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Don Giussani
«Eine noch tiefere Zuneigung»
Roberto Fontolan

Drei Jahre nach dem Tod von Don Giussani berichtet der Patriarch von Venedig, Kardinal Angelo Scola, von einer Beziehung, die lebendiger denn je ist. Denn sie bewegt das Herz weiterhin und führt zu einer Leidenschaft für die Wirklichkeit; indem sie von einem Ereignis ausgeht und einer Methode folgt.

Jahre einer Freundschaft, eines Lebens Seite an Seite. Angelo Scola war einer der ersten Schüler von CL und lange Zeit einer der engsten Mitarbeiter Don Giussanis. Dann ernannte ihn der Papst zum Bischof von Grosseto, zum Rektor der Lateran-Universität und 2002 zum Patriarchen von Venedig. Im Konklave von 2003 kreierte ihn Johannes Paul II. zum Kardinal. Bei alledem vertiefte er die Beziehung mit dem Charisma, das er auf der Schulbank kennen gelernt hatte. Drei Jahre nach dem Tode des Gründers von CL berichtet Scola über das Charisma, seine persönliche Beziehung zu Don Giussani und wie die Gestalt und Methode von Don Giussani sein Leben weiterhin herausfordern.

Don Giussani stand Ihnen sehr nahe und Sie mochten ihn sehr. Woran erinnern Sie sich besonders?
Es ist so wie mit meinen Familienangehörigen. Ich suche fast jeden Tag spontan die Beziehung zu lieben Personen, die uns ins Jenseits vorangegangen sind. Auf diese Weise reift die Beziehung zu Don Giussani immer weiter. Es war und ist eine Beziehung, die viel verlangt und mich zwingt, mich selbst in Frage zu stellen. Nur, dass sein scheinbares Schweigen heute in der Dimension einer noch aufmerksameren Zuneigung spricht.

Don Giussani schrieb an Johannes Paul II: «Ich hatte nie die Absicht, etwas zu gründen.» Aber die Bewegung von CL ist in fast 80 Ländern der Erde verbreitet und sein bekanntestes Buch, Der religiöse Sinn, wurde in 19 Sprachen übersetzt, zuletzt ins Japanische. Wie erklären Sie sich dies?
Dies ist mit der Dynamik der Entwicklung und des Wachstums der Kirche verbunden. Der Heilige Geist erweckt wahrhaft und auf überraschende Weise die Charismen. Und wenn ein Charisma eine authentisch katholische Kraft besitzt, nimmt man spontan daran teil, weil es überzeugend ist. Dies ist auch bei Don Giussani der Fall. Deshalb erfährt sein Charisma eine so große Verbreitung. Nun liegt die Verantwortung, es lebendig zu halten, bei den Personen und den Gemeinschaften derer, die die Gnade erhielten, daran teilzuhaben.

Worin besteht die Neuheit seines Vorschlags? Was hat Sie an ihm beeindruckt?
Ich war dabei, mich im Stillen von der christlichen Lebensweise abzuwenden, weil ich keine Verbindung zwischen dem Ereignis Jesu und der Wirklichkeit sah. Mir erschien die Wirklichkeit in ihrer kulturellen, politischen und zwischenmenschlichen Dimension ohne Christus beeindruckender als ein mechanisches, routinemäßiges Anhängen an die Kirche. Don Giussani hat mir gezeigt, dass Jesus mit allen Bereichen des Menschlichen zu tun hat. Er benutzte dafür den schönen Ausdruck: «mit der menschlichen Existenz und der geschichtlichen Existenz». Das heißt, du dringst jeden Tag tiefer in die Wirklichkeit vor.

Wesentlich ist dabei die Methode der christlichen Erfahrung. Wie würden Sie diese beschreiben?
Die Methode, die Giussani vorschlägt, ist die eines Einswerdens mit der Methode, die Jesus vorgeschlagen hat. Jesus hat gesagt: «Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich unter ihnen» und «Ich werde bei euch sein bis zum Ende der Welt.» Als er seine Freunde beim letzten Abendmahl versammelte, zeigte er ihnen das Genie des Katholischen, das heißt er nahm in der Eucharistie das Ereignis Christi vorweg, der für die Menschen aller Zeiten gestorben und auferstanden ist. Und er sagte: «Tut dies zu meinem Gedächtnis.» Meines Erachtens stützt sich die von Giussani vorgeschlagene Methode auf zwei Säulen: Die Gemeinschaft ist das Apriori der Existenz; sie ist gleichzeitig Ort des Ereignisses der Freiheit. Alle Beziehungen und Umstände, die mir gegeben sind, sind mir zu meinem Glück gegeben. Und nur in der Gemeinschaft, die als Geschenk des Geistes empfangen wird, kann die Freiheit wirklich befreit werden. So kann das Ich sich vollständig Gott hingeben und an die Brüder verschenken.

Wie sehen Sie seine Gestalt als Erzieher, seine Art und Weise, mit den Jugendlichen umzugehen?
Erziehen ist eine Kunst. Don Giussani war ein Meister dieser Kunst. Auch wenn ich die pädagogische Kraft Don Giussanis immer weniger auf seine Fähigkeit beschränke, mit den Jugendlichen umzugehen. Natürlich sieht man das Vermögen eines Erziehers in seiner Überzeugungskraft gegenüber denen, die in das kritische Alter eintreten. Don Giussani war aber ein Erzieher tout court für alle Generationen. Die Kunst seiner Pädagogik bestand darin, das Ereignis Christi vorzustellen, indem er sein eigenes Leben, seine eigene Person vorschlug. Dies geschah durch sein Zeugnis, durch eine unaufhörliche Gemeinschaft. Sie wurzelte in einer christlichen Lehre, die in gesunder Weise die große Tradition annahm. Letztere wurde außerordentlich belebt durch seine Fähigkeit, sich allen Fragen zu stellen, die durch die Umstände oder in den Beziehungen zum Vorschein kamen. Er ließ sich direkt in das hineinziehen, was er vorschlug und hat in der Tat alle, die er traf, dazu aufgerufen, sein Leben und das seiner Freunde zu teilen. Der große Feind der Erziehung ist die Unfähigkeit zum Risiko. Sie nistet sich in allen objektiv unsicheren Personen ein. Es ist keine Frage von Zerbrechlichkeit oder Widersprüchlichkeit, sondern die Unfähigkeit, sich von allem, vor allem dem Unvorhergesehenen, provozieren zu lassen. In diesem Sinne ist die Erziehung das Gegenteil einer Technik. Eine solche lässt das Christentum zugrunde gehen, nimmt ihm die Faszination und macht es langweilig. Das Beeindruckende an meiner Beziehung zu Giussani ist, dass es mir hunderte Male passiert ist, ihm anfangs skeptisch, traurig und von Ferne zuzuhören und jedes Mal im Herzen und in der Vernunft wieder aufgerichtet zu werden.

Woher nahm Giussanis Vorstellung von Erziehung ihre Anziehungskraft?
Es ist die Fähigkeit, die eigene Person ins Spiel zu bringen, nicht, um die eigene Person zu behaupten, sondern um die Zugehörigkeit zu Christus zu leben, der wahrhaft der Weg zur Wahrheit und zum Leben ist. Giussani konnte dies alles der Freiheit dessen, den er traf, auf dramatische Weise nahe bringen. So gesehen stimmt es, dass das Thema der Erziehung heute Priorität genießt. Aber mir scheint, dass die Idee von Erziehung, die Don Giussani in seinem Meisterwerk Das Wagnis der Erziehung vorschlägt, von vielen, die sich mit Erziehung befassen, auch von Katholiken, nicht wirklich ernst genommen wird. Mir scheint, wir sind noch weit davon entfernt. Man muss nur sehen sehen, wie wenig das Wort Freiheit in unserem Land angemessen verstanden und im Zusammenhang mit der Erziehung genannt wird.

Im Verhältnis von Giussani zur Amtskirche kam es auch zu Missverständnissen. Aber am beeindruckendsten war die Nähe zu Johannes Paul II. und Kardinal Ratzinger. Benedikt XVI. bezeichnete ihn am 24. März 2007 als einen «wahren Freund».
Giussani hat hier die Erfahrung gemacht, die viele «Gründergestalten» der Kirche machen mussten. Die Kirche ist eine große Mutter, wie ein starker, alter Baum, dessen Stamm voller Schnitte und Wunden ist. Aber jeden Frühling sprossen neue Knospen und junge Blätter hervor. Giussanis Vorschlag ist gleichsam so ein junges Blatt, aus dem dann nach und nach ein üppig grünender Zweig geworden ist. Sein Gehorsam war unerschütterlich. Gelernt hatte er ihn auf den Knien seiner Mutter und in seiner Pfarrei, verstärkt während des großen Abenteuers der Seminarzeit in Venegono. Dieser Gehorsam ist aus vielen Prüfungen gefestigt hervorgegangen. Es war ein ganz und gar freier Gehorsam: Er sprach immer offen und trat der kirchlichen Autorität gegenüber als Zeuge, nicht als Politiker auf. Deswegen verstand man ihn oft nicht und er musste leiden. Er war seiner Zeit voraus: In den 50ern traf er die Aufsehen erregende Entscheidung, seine angesehene Stellung als Theologiedozent an der Theologischen Fakultät von Mailand aufzugeben und sich der Jugend zu widmen. Schon damals erkannte er, dass die Katholiken, die doch die überwältigende Mehrheit in Italien zu bilden schienen, ihre Rolle im gesellschaftlichen Leben verloren durch die Art, wie sie ihre Kinder erzogen. Giussani reagierte darauf prophetisch und verließ seinen Lehrstuhl. Dabei kam es zu einer heftigen, intensiven Auseinandersetzung mit Pignedoli und Giovanni Colombo, dann auch mit Montini, dem späteren Paul VI. Später ist ihm das große Geschenk der Freundschaft und außergewöhnlichen Anerkennung durch Johannes Paul II. und dem damaligen Kardinal Ratzinger zuteil geworden. Ich durfte bei vielen Treffen Giussanis mit diesen großen Persönlichkeiten dabei sein. Mich überraschte dabei immer die große Freiheit und außerordentliche Demut, mit der er Fragen stellte, Antworten anhörte, Einwände formulierte, Weisungen erbat und gewagte Lösungen auf den Tisch brachte.

Giussani ist oft als «traditionalistischer» Kritiker der Moderne gesehen worden. Viele aber, die ihn gelesen und studiert haben, heben stattdessen das unbedingt Moderne seines Denkens hervor, die überraschende Fähigkeit, die Unruhe und Heimatlosigkeit des zeitgenössischen Menschen zu erfassen. Was ist Ihre Meinung zu diesem Punkt?
Ich habe diesem Teil von Giussanis Leben ein Buch gewidmet und es nicht zufällig Un pensiero sorgivo («Ein hervorquellendes Denken») genannt. Geniale Persönlichkeiten lassen sich nicht in ein Raster pressen. Man kann ihr Denken nicht zerlegen, sie sind wie eine Primzahl. Das Wissen Giussanis besteht im Wesentlichen nicht aus Büchern, von denen er gleichwohl bis zum fünfzigsten Lebensjahr eine außerordentliche Menge gelesen hat. Dabei war er übrigens seiner Zeit auch hier voraus: In seinen jungen Jahren beschäftigte er sich mit der Orthodoxie und dem amerikanischen Protestantismus, er war hellhörig für die Neuerungen der Fundamentaltheologie, er wusste Dichtung, Literatur, Schauspiel und Kunst in der Erarbeitung des intellectus fidei zu nutzen. Trotzdem ist sein Denken ein systematisches, kritisches Nachdenken aus einem Guss über die Grunderfahrung des Menschen, geformt von der vollständigen Erfahrung des Glaubens. Deswegen spreche ich von «hervorquellendem Denken», also von einem Denken, das aus einer eigenen Quelle entspringt und jede Einengung auf eine Schule sprengt. Giussani kommt oft zu noch verwegeneren Schlussfolgerungen als Husserl oder Heidegger oder andere zeitgenössische Autoren. Dabei fehlt ihm die unmittelbare Kenntnis ihrer Werke und er beschreitet seinen ganz eigenen, höchst genialen Weg. Zwar ist seine neuscholastische Ausbildung unverkennbar, aber er durchbricht sie nach allen Seiten und bringt eine eigenständige Sicht der Dinge hervor. Sein Denken ist hervorquellend, sehr aktuell, und deswegen, so glaube ich, wird es auch von Dauer sein. Das bestätigt die beständig fortschreitende Übersetzung seiner Schriften, auch in Sprachen, die man früher für unzugänglich für das abendländische Denken gehalten hat.

Das Erbe, das Giussani der ganzen Bewegung und seinem Nachfolger, Julián Carrón, hinterlässt, ist eine große Herausforderung. Wodurch bleibt sein Charisma lebendig und gegenwärtig?
Vor allem durch den Heiligen Geist. Und dann durch unsere Nachfolge, die darin besteht, sich in das Charisma zu vertiefen und selbst dafür einzustehen durch ein Zeugnis, das zur dauernden Bekehrung bereit ist.
Ebenso wesentlich wie das Charisma ist das Geschenk der Institution. Das verlangt von denen, die am Charisma teilhaben, dass sie stetig auf die Leitung der Bewegung ausgerichtet bleiben. Dies soll in derselben Weise geschehen, wie auch die Bewegung auf das Leben der ganzen Kirche ausgerichtet ist, insbesondere auf das Lehramt des Papstes und der Bischöfe.