Logo Tracce


Nötig sind Lehrmeister
Unterrichtseinheit Techno-Nihilismus
Giorgio Chiosso

Die Septemberausgabe von Spuren widmete ihr Titelthema der Schule. Im Mittelpunkt stand dabei die Person als einzig möglicher Ausgangspunkt. Der bekannte italienische Erziehungswissenschaftler Giorgio Chiosso setzt sich nun mit der Idee der «neutralen Schule» auseinander, die Bildungsreformen in mehreren EU-Ländern prägt.Bildungsreformen in mehreren EU-Ländern prägt.

Eine Schule im Dienst des Marktes oder eine Schule, die noch imstande ist, über den Schrecken von Auschwitz zu reflektieren? Erziehung für den Menschen oder reine Ausbildung für den Wettbewerb?

Wenn das Ziel der Schule rein funktionalistischer Natur ist, reduziert sie sich auf Ausbildung und Training. Damit wären wir im Kern der Bildungsdebatte: Die Szene ist beherrscht von Methodenfragen, besessen vom Denken in Prozessen — stets im Glauben, die perfekte und unfehlbare Methode zu finden. Die Ausbildungstechniken nehmen die Gestalt einer neuen Ontologie im Sinne von Technik und Effizienz an.

Wenn das Ziel der Schule aber humanistisch und humanisierend bleiben soll — und damit auch erzieherisch —, stellt sich die Frage, wie man dem Schüler hilft, den Sinn seiner selbst als menschliche Person zu entdecken. In der Pädagogik wird es dann vor allem um die «Begegnung» zwischen Personen gehen und um die Öffnung auf das hin, was noch nicht ist, aber sein kann. Romano Guardini schreibt: Der Mensch ist geschaffen als «eine Form des Anfangs». Wenn er in sich selbst verschlossen bleibt, ohne je das Wagnis einzugehen, sich auf die Wirklichkeit hin zu öffnen, wird er immer erbärmlicher und ärmer. Wenn er sich hingegen der Begegnung öffnet, «dann wird er sich als schöpferisches Wesen entdecken, das bereit ist, den anderen aufzunehmen».

Statt dessen macht derzeit die Idee von Bildung als Alternative zur Erziehung mit der leichten Verlockung der endlich «unparteiischen und neutralen» Schule (eine ähnliche Legende wie die der Gesamtschule?) im europäischen Schulwesen die Runde. Die Bildungsreformen in einigen Ländern scheinen vor allem von technokratischen Apparaten, von der Anwendung der Methoden der Programmierung, von Ergebniskontrollen und der Reduzierung von Fehlern bestimmt zu sein. Man versucht, die Regeln des Wirtschaftslebens in die Bildungspolitik zu übertragen, wo das einzig geltende Gesetz das des Marktes ist.

Ist der Abstieg in den technokratischen Nihilismus unausweichlich und unumkehrbar? Eine junge Forscherin an der Universität Turin, Monica Mincu, hat unlängst ein Buch veröffentlicht (L‘ educazione non neutrale. La pedagogia dopo la svolta communitaria — Die nicht neutrale Erziehung. Pädagogik nach der kommunitaristischen Wende. — Turin, Sei, 278 S.), das sich vor allem mit der US—amerikanischen Pädagogik befasst. Dort entstand die Legende der «neutralen Schule», die sich in der liberal—fortschrittlichen Kultur der 70er und 80er Jahre entwickelte und heute starker Kritik ausgesetzt ist. Auch in Frankreich ist die Debatte eröffnet, welches bekanntlich das Vaterland der laizistischen und daher «neutralen» Schule ist. Ebenso in Spanien, wo die laizistischen Initiativen der Regierung Zapatero im Hinblick auf das Fach Staatsbürgerkunde eine breite Debatte ausgelöst haben.

Das Buch von Mincu legt drei Verständnisschlüssel vor, die sich auf die drei Hindernisse zurückführen lassen, mit denen der Grundsatz der schulischen Neutralität hauptsächlich in Konflikt gerät.

Das erste betrifft die Natur der Schule als solcher. Die Idee der Neutralität, die sie auszeichnen sollte, erfordert ein künstliches Modell der sozialen Gemeinschaft, die dem Privatleben der Schüler und ihrer Familien gleichgültig gegenüber stehen und eine Trennung zwischen Schule, sozialem Leben und privaten Räumen rechtfertigen müsste, so als sei die Interaktion mit diesen ohne Einfluss im Hinblick auf das Ziel der Bildung der kindlichen Persönlichkeit. Eine alte Weisheit sagt, «Es bedarf eines ganzen Dorfes, um ein Kind groß zuziehen». Das Wachstum des Ich findet nämlich immer innerhalb eines dichten Netzes sozialer Beziehungen statt, die das Fundament bilden, auf dem die Verantwortung des Erwachsenen gedeihen kann.

Die zweite Bemerkung betrifft die Schule als Ort, an dem sich eine Geschichte und eine Tradition zeigen. Hier gelten die berühmten Worte, die MacIntyre dem Begriff der Tradition gewidmet hat. Ob bewusst oder unbewusst, die Tradition ist ein Teil von uns: «Was ich bin, ist zu einem grundlegenden Teil das, was ich ererbt habe (…). Ich finde mich innerhalb einer Geschichte vor, was im Allgemeinen bedeutet, dass ich Träger einer Tradition bin, gleich ob mir dies gefällt oder nicht». Aber die Tradition ist nicht nur Bewusstsein einer Vergangenheit, die zum Verständnis einer Gegenwart nützlich ist. Sie tritt auf als ein Ort gelebter Praxis und Erfahrung und bietet mithin einen Ausweg aus dem furchtbaren Krebsgeschwür, das heute den Erziehungsprozess überschattet: dem Skeptizismus.

Die neutrale Schule zeigt sich hingegen unhistorisch und daher individualistisch und relativistisch. Sie ist besessen von der Zertifizierung einer wirksamen Beherrschung des Kognitiven. Zugleich zeigt sie sich im Wesentlichen gleichgültig gegenüber der Neuinterpretation der Tradition — ein Begriff, der ohnehin als Überbleibsel angesehen wird. Diese Aufgabe wird gänzlich der erzieherischen Initiative der Familien und der Herkunftsgemeinschaften übertragen.

Die Schwäche dieses Ansatzes — und das ist der dritte Schritt der Kritik — misst sich besonders daran, dass die neutrale Schule sich schwer tut (oder es gar als unmöglich erfährt), die Bildung jener «staatsbürgerlichen Tugenden» zu unterstützen, die seit längerem wieder in den Vordergrund gestellt werden (nicht zuletzt von republikanischen Neokonservativen in Princeton), als grundlegende Voraussetzung für ein tugendhaftes Verhältnis zwischen Politik und Bürgerschaft. Der Begriff der «staatsbürgerlichen Tugend» ist mehr als der Aufruf zum Aufbau einer Gesellschaft, die von gemeinsamen Werten oder allgemein geteilten Werten bestimmt wird. Es geht um die aktive Einbeziehung des Subjekts in das soziale Leben und die volle Übernahme der Verantwortung, die daraus erwächst. Man könnte den Begriff der staatsbürgerlichen Tugend zusammenfassen im Vermögen der Bürger, das eigene Interesse dem Gemeinwohl zu opfern.

Die Stabilität einer Gesellschaft hängt aber nicht nur davon ab, ob ihre Institutionen gut funktionieren, die politische Klasse ehrlich und in der Lage ist, gerechte Gesetze zu verfassen, oder vom Wohlstand und wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit. Sie hängt auch und vor allem von den staatsbürgerlichen Tugenden ihrer Bürger ab.

In der Bildung der staatsbürgerlichen Tugenden wirken natürlich mehrere Bereiche zusammen, von der Familie bis zum Gemeinschaftsethos. Deshalb kann man diese Verantwortung nicht der Schule allein aufbürden. Aber ein jeder sieht den abgrundtiefen Unterschied zwischen der Auffassung einer Schule, die auch staatsbürgerliche Tugenden fördert, und einer Auffassung, die sich gänzlich auf die Lerntechniken beschränkt.

Einige Wissenschaftler sind davon überzeugt, dass die hauptsächliche Herausforderung der Schule in den kommenden Jahrzehnten genau auf diesem Feld liegt. Das Überleben der abendländischen Demokratien ist ihrer Ansicht nach an die Verfügbarkeit von Lebensenergien gebunden, die außerhalb der politischen Institutionen zu suchen sind und vor allem aber im tugendhaften Verhalten der Bürger bestehen.

¹ Professor für Allgemeine Pädagogik und Erziehungsgeschichte an der Universität Turin