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Aufmacher
Glaube gestern und heute
Luigi Giussani

Aufzeichnungen eines Gesprächs mit Luigi Giussani in der Kirche des heiligen Alexander in Mailand, 26. November 1987

1. Für eine Aufgabe erwählt
Es kann verwundern, dass es gerade auf der Synode Schwierigkeiten bereitet hat, zu einer einfachen Definition des Laien in der Kirche zu gelangen. Aber ich denke, das liegt daran, dass eine wahre Definition des Laien äußerst einfach ist: Der christliche Laie ist nichts anderes als jemand, der getauft ist. Deswegen hat der Priester zu Recht gesagt, dass der heilige Alexander ein Laie war und seine Größe im Glaubenszeugnis besteht. In der Tat ist es so, dass die Taufe unter den Menschen jene kennzeichnet, die Gott erwählt, damit sie Seine Gegenwart in der Welt erkennen, damit sie das opus Dei, das große Werk erkennen, das er zum Heil der Menschen in der Geschichte wirken wollte.
Am Anfang des 17. Kapitels im Johannesevangelium, in dem das letzte Gebet Jesu steht, bevor er in den Garten Gethsemane geht, heißt es: «Die Stunde ist da, verherrliche deinen Sohn, wie er dich verherrlicht hat. Du hast ihm Macht über jeden Menschen [über alle Menschen] gegeben, damit er allen, die du ihm gegeben hast, ewiges Leben schenkt. Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast.» Die Stunde ist gekommen. Und seit damals steht dieser Satz für jeden neuen Tag in der Geschichte, denn die Endgültigkeit der Zeit begann mit der Verherrlichung Christi in seiner Auferstehung. Tod und Auferstehung Christi begründen eine neue Ära, die wir wie ein Unterpfand anerkennen und genießen können – so sagt es die Liturgie – in Erwartung der endgültigen Offenbarung. Aber ein Unterpfand hat dieselbe Natur wie die ganze Verheißung. Deswegen ist das Leben des Christen wie eine große Verwirklichung des Ereignisses Christi, und es ist Tod und Auferstehung.
Aber welche Tugend zeichnet die Zeit all derer aus, die Christus gegeben sind? Christus hat die Macht über alle Menschen – so sagt es Christus selbst am Anfang des 17. Kapitels bei Johannes –, aber er schenkt denen ewiges Leben, die ihm der Vater gegeben hat. Diese Macht über die Menschen wird konkret durch eine ständige Erwählung; die Erwählung, die in der Taufe geschieht, analog zu dem, was früher geschah, wie man im Buch Deuteronomium liest, als Gott sprach: «Mein sind alle Völker der Erde, aber du wirst das Volk Israel sein, das Volk, das mir persönlich gehört.»
Jeder Christ, jeder Getaufte, trägt damit die Bestimmung in sich, zu der alle gerufen sind, aber er ist erwählt worden: Er ist Christ, weil er dazu erwählt worden ist zu «begreifen», und zwar bereits in Zeit und Raum – in diesem «Eingangsbereich» der Geschichte, in diesem «Eingangsbereich» der Ewigkeit, der die Geschichte ist. Diese Erwählung ist als Voraussetzung unumgänglich, um vom Glauben sprechen zu können. Vielleicht wird das, was ich später noch sagen möchte, diese Beobachtung noch unterstreichen. Aber ich möchte bereits an dieser Stelle hervorheben, dass das Prinzip der Erwählung etwas ist, das dem Glauben vorausgeht, gerade weil der Glaube nicht ein Theorem ist, zu dem alle unweigerlich gelangen müssen. Er ist, wie ich später noch ausführen werde, eine Gnade. Wenn ich diese Bemerkung schon an dieser Stelle mache, dann weil ich unterstreichen möchte, dass dieses Prinzip der Erwählung vielleicht der Punkt ist, dem sich die Christen am wenigsten bewusst sind. Aber diese Vorliebe, diese Erwählung ist die höchste Kategorie der Liebe Gottes. Durch die Erwählung verschafft sich die Liebe Ausdruck und zeigt sich. Andererseits ist die Tatsache, dass wir uns dessen nicht bewusst sind, geradezu eine Gepflogenheit; es ist eine banale Gepflogenheit. Vor allem gibt es nichts, was der Rationalität, wie die moderne zeitgenössische Kultur sie versteht, mehr widersprechen würde; es gibt nichts, was den Prinzipien der modernen zeitgenössischen Kultur mehr widersprechen würde als dieses Prinzip der Erwählung. Und es gibt in der konkreten Politik und Gesellschaft nichts, was mit dem Prinzip der Demokratie so wenig in Einklang zu bringen ist wie die Erwählung. Das bringt uns also schon gesellschaftlich in Verlegenheit.
Aber vielleicht besteht die Gepflogenheit dieses Vergessens noch genauer in der Tatsache, dass wir für eine Sendung, eine Mission auserwählt worden sind. Gott erwählt um einer Aufgabe und einer Sendung willen. Und eine Aufgabe und eine Mission im Leben sind ohne Zweifel eine schwere Bürde. Unser Leben wird sogar daran gemessen, ob wir dieser Bürde gerecht geworden sind: «Denn wer sich vor den Menschen meiner und meiner Worte schämt, dessen werde ich auch mich vor meinem Vater schämen.» 4Das Zeugnis führt unweigerlich zu einem letzten Urteil. Und es ist wesentlich, dass der Inhalt des Urteils, der sich als gelebtes Zeugnis zeigt, nicht auf unterschiedliche oder gar entgegengesetzte Weise verstanden werden kann, wie das Urteil Christi vom Ende der Welt, nämlich das Gleichnis des 25. Kapitels des Matthäusevangeliums 5. Es ist das Gleichnis von den Schafen und den Böcken, die große Scheidung zwischen Guten und Schlechten: «Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben». Es gibt ein Wort, das den ersten Inhalt (das Zeugnis) mit dem zweiten (das Teilen der Bedürfnisse der Menschen) gleichsetzt, und zwar das Wort «Caritas». Die Erwählung, die durch den Herrn an uns erging, also der Grund, weshalb er uns Christus in die Hände gegeben hat – im Unterschied zur überaus großen Mehrheit der anderen –, diese letzte Bedeutung dieser Erwählung besteht in der Anerkennung Christi, Anerkennung im vollsten Sinne des Wortes, einer Anerkennung, die die Dankbarkeit einschließt, die Dankbarkeit und Zuneigung beinhaltet und damit auch einen Lebensstil, der damit übereinstimmt, eine Moral. Das 25. Kapitel im Matthäusevangelium zeigt die offensichtliche Bedingung für diese Moral, den klarsten Inhalt dieser Moral: Die Liebe zu den anderen.

2. Der Glaube: Anerkennung einer Gegenwart
Kommen wir nun nach diesen Ausführungen zur Erwählung, zum Glauben in seinen elementarsten, aber auch – wie mir scheint – wichtigsten Aspekten. Wir sind erwählt worden, um zu glauben. Wir wissen sehr gut, dass der Gestus, mit dem uns der Vater Christus übereignet hat, die Taufe ist, ein Sakrament. Es ist ein geheimnisvoller Gestus, der seine Kraft zur Veränderung auf einer Ebene verwirklicht, an der unsere Erfahrung nicht teilhat. «Was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist, was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch», sagte Jesus zu Nikodemus. Deswegen «ist er wie der Wind: du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht.»6 Du kannst ihn an seiner Wirkung erkennen, an dem, was aus ihm hervorgeht. Die Tatsache, dass wir zum Glauben gerufen wurden, verpflichtet uns vor allem, eine klare Vorstellung von dem zu haben, wozu wir berufen sind. Wenn uns in der Taufe die Tugend des Glaubens, die Kraft, die zum Glauben befähigt, als Möglichkeit gegeben ist – nicht sichtbar, nicht spürbar, nicht unmittelbar wahrnehmbar, und doch zeigt er sich in der Erziehung und Entfaltung des Lebens («du hörst das Brausen des Windes, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht») –; wenn also die Erwählung, die Tatsache, dass man durch die Taufe zum Glauben erwählt worden ist, bedeutet, dass es in unserer Natur, in unserem Sein eine neue Potenzialität gibt, dann wird diese anfängliche Tugend, je mehr das Leben wächst und je mehr man sich dessen bewusst wird, Inhalt eines Gestus, der Erfahrung ist: Es wird ein bewusster Gestus, eine lebendige Erfahrung.
Der Glaube ist kein Gefühl. Der Glaube ist kein Gemütszustand. Der Glaube ist nicht einmal etwas, was ich tue oder auch lasse, er ist kein Verhalten. Der Glaube ist eine Intelligenz. Mit der Taufe ist in unser Sein die Potenzialität einer neuen Intelligenz gelegt. Ich erinnere mich, als ich noch jünger war und aufs Gymnasium ging, dass wir im Seminar eine Stunde der Anbetung hatten. Einer der Gedanken, die mich am meisten beeindruckten, war dieser: «Ich komme hierher, für mich ist in der Hostie das Geheimnis Christi real zugegen, Christus in Tod und Auferstehung real gegenwärtig. Ich weiß nicht bis ins Letzte, was den Wert und die Bedeutung dieser Gegenwart genau ausmacht, aber ich weiß, dass er wirklich zugegen ist. Für einen Protestanten ist diese Hostie im besten Fall ein Symbol, ein Zeichen, das nichts enthält, ein Stückchen ungesäuertes Brot.» Und dann war ich davon beeindruckt, dass ich etwas darin sah, was andere nicht sahen. Aber was heißt das «sehen» (denn ich konnte die Präsenz Christi ja nicht mit den Sinnen meiner Augen wahrnehmen)? Damit sind wir bei dem Wort, das wir vorher schon verwendet haben: anerkennen, eine Gegenwart anerkennen.
Eine Gegenwart anerkennen. Wir müssten, wie ich es eigentlich vorgehabt habe, den Anfang des Johannesevangeliums lesen7, wo die beiden Jünger von der prophetischen Aussage Johannes des Täufers getroffen werden, der auf Christus zeigt, der dort unter den Leuten war. Johannes der Täufer hatte ihn wahrgenommen wie einen von den anderen. Aber, als er sich nun entfernt, hatte Johannes der Täufer eine Art prophetische Erleuchtung und rief laut, wobei er auf ihn zeigte: «Seht, das Lamm Gottes!» Und die beiden, die sehr aufmerksam waren und die die Geste des Täufers beeindruckte, folgten Jesus. Und Jesus wandte sich um und fragte sie: «Was sucht ihr?», «Meister, wo wohnst du?», «Kommt und seht!». Und sie gingen mit ihm und sahen, wo er wohnte, und blieben den ganzen Tag bei ihm. «Es war etwa um die zehnte Stunde».
Am Tag danach sagte Andreas, einer von beiden, zu seinem Bruder Simon, als er ihn traf: «Wir haben den Messias gefunden!» Was war passiert? Die beiden, die bei Jesus zu Hause gewesen waren, war von ihm beeindruckt – das Evangelium nennt nichts Konkreteres, wie ich schon oft den Jüngeren gesagt habe; es sind Notizen, die der Evangelist Johannes als älterer Mann aufschreibt, und jeder Satz setzt viele andere Dinge und Kommentare voraus, von denen nichts weiter gesagt wird, wie in einem Notizbuch. Was wird Jesus ihnen gesagt haben? Sicher werden sie ihn gefragt haben: «Wer bist du?» und er wird ihnen geantwortet haben: «Ich bin der Messias, der kommen soll». Und da blitzte es in ihnen auf, ja es widerfuhr ihnen, es wurde ihnen gegeben, in dem Mann, den sie mit ihren Augen sahen, etwas anzuerkennen, das sie nicht mit den Augen sehen konnten: in einer Wirklichkeit, in etwas, für das die menschliche Erfahrung empfänglich ist, erkannten sie die Gegenwart von etwas Größerem, des Göttlichen – in diesem Menschen, der auf den Straßen herumzog.
Im 4. Kapitel des Lukasevangeliums lesen wir: «So kam er auch nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging, wie gewohnt, am Sabbat in die Synagoge. Als er aufstand, um aus der Schrift vorzulesen, reichte man ihm das Buch des Propheten Jesaja. Er schlug das Buch auf und fand die Stelle, wo es heißt: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“ Dann schloss er das Buch, gab es dem Synagogendiener und setzte sich. Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet. Da begann er, ihnen darzulegen: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt [Ich bin es, der genau das vollbringt]“»8.
Einige erkannten darin das Zeichen für das, was Er von sich behauptete. Sie erkannten, dass sich in Ihm das Geheimnis Gottes zum Ausdruck brachte. Andere konnten es aus vielen Gründen nicht akzeptieren, an ihn zu glauben – vor allem, weil sie nicht über die provinzielle Enge ihres Städtchens hinaus denken wollten. Das heißt, sie akzeptierten nicht, dies in ihm anzuerkennen. «Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns? Heißt nicht seine Mutter Maria und sind nicht Jakobus, Josef, Simon und Judas seine Brüder? Was beansprucht er zu sein?»9. Mit anderen Worten, sie wollten nicht das anerkennen, was er ihnen bewies, das, was er in ihren Augen zu sein beanspruchte, sondern sie versuchten, seine Person unmittelbar auf etwas zu verkürzen, was sie schon kannten.
Der Glaube ist also weder ein Gefühl, noch ein Gemütszustand, noch etwas, was man tut oder lässt, sondern das Anerkennen eines Ereignisses – eines Ereignisses – innerhalb der Erfahrung. Deswegen ist es das Anerkennen einer Erfahrung, bei der etwas sichtbar, spürbar, hörbar, berührbar ist, wie Johannes in seinem ersten Brief sagt: «Was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens (denn das Leben wurde offenbart; wir haben gesehen und bezeugen und verkünden euch das ewige Leben[…]), was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch»10.
Es geht um eine Anerkennung in der Wirklichkeit – in diesem Menschen, der vom Pult der Synagoge aus sprach, nachdem er in der Menge die Hand gehoben hatte. Denn damals war es so üblich am Sabbat in den Synagogen: Der Synagogendiener schwenkte die Rolle, aus der an dem Tag vorgelesen wurde und wer wollte, konnte die Hand heben und sie kommentieren. Und Jesus, der in die Welt kam und sich vollkommen dem angepasste, wie sich normale Leute verhielten, benutzte zunächst diese Momente, um seine Botschaft zu verkünden. Er war wegen dieser Verkündigung in die Welt gekommen, um das ewige Leben zu verkünden, das darin besteht, Ihn zu kennen. Es geht um diese Anerkennung in einer erfahrbaren Wirklichkeit, und damit in einem Stück Zeit und Raum, das mit einem Menschen verbunden ist. Der Glaube besteht also darin, in einer erfahrbaren menschlichen Wirklichkeit die Gegenwart des Göttlichen anzuerkennen.
Diese Anerkennung ist ein Akt der Intelligenz. Es ist eine Anerkennung, die, wie ich vorher schon angedeutet habe, auch die Zuneigung, die Affektivität, das heißt den Willen einbezieht und damit die Kraft, mit der der Mensch das eigene Leben angeht und formt. Aber wir müssten noch weiter gehen: Der Glaube ist eine Steigerung der Intelligenz, eine neue Intelligenz, die uns mit der Taufe gegeben ist, so dass wir fähig sind, in einer Wirklichkeit, die anscheinend zurückführbar ist auf jede andere menschliche Erfahrung, die Gegenwart des Göttlichen, die Gegenwart Gottes anzuerkennen. Als Philippus sagte: «Zeig uns diesen Vater, von dem du immer sprichst und das wird uns genügen!», antwortet Jesus ihm: «Schon so lange bin ich bei euch und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen!»11.

3. Die Bedingungen des Glaubens
Wir haben so herausgearbeitet, was den Glauben ausmacht, worin der Wert des Glaubens besteht: Er bedeutet eine Gegenwart anerkennen. Für die Zwölf, die ihm nachfolgten, die mit ihm aßen, bei ihm auf dem Boden schliefen, zitterten, vor den Feinden Angst hatten und die ihn sprechen hörten, die ihn Wunder wirken sahen und die sich dann Illusionen machten und bitter enttäuscht wurden, wie die zwei Emmaus-Jünger bezeugen, […] für diese Leute war in diesem Menschen, der sich für die anderen nicht von anderen unterschied (vielleicht mit einem Unterschied, dass er in den Augen der Gesetzeshüter, der Priester von damals ein Verbrecher war) ... in diesem Menschen war für sie das Göttliche gegenwärtig. «Für wen halten mich die Leute?», «Einige sagen, dass du ein Prophet bist, der größte Prophet», «Und ihr: für wen haltet ihr mich?», «Du bist der Christus, der Sohn des Lebendigen Gottes!», «Du hast wirklich großes Glück, Petrus, weil du das nicht gesagt hast, weil du es verstanden hast, sondern weil der Vater dir die Fähigkeit gegeben hat, dies zu bejahen, mich zu bejahen.»12
Die Anerkennung einer Gegenwart; die Anerkennung des Göttlichen. Sicher, je mehr uns diese Anerkennung bewusst ist, desto zwangsläufiger wird sich die Art verändern, wie wir fühlen, wie wir etwas bewerten, beurteilen, wie wir die Dinge besitzen oder benutzen, Zeit und Raum gestalten, die uns gegeben sind.
Ich möchte jetzt noch auf die zwei fundamentalen Bedingungen zu sprechen kommen, warum der Glaube sich wirklich katholisch, christlich nennen kann. Die erste Bedingung betrifft das Herz des Menschen, die zweite Bedingung betrifft das Herz Gottes.

a) Die erste Bedingung betrifft das Herz des Menschen. Kommen wir direkt zu dem, was Jesus sagte (Mt 11): Nachdem alle von seinen Wundern begeistert waren und ihn zum König ausrufen wollten, hatte er ihnen – gerade weil sie ihm mit solcher Inbrunst folgten – in einem Ausbruch der Zuneigung versprochen: «Ich werde euch mein Fleisch zu essen und mein Blut zu trinken geben.» Das hatten sie sicher nicht erwartet, und das war etwas ganz Seltsames, «durus est hic sermo [diese Aussage ist hart]», es war etwas ganz Fremdes und deshalb verließen ihn alle13. Und Jesus sagte: «Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen»14. Das heißt, beim Glauben ist vor allem die Freiheit des Menschen im Spiel.
Das kann klar scheinen, ist es aber nicht. Denn diese Antwort ist keinesfalls oberflächlich gemeint. Wir haben gesehen, dass Jesus in Nazareth, als er vor seinen Mitbürgern stand, sagte: «Seht, das, was Jesaja euch vorausgesagt hat, das erfülle ich»15. Wir sagen banal: Er hat einen Beweis geliefert. Und worin bestand dieser Beweis? Wir würden zusammenfassend sagen: Darin, dass er die Fähigkeit hatte, Wunder zu wirken (an den Blinden, den Lahmen …). Aber es ist auch ein moralisches Wunder: Der Sinn des Lebens wird auch den Unwissenden mitgeteilt, die Herzen werden frei, werden befreit. Aber verwenden wir doch ruhig diese Begrifflichkeit «fähig, Wunder zu wirken», auch weil es der richtigere Begriff ist. Das Wunder ist nichts anderes als eine unvorhergesehene und unfassbare (menschlich gesprochen, von der Erfahrung des Menschen ausgehend) Verwirklichung des Menschlichen: Ein krummes Bein, das plötzlich gerade wird, heißt eine Menschlichkeit, die sich verwirklicht, ein Mehr an Menschlichkeit, das vollkommen unvorhersehbar war. Jesus will in seinem Tun (das heißt die Botschaft oder die Verkündigung dieser Gegenwart) stets – sagen wir es ganz einfach – auf der Ebene der Erfahrung überprüfbar sein. Diese Überprüfbarkeit durch die Erfahrung fällt in eins mit einer intensiveren, vollkommeneren Menschlichkeit, die sich der normale Mensch, der natürliche Mensch nicht einmal erträumen kann.
Auch die Wunder der physischen Ordnung vollbrachte Jesus in Funktion eines Wunders einer umfassenderen Ordnung, damit der Mensch Ihm und dem Vater gegenüber die richtige Haltung einnimmt, damit der Mensch spürt, dass ihm auf seinem Weg zur Bestimmung geholfen wird. So heißt es auch öfter im Evangelium: «Er vollbrachte unter ihnen keine Wunder, denn sie glaubten nicht an Ihn»; oder aber: «Geh, dein Glaube hat dir geholfen!»
Der christliche Glaube ist also die Anerkennung der Gegenwart Gottes innerhalb einer menschlichen Wirklichkeit (das Ereignis des Göttlichen innerhalb einer menschlichen Wirklichkeit) und er wird richtig und gerechtfertigt von etwas, das im Menschen geschieht; etwas, aufgrund dessen der Mensch mehr er selbst wird, vollkommener wird. Wenn wir einen exakteren Begriff verwenden wollten, müssten wir sagen «vernünftig». Der Heilige Paulus spricht auch vom Glauben als einer «vernünftigen Ehrfurcht»16. Die Anerkennung Seiner Gegenwart ist eine Ehrfurcht vor Seiner Gegenwart, aber sie muss vernünftig sein. Das heißt, diese Nachricht Seiner Gegenwart beginnt, mit meiner Person, mit meinem Geist und meinem Herzen eins zu werden. Das geschieht dadurch, dass sich etwas ereignet, was nicht nur durch eine außerordentliche Gegenwart geschehen kann, durch eine Gegenwart, die übermenschlich ist.
Der Glaube muss vernünftig sein und die Vernünftigkeit des Glaubens besteht in der Beziehung, die ich zwischen dem Glauben und etwas, das in meinem Leben geschieht, verspüre. Ich finde darin eine Antwort, welche die Erwartungen und Wünsche meines Lebens übersteigt. Deshalb muss ich ernst, aufrichtig und engagiert gegenüber dem sein, was meine Mutter mir mitgegeben hat. Aufrichtig, das heißt leidenschaftlich gegenüber dem, was das Leben bereithält, wohin das Leben tendiert. Ich muss ein Mensch des Herzens sein. Genau darin besteht auch die Einfachheit, die Christus im elften Kapitel des Matthäusevangeliums erwähnt. Wir könnten sie auch mit „Aufrichtigkeit“ übersetzen, aber „Einfachheit“ ist dichter. Das heißt, ich muss die Sehnsüchte meines Herzens ernst nehmen, die Forderungen meiner menschlichen Seele, die Erwartungen der Sensibilität, mit denen die Natur, das heißt Gott, mich im Schoße meiner Mutter aufblühen ließ. Dass ich das Leben, das in mir ist, ernst nehme, ist die Bedingung, damit der Glaube den Weg der Vernünftigkeit findet und von mir umarmt werden kann.
Wenn jemand das Evangelium liest, stellt er fest, dass die Menschen Ihm in der Tat aufgrund der Wunder glaubten. Hier versteht man, welche Bedeutung das Phänomen des Wunders gewinnt, aber nicht im engeren Sinne einer physischen Veränderung, sondern durch ein Wachstum, einen außergewöhnlichen Zuwachs meiner ganzen Persönlichkeit, der ansonsten nicht vorstellbar gewesen wäre: „Wer mir nachfolgt, wird das ewige Leben haben und das Hundertfache bereits hier auf Erden“.17 Der christliche Glaube wird reich, reif und voller Überzeugung, in dem Maße, wie man sagen kann, dass man diese Verheißung oder dieses Kriterium Christi erfahren habe. Verheißung oder Kriterium: «Wer mir nachfolgt, wird das Hundertfache hier auf Erden haben». So haben die Bewohner von Nazareth, die ihm glaubten, mit Einfachheit die außergewöhnliche Wirkmächtigkeit dieses Propheten anerkannt.
Wie aber könnten wir selbst diese Überzeugung besitzen, wenn wir nicht diese Fähigkeit zur Veränderung des Lebens erfahren hätten? Wie immer haben wir unter uns Freunden den vielleicht ersten Gedanken der gesamten westlichen Philosophiegeschichte, der antiken griechischen Philosophie, zumindest einen der ersten Gedanken, hervorgehoben: «Sende uns oh Vater Jupiter, das Wunder einer Veränderung». Für den Christen ist es die Erfahrung einer Veränderung des Lebens, angesichts der großen „Arbeitshypothese“, die in der so unerwarteten Botschaft enthalten ist: «Gott ist mit uns.» Dieser Mensch ist der „Gott mit uns“, der Emmanuel. Einer der größten Meditationen für den Christen kann darin bestehen, die Gestalt Mariens zu betrachten; jenes Mädchen von 15- 16 Jahren hat in jenem Augenblick, in jenem Moment der Verkündigung all dies erlebt, indem es sich vom Glauben her definierte. Es war aber keine blinde Zustimmung. Wer weiß, was die Muttergottes gefühlt haben wird, um so unvermittelt „Fiat“ sagen zu können.
Ich denke oft an diesen vernünftigen Glauben der Gottesmutter. „Vernünftig“ bedeutet die Beziehung zwischen dem, was uns verkündet wird und dem eigenen menschlichen Leben, mit einem offensichtlichen Vorteil für dieses Leben. Denn das, was uns verkündet wird, verändert dieses Leben und macht es menschlicher. («Wer mir nachfolgt, wird das ewige Leben haben und das Hundertfache auf Erden»). Der Vater hat uns in die Hände Christi gelegt. Und an jedem Morgen stehen wir auf und es erneuert sich die Erwählung, weil wir während des Tages durch die Erfahrung einer Veränderung Christus die Ehre erweisen. Doch dann schämen wir uns wegen der großen Zerstreuung, in der wir normalerweise leben. Und wegen dieser Zerstreuung verlieren die großen Worte des Glaubens plötzlich an Bedeutung und werden zu formalen Begriffen, wie „Wort“ oder „Kult“ oder „Rede“. Während der Inhalt dieser Worte, so wie die innere Macht des Kultes und die Kraft der Wahrheit der Rede ganz in der Erfahrung der Veränderung unseres Lebens liegen.
Im Übrigen stellt man selbst fest, dass man auf die Veränderung hin gespannt ist.
Was bestimmt den Menschen mehr als die Spannung auf die Veränderung hin, wie das Fragment des antiken Philosophen bezeugt? Es gibt eine Spannung auf die Veränderung hin, die für den christlichen Mann und die christliche Frau zu einem normalen Gemütszustand wird. Genau in diesem Sinne erinnere ich mich an die Form, in der sich in meiner seligen Mutter die Spannung darstellte, die ständig in ihrer Haltung zum Ausdruck kam. Es gibt eine Spannung auf die Veränderung hin, die den ersten Aspekt des Wunders in unserem Leben darstellt. Die Erfüllung liegt in den Händen Gottes. Er heilte nicht alle Lahmen, er heilte nicht alle Blinden; im Gegenteil, es waren verhältnismäßig wenig. Aber er heilte Blinde und Lahme, um zu zeigen, dass er auch Macht über die Natur besaß. Er heilte die Blinden und Lahmen, damit sie ihr Leben änderten und an ihn glaubten.
Alles was ich erwähnt habe, lässt sich auf das Verlangen zurückführen, dass der Glaube vernünftig sei. Und ich wollte darauf beharren, dass die Vernünftigkeit des Glaubens nicht in einer Vision liegt, sondern darin, dass wir ein Ergebnis des Glaubens feststellen können: Eine Veränderung unserer selbst - vielleicht eine Veränderung bei der man sich der eigenen Sündhaftigkeit bewusst wird.
Jedenfalls ist die Erfahrung dessen, was uns erreicht hat, die Gnade, die uns erreicht hat, die Antwort auf unser Leben. Man kann sie in gewisser Weise als Antwort auf die Bedürfnisse unseres Lebens verstehen. Deshalb entspricht die Einfachheit, auf die das Matthäusevangelium anspielt, dem bekannten und von uns immer wider zitierten Satz von Reinhold Niebuhr: „Nichts ist so unglaubwürdig wie eine Antwort auf eine Frage, die sich nicht stellt.“18 Wenn jemand nicht mit Aufrichtigkeit den inneren Anstoß dieser Abfolge an Forderung und Erwartungen empfindet, aus denen das Herz des Menschen besteht, kann er nicht in Erwartung jenes Christus sein, jenes Gottes, der Mensch geworden ist, der die Antwort auf das Herz des Menschen ist. Er ist die Antwort auf das Herz des Menschen und auf die Erwartungen, mit denen uns unsere Mutter zur Welt gebracht hat, damit die Natur unser Herz durch alle Beziehungen auf den unendlichen Weg führe, auf den Weg der Beziehung zu Gott.

b) Es gibt aber noch ein zweites Kennzeichen des Glaubens. Wenn der Glaube von der Freiheit als Einfachheit des Herzens abhängt und durch das Wunder oder die Erfahrung einer Veränderung im eigenen Leben vernünftig wird, indem es die Authentizität seiner Forderung nach Umarmung aufweist; wenn der Glaube vor allem die Einfachheit des Herzens braucht und deshalb des Einsatzes der Freiheit, die das Herz offen hält und aufrichtig auf die eigene Geschöpflichkeit schaut, dann ist die zweite Grundbedingung des Glaubens die Gnade, die Gabe des Heiligen Geistes. In der Verbindung zwischen der höchsten Freiheit Gottes und der Freiheit des menschlichen Herzens entsteht der Glaube, oder er entzündet sich, um die verschiedenen Schritte auf dem Weg zur Reife zu durchlaufen.
Deshalb ist die Bitte sozusagen das offensichtliche und deutliche Zeichen der richtigen Verfügbarkeit des Herzens angesichts der Freiheit des Geistes. So wie jener Blinde, der ausrief: «Mach, dass ich sehe!»19 Und so war auch Christus angesichts des Blindgeborenen - der gleichsam das Symbol dieses inneren menschlichen Unglücks betont - zutiefst bewegt. Pius XII. empfing einmal Mitglieder einer Pilgergruppe und hielt ihnen die Hand zum Kuss hin. Allerdings küsste eine bestimmt Person die Hand nicht, als sie an der Reihe war. Daraufhin sagte der Sekretär zum Papst: «Heiligkeit, er ist blind». Der Papst legte dem Blinden die Hand auf das Haupt und sagte: «Wir sind alle blind». Gerade das Licht des Heiligen Geistes lässt die äußeren wie die inneren Umstände des Herzens so handeln, dass der Glaube kein träger Samen in den Furchen unseres Lebens bleibt, sondern reift und sich wirksam entwickelt. Ich sagte aber, dass der aufsehenerregendste Aspekt der Authentizität unserer Freiheit angesichts der großen Freiheit des Geistes in der Bitte um den Glauben liegt. Wie groß ist doch die Beziehung zwischen dem kleinen Menschen und Gott, wie groß ist sie, wenn schon alles in der Ohnmacht der Bitte liegt! Deshalb, so erklärte man mir im Seminar, wird die Bitte vom heiligen Alfons «die flehende Allmacht» genannt. Die Bitte um den Glauben garantiert die Wahrheit unserer Freiheit angesichts von Gott am meisten.



4. Die Gefahr des Spiritualismus>/font>
Bevor ich schließe, möchte ich hervorheben, worin die größte Gefahr für den Glauben heute besteht. Wenn der Glaube die Anerkennung der Gegenwart Christi im Menschlichen ist, dann wissen wir auch, dass jene Gegenwart im Raum und in der Zeit der Geschichte fortdauert: Diese Gegenwart währt im geheimnisvollen Leib Christi fort, im großen sakramentalen Zeichen, das die Kirche ist. Wir wissen, dass die Gegenwart Christi in dieser Wirklichkeit der Einheit unter allen Christen, in dieser menschlichen Wirklichkeit fortbesteht, und zwar unter den Christen, die um ihren Hirten gesammelt sind und für deren Einheit der Bischof von Rom bürgt. Der Glaube besteht in der Anerkennung der realen Gegenwart Christi in dieser menschlichen Wirklichkeit, die im Laufe der Jahrhunderte immer neue Züge annimmt, ja im Laufe der Jahre – in einer menschlichen Wirklichkeit, die aus uns besteht (denn jeder von uns ist gleichsam Ihm angeglichen worden, und zwar dem Geheimnis Seiner Persönlichkeit, und all unsere Wesen sind in einer tiefen Gemeinschaft mit Ihm, so dass der heilige Paulus sagen kann: «Versteht ihr nicht, dass ihr als Glieder miteinander verbunden seid?»20). Der Glaube besteht darin, Ihn in dieser menschlichen Wirklichkeit anzuerkennen, die nicht mehr die Einzelperson Jesus von Nazareth, sondern der nach seinem Tod in der Auferstehung verherrlichte Jesus von Nazareth ist. Er besitzt die Macht, alle an sich zu ziehen, die Ihm der Vater gegeben hat. Somit wächst sein Leib, wie der heilige Paulus im vierten Kapitel des Briefes an die Epheser sagt; Er wächst und entwickelt sich zu Seiner vollendeten Gestalt, zu Seiner Reife in der Geschichte. Christus ist in dieser Wirklichkeit, die die Kirche ist.
Aber bereits vom Anfang an spielte der Gegenvorschlag zum Glauben eine dramatische, ja tragische Rolle im Leben der Kirche. Heutzutage spielt er eine dermaßen mächtige Rolle und die Ergebnisse davon sind so gravierend – sein Sieg ist so gewaltig –, dass Papst Paul VI. in einem Gespräch mit dem französischen Philosophen Jean Guitton einmal sagte: «Wenn ich die katholische Welt betrachte, fällt mir auf, dass innerhalb des Katholizismus ein nicht-katholisches Denken vorherrschen zu scheint. Es kann passieren, dass dieses nicht-katholische Denken schon morgen im Katholizismus vorherrschend wird. Aber es wird nie das Denken der Kirche darstellen. Es ist notwendig, dass es [immer] eine kleine Herde gibt, gleich wie klein sie auch sein mag.»21
Dieses dramatische Zeugnis von Paul VI., das erschütternde Urteil von Papst Paul VI. über die Kirche dieser Zeit, weist, wie ich vorher andeutete, auf eine Alternative zum Glauben hin, die in der Geschichte der letzten Jahre anhält, es ist eine fortwährende Versuchung. Die Alternative zum Glauben besteht in der Verkürzung des christlichen Ereignisses auf etwas, was wir entscheiden. Man erkennt nicht das christliche Ereignis, so wie es verkündet wird: Gott ist in diesem Mann, Christus, gegenwärtig; Christus, Gott-Mensch ist im Geheimnis Seines Leibes, in der Kirche, gegenwärtig. Stattdessen verkürzt man die christliche Botschaft durch die von der menschlichen Vernunft entwickelten Kriterien, die von der jeweiligen zeitgenössischen Kultur gerade diktiert werden. Das heißt, das christliche Ereignis fordert nicht mehr die Vernunft heraus, sondern die Vernunft greift das christliche Faktum an und setzt es herab, verkürzt es auf Evidenzen, die der jeweilige Zeitgeist zu beanspruchen meint. Vor 2000 Jahren hieß dieser Zeitgeist Gnostizismus, jetzt trägt er verschiedene Namen: Rationalismus, Aufklärung, Fortschrittsglaube, Säkularismus. Man kann ihm verschiedene Namen geben, aber es handelt sich in jeder Epoche um eine Art Neo-Gnostizismus: Es ist nur das wahr, was ich vom Gesagten für wahr halte. Es ist das Gegenteil der Haltung des einfachen Menschen, der alles wie ein Kind umarmt, was ihm gesagt wird und was sich als offensichtlich erweist («wenn ihr nicht wie die Kinder werdet»22).
Aber diese pharisäische Haltung (genau dies war die Haltung der Pharisäer, die nur auf die eigene Deutung des Gesetzes achteten), diese Deutung der christlichen Botschaft verkürzt Christus: Er sei nicht wirklich Gott-Mensch, sondern bloß ein Mensch, der Gott in einer tieferen Weise spürte als andere, wie Renan im 19. Jahrhundert zum Beispiel sagte; oder Christus sei ein Wort, ein großes Wort, das das religiöse Empfinden neu beseelt. Diese Verkürzung kommt je nach kultureller Haltung vor.
All das, was ich von Anfang an bis jetzt als Gnostizismus definiert habe, hat einen gemeinsamen Nenner und kann sowohl in den Materialismus als auch in den Spiritualismus auf gleiche Weise münden. Dennoch, im Flussbett der christlichen Geschichte, mündet der Gnostizismus vor allem in den Spiritualismus, das heißt in eine intimistische Auffassung Gottes, des Geistes. Ich habe «Spiritualismus» gesagt, aber ich möchte es genauer erklären. Was ist der Geist, den wir über das Evangelium und die biblische Tradition kennen gelernt haben? Er ist jene Macht, mit der Gott die Materie, die Zeit und den Raum aus dem Nichts schafft; er ist der Ursprung, die Kraft, die auch die materielle Wirklichkeit hervorbringt. Worin besteht jene Kraft des Geistes, die die Gottesmutter erfasste und Christus zeugte, wandelte? Was ist dieser Geist, der in der Geschichte, in Raum und Zeit die Vorzeichen Christi hervorbringt? Es ist eine Auffassung des Geistes, die – da sie echt und orthodox ist – die Macht Gottes offenbart, mit der Gott Raum und Zeit prägen kann, mit der Er in Zeit und Raum, in der Geschichte eine andersartige Existenz verwirklichen kann, ein andersartiges Werk. Er ist nicht einfach Gegenstand einer religiösen Frömmigkeit, sondern eine Gegenwart, die alles verwandelt – noch einmal taucht der Begriff «Verwandlung, Veränderung» auf –: Er verwandelt die Art und Weise, die Dinge zu betrachten, ihnen anzuhängen, die Intelligenz, die Liebe, die Arbeit, das heißt die Art und Weise, wie wir die Wirklichkeit gestalten. Er zeugt ein andersartiges Leben. Deswegen hat der Papst, der jetzige Papst immer vom Geist als Urheber einer neuen Welt gesprochen, die in der Gegenwart, hier auf Erden anfängt.
Wenn der Herr nicht diese machtvolle Kraft wäre, dann hätten wir nicht den menschgewordenen Gott, Christus unter uns; er wäre nicht in unseren Kirchen und im großen Leib der Kirche vorhanden, das heißt in unserer Einheit, in unserer Fraternität, in unserer Communio. Er ist nicht mehr der ferne Gott, der unsichtbare Geist: Er ist der unsichtbare Geist, der sich aber unablässig als gegenwärtig erweist, und zwar nicht in einer flüchtigen und subjektiven Gemütsbewegung, sondern durch der Verwandlung dieser Welt.
Der Glaube ist, so können wir einen Satz des heiligen Paulus übertragen, nicht nur für das Jenseits nützlich, für die Zukunft, sondern auch für die Gegenwart. «Die Frömmigkeit […] ist nützlich zu allem», sie ist imstande, für das gegenwärtige und das zukünftige Leben nützlich zu sein.23 Das könnte banal klingen, aber wenn wir sie annehmen, dann zeigt sich im Aufweis der Nützlichkeit des Glaubens für die Gegenwart aufgrund der Veränderung der Gegenwart, der Inhalt des Zeugnisses Christi. Dazu wurde uns die Taufe zuteil: «Die Stunde ist da. Verherrliche deinen Sohn».24 Und der Vater verherrlicht Seinen Sohn durch uns, durch unser Leben. Und unser Leben verherrlicht Ihn, wenn es in Seinem Namen, aufgrund der Anerkennung Seiner Gegenwart, die meine ganze Person beseelt, in bestimmter Weise, in den Augen des einfachen Menschen spürbar verändert ist.

Giussani nimmt hier Bezug auf die Bischofssynode über die Laien, die vom 1.-30. Oktober 1987 in Rom abgehalten wurde.
Joh 17, 1-3.
Dtn 14, 2.
4 Mk 8, 38; Lk 9, 26.
5 Mt 25, 31-46.
6 Joh 3, 6.8.
7 Joh 1,35-42.
8 Lk 4, 16-21.
9 Mt 13, 55; Mk 6, 3.
10 Joh 1, 1-3.
11 Joh 14,8-9.
12 Mt 16, 13-17.
13 Joh 6, 52-60.
14 Mt 11, 25-26.
15 Lk 4, 21.
16 2 Kor 10, 5.
17 Mt 19, 29; Mk 10, 29.
18 . R. Niebuhr, The Nature and Destiny of Man. A Christian Interpretation, 2 Bd., 1941-1943, 6.
19 Mk 10, 46-52.
20 Eph 4, 25.
21 J. Guitton, Paolo VI segreto, Edizioni Paoline, Milano 1985, pp. 152-153.
22 Mt 18, 3.
23 1Tim 4, 8.
24 Joh 17, 1.