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Editorial
Das Abenteuer der Erkenntnis
Julián Carrón

Als Editorial veröffentlichen wir den Brief, den Don Julián Carrón der ganzen Bewegung gerichtet hat. Anlass dafür war einerseits die hohe Teilnahme beim Angelus auf dem Petersplatz nach dem abgesagten Vortrag von Papst Benedikt XVI. an der Sapienza-Universität in Rom, und andererseits der Anfang des Seminars der Gemeinschaft über das Buch von Don Giussani Kann man so leben?

Liebe Freunde,
am Sonntag, den 20. Januar, haben sich viele von uns spontan, gleichsam aus dem Inneren ihres Herzens, auf dem Petersplatz eingefunden als Zeichen der Einheit mit dem Bischof von Rom. Wegen der bekannten Vorkommnisse hatte er darauf verzichtet, an der Eröffnung des akademischen Jahres an der Universität La Sapienza teilzunehmen, zu der man ihn eingeladen hatte.
Zweifelsohne war dieser unser Gestus Frucht der Erziehung, die uns in der Bewegung zuteil wird und uns dazu bringt, auf die Herausforderungen der Wirklichkeit zu antworten.
Für die Unmittelbarkeit dieser Antwort müssen wir Gott danken. Denn sie ist das Zeichen, dass sich «die Form der Lehre, der wir anvertraut wurden» (J. Ratzinger) auch auf uns auswirkt. In der Tat gibt es keine andere Erklärung für diese spontane Mobilisierung, wenn nicht das Bewusstsein für den Wert, den die Gestalt des Papstes für unser Leben hat. In ihm teilt der auferstandene Herr Seinen Sieg in Zeit und Raum über die menschliche Geschichte mit. Ohne das kraftvolle Zeugnis des Nachfolgers Petri wären wir – wie viele unserer Zeitgenossen – verloren: Die Audienz am 24. März 2007 hat dies auf eindrucksvolle Weise belegt und wird unsere Geschichte für immer prägen. Die Nachfolge des Papstes fällt daher mit der Nachfolge der geschichtlichen Wirkung Seiner Gegenwart zusammen. Dies verlangt von uns den Einsatz von Vernunft und Freiheit.
Genau dies aber konnten wir mit Händen greifen, als die ausgebliebene Rede von Papst Benedikt XVI. veröffentlicht wurde. In ihm selbst zeigt sich jene «Aufgabe, die Sensibilität für die Wahrheit wachzuhalten». Sein unbeirrbares Zeugnis stellt für uns die Hoffnung dar, dass wir nicht der Gefahr der abendländischen Welt unterliegen, vor der er warnt: Dass man nämlich «vor der Wahrheitsfrage» kapituliert. Denn wir wissen sehr wohl: «Wenn die Vernunft (...) taub wird für die große Botschaft, die ihr aus dem christlichen Glauben und seiner Weisheit zukommt, dann verdorrt sie wie ein Baum, dessen Wurzeln nicht mehr zu den Wassern hinunterreichen, die ihm Leben geben». Sie verliert «den Mut zur Wahrheit» und resigniert.
Das großartige Zeugnis des Heiligen Vaters stellt für einen jeden von uns eine außergewöhnliche Aufforderung dar, die Vernunft auf diese Weise zu gebrauchen. Er hat uns dieses Zeugnis genau zu Beginn des neuen Seminars der Gemeinschaft gegeben, das sich mit dem Buch Kann man so leben? von Don Giussani befasst. Die ersten Seiten handeln vom Glauben als «Erkenntnismethode». Wir als Erste verspüren die Notwendigkeit einer Erziehung, die uns in die Lage versetzt, die Wirklichkeit bis auf den Grund zu erkennen: In uns drängt das Verlangen danach, einen Weg der Erkenntnis einzuschlagen, der uns mit dem Geheimnis vertraut macht. Drei Jahre nach seinem Tod bitten wir Don Giussani, uns auf dem Weg zu begleiten, den er uns vorgezeichnet hat.
Indem wir dem Vorschlag folgen, der uns im Seminar der Gemeinschaft gemacht wird, können wir uns immer mehr diesen Blick aneignen, der ganz auf die Wirklichkeit hin geöffnet ist, und den wir am Papst bewundern. Nur wenn wir diesen Weg gehen, können wir wahrhaft durch den Zeugen die Wirklichkeit erkennen, von der uns der christliche Glaube mitteilt.
Diese Leidenschaft für die Vernünftigkeit des Glaubens ist uns deswegen so vertraut, weil uns Don Giussani nie etwas vorgaukeln wollte, sondern uns immer dazu ermutigt hat, auf die Wahrheit zuzugehen, so dass unser Ja zum Glauben unserer menschlichen Natur würdig sei.
Mehr denn je vereint bei diesem Abenteuer,
Julián Carrón

Mailand, den 28. Januar 2008