er antwortet auf die Sehnsucht des Herzens, auf das Bedürfnis meines Menschseins und deshalb klärt er es (bringt er Klärung). Da er die Antwort auf das Bedürfnis meines Herzens ist, enträtselt er wirklich das, was ich als verschwommene Sehnsucht wahrnehme. Es ist wie bei der Begegnung mit der geliebten Person. Du sagst dann: «Jetzt begreife ich, worauf ich gewartet habe». Vorher wartete ich auf ein gesichtsloses Etwas: Ich wartete auf irgendjemand. Wenn ich ihm begegne, verstehe ich dies, alles klärt sich auf. In Christus wird alles gelöst und verständlich, weil er mir entspricht. «Einzig und allein Christus hat all diese Aspekte des menschlichen Daseins entsprechend wahrgenommen und zum Vorschein gebracht. Er allein hat ihren endgültigen Sinn offenbart». (S. 76) Mit diesem Blick, mit diesem Ausgangspunkt (davon ist im zweiten Kapitel die Rede, das vom christlichen Ereignis handelt) kehren wir zum Anfang des Textes zurück, wo Don Giussani uns fragt: Warum haben die Ersten Ihn als denjenigen wahrgenommen, in dem sich die menschliche Erfahrung klärt? Warum sind sie Ihm gefolgt und haben dabei deutlicher gesehen, was sie selbst waren und was Er war? Weil «Christus der Einzige war, der ihre ganze menschliche Erfahrung verstand. Durch das, was er sagte, fühlten sie sich in ihren Bedürfnissen ernst genommen, und wo diese unbewusst und verworren waren, brachte er sie ans Licht». (S. 69)
Ihre unbewussten und verschwommenen Bedürfnisse klären sich in der Begegnung auf. Was wird also deutlicher? Sie nahmen sich als vollkommen «bedürftige» Menschen wahr (S. 69). Dadurch begannen sie, besser zu verstehen. An dieser Stelle können wir nämlich sehen, ob wir das Seminar der Gemeinschaft richtig machen. Es geht nicht darum, dass man alle Worte wiederholen kann, die Frage ist vielmehr, ob man sich dabei als «ganz und gar bedürftig» entdeckt hat oder nicht. Darin besteht der Test, nicht in der Fähigkeit, die Worte zu wiederholen. Ich sage das vor allem für mich. Ich habe einmal während eines Seminars der Gemeinschaft versucht, bei der Beantwortung einer Frage, das zu erklären, was Don Giussani im Aufmacher des Februar-Heftes von Spuren («Die Vertrautheit mit Christus») über den Unterschied zwischen wissen und erkennen sagt. Ich habe mit einem persönlichen Beispiel geantwortet. Wie die meisten von euch wusste ich das, was wir öfters im zehnten Kapitel des Religiösen Sinns gelesen haben: «Ich bin Du, der Du mich schaffst» (L. Giussani, Der Religiöse Sinn, Paderborn 2003, S. 127). Wie anders ist es, dies zu «wissen» oder «ich» bewusst mit diesen Worten auszusprechen! Wenn uns jemand diesbezüglich eine Frage stellt, können wir ja auch wiederholen: «Ich bin Du, der Du mich schaffst» und dabei «ich» so sagen, wie früher. Ich wusste, was «Ich bin Du, der Du mich schaffst» bedeutet, aber ich sagte «ich» nicht mit diesem Bewusstsein. Was hat mir erlaubt, dass mein Ich allmählich mit diesen Worten übereinstimmt? Die Tatsache, dass ich diesen Abschnitt jahrelang immer wieder las, bis ich ihn mir aneignete, bis ich mich dabei überraschte, «ich» mit diesem Bewusstsein zu sagen. Nun, die Erkenntnis, von der Don Giussani im Text aus dem Februar-Heft von Spuren spricht, ist nichts anderes als diese Vertrautheit. Der biblische Begriff der «Erkenntnis» fällt nicht mit «Wissen» zusammen. Es handelt sich nicht nur um Wissen, sondern um eine Vertrautheit mit dem Gegebenen, so dass das Gegebene mir zueigen wird, zu einem Ausdruck meiner selbst. Wir alle kennen sehr wohl den Unterschied zwischen der Tatsache, dass man eine Definition weiß («Ich bin Du, der Du mich schaffst»), und dass man «ich» in Übereinstimmung mit diesen Worten sagt.
Wir können nicht behaupten, dass wir wissen, was das Seminar der Gemeinschaft ist, ohne dass sich diese Vertrautheit mit den Worten zeigt, ohne dass sie irgendwann auftaucht. Ich habe also angefangen, den Text nochmals zu lesen und mich dabei zu fragen: Aber weiß ich dies oder erkenne ich es an? Hier fängt nämlich die Arbeit an. Es genügt nicht, dass ich Christus begegne, sonst hätte Don Giussani an diesem Punkt innegehalten. Während er, nachdem er gesagt hat «Christus war der Einzige, der ihre ganze menschliche Erfahrung verstand; durch das, was er sagte, fühlten sie sich in ihren Bedürfnissen ernst genommen», behauptet: «Um Christus zu begegnen, müssen wir also vor allem das Problem unseres Menschseins ernsthaft angehen» (a.a.O. S. 69-70). Es ist, als ob alles hier seinen Anfang nähme. Gerade, weil Christus mein Menschsein ernst genommen hat, kann ich ihm ins Gesicht schauen, jetzt kann ich - weil ich keine Angst davor habe - das Problem meines Menschseins ernsthaft angehen. Nicht, weil ich ein Philosoph bin. Nicht aufgrund einer inneren Selbstanalyse drängt sich mir die Frage meines Menschseins auf, sondern weil mit Blick auf Christus eine Lösung in Sicht ist. Er bringt unsere vage Sehnsucht zum Vorschein und gibt ihr eine Ausrichtung. Jetzt kann ich das Problem meines Menschseins vollständig angehen. Die Frage erschöpft sich nicht mit der Begegnung, mit ihr allein ist es nicht getan. Im Gegenteil: Mit ihr fängt das Abenteuer erst richtig an. Wenn es nicht so wäre, wenn ich die Begegnung getrennt vom Problem meines Menschseins erlebe, wird sie am Ende zu einer Ideologie, zu einem Wissen, das den Kern des menschlichen Geschehens nicht trifft. Deswegen würde sie überflüssig werden, und mit der Zeit würde mich Christus nicht mehr interessieren.
Was bedeutet es, das Problem unseres Menschseins anzugehen? Zum einen «müssen wir unser Menschsein mit Anteilnahme wahrnehmen: Wir müssen betrachten, was wir wirklich sind. Betrachten will sagen, all das ernst zu nehmen, was uns widerfährt, indem man jeden einzelnen Aspekt erfasst und seine ganze Bedeutung sucht» (S. 70). Dreimal in zwei Zeilen unterstreicht Don Giussani das Wort «all, ganz». Ich habe diese Feststellungen als Tests betrachtet. Daher verstehe ich, ob ich das Seminar der Gemeinschaft richtig erlebe, nur wenn ich mit Anteilnahme, mit Sympathie mein Menschsein wahrnehme und nicht, wenn ich die Worte nur lese und wiederhole. Ich frage euch: Seit ihr mit dem Seminar der Gemeinschaft angefangen habt, habt ihr euch je dabei überrascht, euer Menschsein mit Anteilnahme wahrzunehmen? Nicht Worte zu wiederholen, sondern das Menschsein in euch mit Sympathie zu betrachten? Don Giussani war so genial, dass er zwischendurch die Tests einfügt, anhand derer wir überprüfen können, ob wir die Arbeit des Seminars der Gemeinschaft ernsthaft machen oder nicht. Diese Arbeit kann man nicht bloß auf eine Wortwiederholung reduzieren. Es handelt sich um eine Erfahrung und nicht um eine Diskussion über bestimmte Worte. Darin besteht der Test. Er besteht in der Tatsache, dass ich mit Zuneigung auf mein Menschsein schaue. Christus macht uns dies möglich. Sonst schaue ich darüber hinweg, ich zensiere es.
Die Begegnung mit Christus beeinträchtigt mein Menschsein nicht, sondern ermöglicht mir, auch auf die Finsternis in meinem Herzen zu schauen, das ganze Menschsein in mir mit Sympathie zu betrachten. Davon ausgehend fange ich an, «die Erfahrung nüchtern zu betrachten und das Menschliche, in all dem, was es verlangt, anzunehmen». Das richtet mich in einer Haltung der Erwartung auf (vgl. S. 70). Haben wir uns in dieser Haltung je überrascht? Wer hat angefangen, mit Sympathie das eigene Menschsein zu betrachten? Wer hat eine Neuigkeit in der Art und Weise verspürt, wie man sich selbst betrachtet? Wir dürfen im Text des Seminars der Gemeinschaft nicht Aussagen einer Abhandlung sehen, er gibt uns Zeichen, Hinweise. Zeichen, die uns zeigen, ob wir die dort beschriebene Erfahrung machen oder nicht und ob diese Arbeit in uns bloß ein Wissen ist oder eine Vertrautheit bewirkt.
Fassen wir diese Zeichen kurz zusammen:
Erstes Zeichen: die Hilflosigkeit «Das Empfinden der Hilflosigkeit begleitet jede ernsthafte Erfahrung des Menschseins» (S. 71). Wenn man das eigene Menschsein mit Sympathie betrachtet und es ernsthaft angeht, entdeckt man diese Hilflosigkeit: Jede ernsthafte Erfahrung des eigenen Menschseins bringt sie ans Licht. Haben wir je in zwei Monaten seit dem Anfang des neuen Seminars der Gemeinschaft diese Hilflosigkeit wahrgenommen? Wenn das Zeichen dafür, dass wir eine ernsthafte Erfahrung unseres Menschseins machen, die Wahrnehmung dieser Hilflosigkeit ist, dann bedeutet das Fehlen dieser Wahrnehmung, dass wir an der Oberfläche geblieben sind. Das heißt, wir können uns für viele Dinge einsetzen, an vielen Tätigkeiten teilnehmen, aber wir sind nicht wirklich «dabei». Man sieht, dass wir dieses Unvermögen tatsächlich wahrnehmen, wenn wir uns dessen bewusst sind, dass unser grundlegendes Problem weder durch uns selbst noch durch andere eine Antwort finden kann. Wie oft denken wir: «Einigkeit macht stark. Wenn wir zusammen halten, gewinnen wir über unser Unvermögen die Oberhand!» Diese Auffassung der Gemeinschaft weist darauf hin, dass wir nicht verstanden haben, worum es geht. Dann wird man üblicherweise von der Gemeinschaft enttäuscht. Aber wenn dies in Bezug auf die Gemeinschaft passiert, wird es auch in der Ehe und in allen Beziehungen geschehen. Als ob es jemanden geben würde, der unsere Hilflosigkeit aufheben könnte! Ich fange an zu verstehen, was Unvermögen bedeutet, wenn ich mir gewahr werde, dass das eigene Bedürfnis weder in mir noch in den anderen eine Antwort finden kann.
«Das Empfinden der Einsamkeit ist im Kern einer jeden ernsthaften Auseinandersetzung mit dem eigenen Menschsein verwurzelt» (S. 71). Man hat mir von einer Person erzählt, die seit einigen Monaten zum Seminar der Gemeinschaft kommt. Nachdem sie diese Seiten gelesen hat, sagte sie einmal: «Wie schwierig ist es, sich selber diese Dinge einzugestehen, geschweige denn, sie den anderen zu sagen. Sie scheinen eine Grenze oder eine Täuschung zu sein, weil man diesen Dingen immer gewachsen sein sollte!» Dann sagte sie noch: «Ich fühle mich jetzt nicht mehr alleine, weil ich vor einem Vorschlag stehe.» Sie kennt kaum jemanden in der Gemeinschaft, deswegen kann sie sie nicht auf etwas Sentimentales reduzieren. Gerade weil das Problem der Einsamkeit in der Hilflosigkeit besteht, kann nur ein Vorschlag, vor dem wir stehen, die Hilflosigkeit aufheben. Versteht ihr den Unterschied zwischen unserer Auffassung der Gemeinschaft und dem, was die Hilflosigkeit auflöst? Wir reduzieren die Gemeinschaft auf etwas Sentimentales.
Wenn wir das Seminar der Gemeinschaft ernsthaft machen, dann korrigiert es uns bei vielen Dingen - im tiefen Sinne des Wortes - und so wird uns viel Unglück erspart. Wenn wir dies aber nicht verstehen, sind wir ständig in Bewegung, schlagen aber, da wir nicht verstehen, den falschen Weg ein.

Zweites Zeichen: die Gemeinschaft. «Wer wirklich die Erfahrung der Einsamkeit macht und sie lebt, ist nicht allein» (S. 72). Doch wir erleben das oft genau umgekehrt. Wenn wir uns dem anderen öffnen, wenn unsere innerste Menschlichkeit offengelegt wird, behaupten wir fast unwillkürlich das Gegenteil: «Wenn ich vor dieser Person stehe oder mich jener Sache stelle, stehe ich allein da.» Und doch ist nicht allein, «wer wirklich die Erfahrung der Einsamkeit macht und sie lebt». In der Bewegung von CL muss sich also etwas ändern. Doch wie soll diese Änderung aussehen? Woran soll man sie erkennen? Daran, dass ich mich den anderen verbunden fühle - ohne Kalkül, ohne Ansprüche an sie. Wie oft aber habt ihr euch anderen schon so verbunden gefühlt - «ohne Kalkül und ohne Machtstreben, ohne dabei zugleich in Passivität verfallen zu sein?» (S. 72) «Ohne Kalkül» meint nämlich gerade nicht eine Haltung der Gleichgültigkeit, der Passivität, die ich annehme, um mein Kalkül und meine Ansprüche in den Hintergrund zu stellen. Nein! Weder Kalkül, noch Passivität. Bitte beachtet, wie oft Don Giussani das Wort «Einsatz» beziehungsweise «Auseinandersetzung» verwendet. Er sagt: «Das Empfinden der Einsamkeit ist im Kern einer jeden ernsthaften Auseinandersetzung mit dem eigenen Menschsein verwurzelt». (S. 72) Und: «Ein Mensch weiß sich nur dann mit seiner ganzen Erfahrung ernsthaft beteiligt, wenn er diese Gemeinschaft mit den Menschen empfindet». (S. 72). Es heißt nicht, wenn jemand irgendetwas unternimmt, um sich Hinz oder Kunz verbunden zu fühlen, wenn er sich anstrengt, um dieses Gefühl der Verbundenheit zu verspüren, sondern wenn er sich anderen nahe fühlt, weil er seine eigene menschliche Erfahrung wahrnimmt. «Je mehr ich mich mit dem eigenen Menschsein auseinandersetze ...»: nirgendwo steht, dass wir eine Gemeinschaft aufbauen müssen. Nirgends! Was wir müssen ist: Das Leben leben, uns mit unserer menschlichen Erfahrung auseinandersetzen, denn das bringt uns den anderen nahe - ohne Kalkül und Machtsstreben. Das lässt uns Gemeinschaft mit Menschen erfahren. Weil wir das oft nicht verstehen, ist unser Beisammensein von Arroganz und Ansprüchen geprägt. Wir spüren kein Bedürfnis nach den anderen, wir empfinden sie nicht als Teil von uns, als Teil unseres Menschseins, statt dessen sehen wir in ihnen Leute, die uns für irgendetwas nützlich sein können.

Drittes Zeichen: die Autorität. «Autoritäten sind nicht die, die eine Rolle haben, sondern Personen, die de facto unsere menschliche Erfahrung intensiver leben, die mehr daran beteiligt sind». (S. 73) Hier kommt das Wort «Auseinandersetzung» zum dritten Mal vor. Der Mann, der das geschrieben hat, war genau so ein Mensch: Die Begegnung mit Christus hat ihn nicht weniger menschlich gemacht oder in seinem Menschsein gehemmt, sondern alle Faktoren seiner Menschlichkeit deutlich hervortreten lassen und zu einer intensiven Auseinandersetzung mit ihnen geführt. Viele von euch haben Don Giussani nicht kennen gelernt, aber er, der das geschrieben hat, war genau so: Er hätte das alles nicht schreiben können, wenn er es nicht auch erfahren hätte. Seine Worte bezeugen uns eine intensivere Menschlichkeit, wie sie nur in einer Begegnung zu Tage tritt. Weil er Christus begegnet war, betrachtete er nicht alles für erledigt. Im Gegenteil! Die Begegnung mit Christus hat Don Giussani dazu geführt, sich mit seiner eigenen menschlichen Erfahrung auseinander zu setzen und deshalb hat er auch alles Menschliche mit Sympathie betrachten können: Christus war für ihn kein Alibi für Nichtstun. Das wäre so, als würde mir jemand sagen: «Ich gehe mit diesem Mädchen, aber ich setze mich dabei nicht ein.» Ich würde ihm sagen: «Du gehst nicht mit ihr, lüg dir doch nichts vor, sonst würdest du dich doch einsetzen! Wer sich nicht einsetzt, hat keine Begegnung gemacht oder ist wirklich arm dran. Es gibt da keine Alternative: Entweder hast du keine Begegnung gehabt oder du bist unlauter, weil du dich der Begegnung, die du gemacht hast, widersetzt, obwohl sie dich nicht kalt lässt».
«Autorität entsteht als Reichtum an Erfahrung, der sich den anderen mitteilt, der Neues entstehen lässt und ein Erstaunen, eine Achtung hervorruft». (S. 74) Welcher Autorität bist du in letzter Zeit begegnet? Je mehr du deine menschliche Erfahrung lebst, desto mehr entdeckst du Autoritäten. Autorität ist, wer sich mit dem Problem des eigenen Menschseins auseinandersetzt, alles andere ist keine Autorität. Wie habt ihr eure Verantwortung gelebt? Habt ihr versucht, euch mit eurer menschlichen Erfahrung auseinander zu setzen, in erster Person eure menschliche Erfahrung in vollem Umfang zu leben? Oder habt ihr versucht, einen Mangel an dieser Menschlichkeit wettzumachen durch autoritäre Rollenspiele, beim Durchsetzen eures eigenen Willens? Das mag einfacher sein, ist aber nutzlos. Und es wendet sich gegen uns. Mir kommt es aber darauf an, auf den Fehler hinzuweisen, es geht mir nicht um moralische Verurteilungen: Was mir am Herzen liegt, ist, dass wir, wenn wir so leben, uns mit der Zeit nicht mehr für Christus interessieren und einsam werden wie Hunde.
Eine Autorität ist jemand, der nicht versucht, mir etwas zu ersparen, sondern jemand, der sich intensiver mit seiner menschlichen Erfahrung auseinander setzt, der das Leben als Mensch kennt und der Versuchung nicht nachgibt, mir etwas zu ersparen. Wir sind doch alle hier, weil wir eine Begegnung mit jemandem gemacht haben, der uns das Drama unseres Lebens wieder bewusst gemacht hat. Höchste Autorität ist, wer bezeugt, was es heißt, Mensch zu sein, und dabei unsere eigene Frage lebendiger macht, unser Herz wachrüttelt. Autorität ist hingegen nicht, wer alles auf eine Frage der Organisation verkürzt. Wenn wir die Bewegung als eine «Organisation» betrachten, interessiert sie im Laufe der Zeit niemanden mehr, nicht einmal uns selbst, denn das Ich, das sich selbst gegebene Ich, ist Bedürfnis nach Ganzheit: Entweder trifft es etwas, was diesem Bedürfnis entspricht und dieses Bedürfnis wachruft oder es findet nichts mehr interessant und anziehend. Das Herz ist so objektiv, dass uns nichts ausreichend anzieht und ergreift, wenn nicht das, was dem Herzen wirklich entspricht. Jeder Moralismus ist ungenügend.
Bei den ersten Exerzitien der Fraternität (vgl. «Vertrautheit mit Christus», in Spuren, Nr.2 Februar 2007) war Don Giussani davon beeindruckt, seine ersten Schüler aus der Zeit als Gymnasiallehrer vor sich zu haben, und zitierte Johannes Paul II. mit dem beeindruckenden Satz: «Es wird keinen Glauben geben (…) wenn man im Herzen des Menschen nicht auf eine Frage trifft, auf die allein Gott die Antwort sein kann». Hier liegt der Kern des Problems! Giussani sagt nicht: «Es wird keinen Glauben geben, wenn ihr euch nicht anstrengt, wenn ihr nicht kohärent seid». Nein! «Es wird keinen Glauben geben (…) wenn man im Herzen des Menschen nicht auf eine Frage trifft, auf die allein Gott die Antwort sein kann». Der Glaube ist an eine Frage gekoppelt, auf die allein Christus die Antwort ist, nicht die Antwort auf das ethische Problem, sondern das anthropologische Problem, das Problem des Herzens. Daher kommt es darauf an, das wir uns wirklich mit dem Leben auseinander setzen, sonst werden auch wir zu Gläubigen in dem Sinne, dass unsere Gläubigkeit mit unserer Fähigkeit zur Kohärenz steht und fällt. Dann aber gäbe es keine Hoffnung für uns.

Letztes Zeichen: das Gebet. Erfahrungen, die wir wirklich ernst nehmen, rufen unerbittlich das Bedürfnis nach etwas anderem hervor, das heißt sie haben eine authentisch religiöse Dimension. Diese ist nichts Aufgesetztes, sondern entstammt der Erfahrung selbst. Daher sagt Don Giussani: «Der größere Realist ist der, der betet». Beten tut, wer seine eigene menschliche Erfahrung ernst nimmt. Möchtest du wissen, wie du mit deiner Erfahrung als Mensch umgehst? Prüfe, ob du gebetet hast und wie du gebetet hast, ob du dich gedrängt sahst zu bitten, ja zu schreien. Auf welche Weise? Nicht als Erfüllung eines CL-Programmpunkts, sondern aus einem innersten Bedürfnis heraus. Wie oft entspringt unser Gebet denn wirklich einem Bedürfnis aufgrund unseres Menschseins, auf das wir eingehen? Wie oft hingegen nur einer Gewohnheit oder einem Ritual (mit dessen Verschwinden auch das Gebet verschwindet, wie etwa in Prüfungszeiten oder in den Ferien, wo die festen Gewohnheiten wegfallen und unser Menschsein auf Stand-by geschaltet wird)?

Wenn wir jetzt mit dem neuen Kapitel beginnen («Die Begegnung mit Christus»), gilt es nochmals die Einleitung zum zweiten Band des «Grundkurses christlicher Erfahrung» Am Ursprung des christlichen Anspruchs (Bonifatius, Paderborn 2004) zu lesen. Es ist nicht so, dass uns die Entdeckung des Menschseins automatisch zu Christus führt, als könnten wir nach dem Abhaken dieser Prämisse unmittelbar damit beginnen, von Christus zu reden. Nein! Don Giussani spricht nicht vom Menschsein, weil er es «müsste» (als ob es gälte, zunächst vom Problem des Menschseins zu sprechen und danach von Christus), sondern weil es nötig ist, das Menschsein ernst zu nehmen, um entdecken zu können, wer Christus ist. Denn Christus bietet sich uns als Antwort auf das Menschsein an. Wenn du vorankommen willst bei deinen Bemühungen, Christus kennen zu lernen, dann kannst du die menschlichen Angelegenheiten nicht einfach beiseite schieben und anfangen von Christus zu «reden», denn Christus kommt ja deinem Problem als Mensch entgegen. Je mehr jemand seine Menschlichkeit wahrnimmt und sich mit ihr auseinander setzt, desto mehr wird er auch in der Lage sein, Christus wahrzunehmen, der ihm jetzt entgegen kommt. «Es wäre nicht möglich, sich der Bedeutung Jesu Christi voll bewusst zu werden, ohne sich vorher über das Wesen jener Dynamik Rechenschaft zu geben, die den Menschen zum Menschen macht. Denn Christus stellt sich dar als die Antwort auf mein eigentliches Ich, und nur ein aufmerksames, einfühlendes und leidenschaftliches Bewusstwerden meiner selbst kann mich öffnen und darauf vorbereiten, Christus zu erkennen, ihn zu verehren, ihm zu danken und aus ihm zu leben. Ohne dieses Bewusstwerden meiner selbst bleibt auch Jesus Christus für mich ein bloßer Name». (S. 11).
Wenn wir diesen neuen Abschnitt des Seminars der Gemeinschaft beginnen, dann wollen wir nichts beiseite lassen von dem, was wir bereits getan haben. Das ist ebenfalls entscheidend! Der Religiöse Sinn ist für uns oft wie eine Prämisse, eine Vorbemerkung. Man sieht es daran, dass viele sagen: «Wieso sollen wir uns als Christen denn mit dem Problem des Menschseins auseinandersetzen, wieso dem Religiösen Sinn erneut auf die Spur kommen?» Dabei ist Christus doch derjenige, der das Menschliche wieder aufleben lässt: Er höhlt es nicht aus, lässt es nicht verkümmern, lässt es vielmehr aufleben, um beständig darauf antworten zu können. Nur wer sein Menschsein ernst nimmt, wird das Abenteuer fortsetzen können, Christus kennen zu lernen. Andernfalls denken wir nämlich schon zu wissen, obwohl wir doch in Wahrheit nichts wissen. Nur dann, wenn du dich weiterhin sehnst, die geliebte Person zu sehen, ist das Wiedersehen mit ihr für dich überraschend. Damit ist die Sache nicht beendet, man wünscht sich vielmehr, dass sie nie ende. Andernfalls ist es vorbei, die Beziehung beendet, der Glaube tot. Vielleicht wird man das eine oder andere Ritual noch beibehalten, doch es wird keine Bedeutung mehr für das eigene Leben haben. Das Problem des Glaubens liegt hier: Christus wird weiterhin interessieren, wenn auch die Frage weiterhin besteht. «Es wird Glauben geben, wenn es eine Frage gibt, auf die Christus die einzig mögliche Antwort ist».
Um das neue Kapitel anzupacken, wollen wir die dort genannten Stellen aus dem Evangelium lesen, wollen alles lesen, was passiert ist und erkennen, was jetzt unter uns geschieht: nur dann können wir das Abenteuer fortsetzen, Christus kennen zu lernen. Zugleich müssen wir uns die beiden methodischen Fragen ins Bewusstsein rufen, auf die Don Giussani in seinem Buch Am Ursprung des christlichen Anspruchs hinweist: Für die Jünger wurde jene Begegnung zu einem Weg hin zu immer größerer Gewissheit, weil das «Zusammensein» mit Jesus sowie das «Achten auf die Zeichen» es ihnen im Laufe der Zeit ermöglichte, die Frage zu stellen, die das «Zusammenleben» mit Ihm hervorrief: «Wer ist dieser?» und eine Antwort darauf zu finden. Dieses Abenteuer gilt es zu unternehmen, um den Weg zur Gewissheit zu gehen, den wir in den Exerzitien ins Auge gefasst haben (vgl. Beiheft zur Januarausgabe von Spuren 2007, Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber Schaden nimmt an seiner Seele?). Lassen wir auf diesem Weg die Exerzitien nicht aus dem Auge. Arbeiten wir im Seminar der Gemeinschaft auf der Grundlage der Exerzitien und des Reichtums unseres Lebens.