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Spe salvi
Die Folge einer Gegenwart
Alberto Savorana

Der Mailänder Astrophysiker Marco Bersanelli und der italienische Philosoph Constantino Esposito aus Bari, haben sich von der Lektüre von Spe salvi herausfordern lassen. Wir geben das Gespräch von Alberto Savorana wieder.


Was hat die erste Lektüre des Textes in Euch bewirkt?

Costantino Esposito: Ein Aufatmen des Bewusstseins. Das sage ich auch angesichts der Reaktionen einiger Universitätskollegen, die teilweise nicht einmal Christen sind. Benedikt XVI. hat die Sehnsucht nach einem Sinn des Lebens wieder geweckt. Gegenüber kulturellen und sozialen Mythen, die regelmäßig kommen und gehen, zeigt die Enzyklika, worin das «Fleisch» der menschlichen Erfahrung, worin das radikalste Bedürfnis des Menschen besteht: Er kann nur leben, wenn er einen Grund hat, für den es sich zu leben lohnt. Was erwarte ich mir vom Leben, was lässt mich weitermachen? Mit diesen Fragen hat der Papst das Spiel in der Gegenwart neu eröffnet. Isidor von Sevilla sagt, das Wort spes kommt von pes, Fuß, denn die Hoffnung erlaubt jeden Tag einen neuen Schritt weiterzugehen. Das ist es, was das Herz ersehnt.
Marco Bersanelli: Und dieses erneute Erwecken der Hoffnung geschieht in der geschichtlichen Dramatik, die wir leben. Der Papst stellt fast schweren Herzens, aber nie schadenfroh das Scheitern aller Hoffnungen fest, die auf etwas Begrenztes bauen. Die Sehnsucht nach Totalität, die den Menschen ausmacht, lässt sich nicht begrenzen. Und hier übt er scharfe Kritik an der Ideologie von Fortschritt und Wissenschaft. Er verkennt dabei nicht den Wert der Wissenschaft die, wie er sagt, «vieles zur Vermenschlichung der Welt und der Menschheit beitragen [kann]». Aber er betont, dass es Unangemessen ist, von ihr eine letzte Antwort auf dem Niveau der menschlichen Erfahrung zu erwarten, die eben nur in etwas Unendlichem eine Antwort finden kann.
Esposito: Die Hoffnung, von der Benedikt XVI. spricht, betrifft nicht hauptsächlich die Zukunft, sondern die Gegenwart. In den letzten Jahrhunderten kam es zu einem zunehmenden Auseinanderklaffen von Zukunftshoffnung und Gegenwart. Man setzte die Hoffnung auf die Idee des Fortschritts, den Mythos der vollständigen Befreiung von Bedürfnissen, die Ideologie eines neuen Menschen. Kurz, man setzte sie auf das, was wir „tun müssen“, wie Kant es ausdrückt. In der modernen Philosophie entwirft Ernst Bloch dann Das Prinzip Hoffnung – doch dies ist furchtbar, weil es unvernünftig ist. Demnach ist Hoffnung da, wo das Gegenwärtige verschwindet: Die einzige Rettung des Menschen besteht dann darin, sich von der Gegenwart emanzipieren zu können, die ein Gefängnis, einen Verlust darstellt, weil in ihr alles versteinert, das heißt ohne Bedeutung ist. Der Papst setzt die Gegenwart hingegen wieder in Bewegung: Er sagt, dass der einzige Grund zu hoffen nur in etwas Gegenwärtigem bestehen kann. Der Mensch ist für das Unendliche geschaffen, aber das Unendliche ist gegenwärtig: Genau darin besteht die Neuheit des Christentums. Dank des Christentums sind die Menschen nicht mehr Sklaven der Elemente und Naturgesetze.

Der Papst schreibt: «Die unerbittliche Macht der materiellen Ordnungen [ist] nicht mehr das Letzte; dann sind wir nicht Sklaven des Alls und seiner Gesetze, dann sind wir frei».

Bersanelli: Und er fährt fort: «Ein solches Bewusstsein hat die suchenden und lauteren Geister der Antike bestimmt». Die wissenschaftliche und philosophische Suche nach der Wahrheit entsteht aus dieser Freiheit vom Universum, aus der Erkenntnis, dass wir nicht Sklaven der Natur sind. Er sagt auch: «Das Leben ist nicht bloßes Produkt der Gesetze und des Zufalls der Materie, sondern in allem und zugleich über allem steht ein persönlicher Wille». Dies nimmt der Natur nicht ihre Dynamik und dem Menschen nicht die Menschlichkeit. Nur dies entspricht der Sehnsucht des Menschen nach Erfüllung. Dem Wissenschaftler genügt – als Mensch - die Entdeckung eines Mechanismus nicht, wenn er die Erfahrung macht, dass dieser Mechanismus sich innerhalb einer Ordnung befindet, ein bewusster universeller Plan...

«Auch die Haare auf eurem Kopf sind gezählt», sagt das Evangelium.

Bersanelli: Der Papst verweist auf diesen tiefen Aspekt der Postmoderne: Aus dem Inneren der Naturwissenschaften entsteht das Bedürfnis, über diese hinaus zu blicken; diesen Punkt kann niemand missverstehen. Die Enzyklika verweist darauf mit einem Feingefühl und einer Tiefe, die Spuren hinterlassen wird.
Esposito: In der Erfahrung der Person ist diese «wahre Erfahrung», wie sie der Papst nennt. Es geht also nicht nur um eine jenseitige Antwort, sondern um das, was meine Sehnsucht bereits hier und jetzt rettet, was es erlaubt, das Leben zu ersehnen und zu genießen. Mich hat sehr beeindruckt, dass dies fast wörtlich mit einem Urteil übereinstimmt, das Don Giussani in Das religiöse Bewusstsein des modernen Menschen abgibt: Wenn die Menschlichkeit die Kirche verlassen hat, so hat auch die Kirche die Menschheit verlassen. Der Papst sagt, die Kirche sei gegenüber der Anmaßung der Moderne, dass die einzige Hoffnung von der Wissenschaft und der Politik gegeben werden könne (von Bacon über die Französische Revolution, zu Marx und dem Postmarxismus), einer lutherischen Tendenz gefolgt, und habe damit begonnen zu sagen, die christliche Hoffnung sei individuell oder privat, da sie das jenseitige Seelenheil betreffe. Die Welt habe hingegen ihre Hoffnungen, die auf dem gründeten, wozu der Mensch aus eigener Kraft fähig sei. Daher wird der Glaube zwar nicht verneint, aber er ist nicht mehr wirksam...

...«der Glaube wird dabei gar nicht einfach geleugnet, aber auf eine andere Ebene – die des bloß Privaten und Jenseitigen – verlagert und zugleich irgendwie für die Welt unwichtig», so der Papst. «Diese programmatische Sicht hat den Weg der Neuzeit bestimmt und bestimmt auch noch immer die Glaubenskrise der Gegenwart, die ganz praktisch vor allem eine Krise der christlichen Hoffnung ist».

Esposito: Und der Papst lädt alle, innerhalb und außerhalb der Kirche ein, diese entscheidende Frage neu zu bedenken. Denn alle hätten geglaubt, man könne die Welt aufbauen, wenn man das Problem der Bedeutung außen vor ließe. Dadurch ging nicht nur der Sinn verloren – er wurde immer abstrakter oder sentimentaler –, es gingen auch die Welt und das Interesse an ihr verloren. Wenn es aber keine Bedeutung gibt, wozu sind wir dann frei? Jemand hat vermutet, wir wären nur frei für das Nichts.
Bersanelli: Der Fall des Menschen beginnt bei dem, was er „Zuordnung der Wissenschaft zur Praxis“ nennt. Es scheint, dass die Mechanik der Natur, die durch die wissenschaftliche Entdeckung in Besitz genommen wird, beansprucht, zum Prinzip der Beziehung zwischen Menschen und Wirklichkeit zu werden, so dass «die dem Menschen von Gott gegebene und im Sündenfall verlorene Herrschaft über die Kreatur wiederhergestellt werde». Hier liegt die Ernüchterung für eine Mentalität, die meint, dass die wissenschaftliche Vernunft auf die Bedürfnisse nach Errettung oder Erlösung antworten könne. Wir sehen das sehr gut auf der Ebene der Erziehung: Die Jugendlichen, die Studenten, unsere Kinder und wir selbst sind unbewusst an eine Idee des Guten und der Selbstverwirklichung gebunden, die von einem Mechanismus ausgeht und nicht von einer Gegenwart, die die unendliche Frage des Herzens umfasst. Es ist schwierig, aus dieser Haltung herauszukommen, daher lädt der Papst dazu ein, Vernunft und Sehnsucht gemäß der ganzen Reichweite ihrer Natur auszuweiten.
Esposito: Augustinus sagt, dass wir hoffen, wenn wir die Glückseligkeit ersehnen. Fragte man uns aber, was dies sei, dann müssten wir zugeben, dass wir es nicht wüssten. Denn jedes Mal, wenn wir versuchen, sie zu erlangen, entzieht sie sich uns. In der zeitgenössischen Kultur bedeutet dies, dass die Frage mit der Zeit vertrocknet. Wenn eine mögliche Entsprechung immer ins Dunkel fällt, wird die Frage gelähmt. Es ist dem Menschen in der Tat unmöglich, die ganze Weite seiner Sehnsucht aufrecht zu halten, wenn er nicht einen Blick trifft, jemanden, der beginnt, ihm die Spur einer Antwort zu zeigen. Die in philosophischer Hinsicht wichtigsten Schritte von Spe salvi sind meines Erachtens die Erzählungen von der afrikanischen Sklavin Bakhita und dem vietnamesischen Märtyrer Le-Bao-Thin. Diese zeigen nämlich, dass der Mensch nur dann mit seiner Suche und seinen Fragen weitermachen kann, das heißt, die Glückseligkeit zu ersehnen, wenn er ahnt, dass eine Antwort möglich ist, besser noch: Wenn diese beginnt, Gegenwart zu werden. Dies ist alles andere als eine erbauliche Erzählung, die Emotionen erzeugen will.
Bersanelli: «Sonst wird die Lage des Menschen im Ungleichgewicht zwischen materiellem Vermögen und Urteilslosigkeit des Herzens zur Bedrohung für ihn und die Schöpfung». Das Urteil des Herzens ist nicht auf Gefühle bezogen, sondern auf eine Vernunft, welche die menschliche Erfahrung in ihrer Beziehung zur Wirklichkeit zu lesen versteht.

Ihr habt eben die Verkürzung der menschlichen und christlichen Hoffnung auf eine individuelle Angelegenheit gestreift. Könnten wir nochmals darauf zurückkommen?

Esposito: Das ist kein innerkirchliches Thema, wie es scheinen mag, sondern ganz existentiell. Die christliche Hoffnung ist gemeinschaftlich: Ich kann das Gute nicht als allein für mich bestimmt denken, sondern es muss auch für die Menschen, die ich liebe, da sein und dann für das Volk, zu dem ich gehöre. Und letztendlich für die ganze Welt. Der Papst schreibt, «dass unser Tun nicht gleichgültig ist vor Gott und daher nicht gleichgültig für den Gang der Geschichte». Die einzige Hoffnung liegt in etwas Unendlichem, das sich uns schenkt und sich ganz unserer Verantwortung überlässt. In der modernen Philosophie hatte Hans Jonas auf Bloch geantwortet, dass das Problem nicht so sehr die Hoffnung, sondern die Verantwortung ist. Dabei sieht er die beiden aber als Gegensätze. Dieser Dualismus ist im Christentum überwunden, weil die Hoffnung etwas Zukünftiges ist, was einen aber jetzt anrührt, und daher macht sie einen empfindlich für Ungerechtigkeit und Böses. So umarmt man die Welt mit Rührung und Wirklichkeitssinn, so, wie Christus ihn hatte.
Bersanelli: Der Papst lenkt unseren Blick auch auf die christliche Erfahrung: «Das neuzeitliche Christentum [hatte] sich angesichts der Erfolge der Wissenschaft […] weitgehend auf das Individuum und sein Heil zurückgezogen. Es hat damit […] die Größe seines Auftrags nicht genügend erkannt». Die Aufgabe liegt vielmehr in allem, was wir tun. Sie besteht nicht darin, lange Reden über das Heil zu halten. Wir müssen vielmehr das Heil als eine gegenwärtige Tatsache wahrnehmen, in der Stofflichkeit unseres Lebens, unserer Arbeit, des Lehrens und Forschens. Meine Aufgabe ist es, mein ganzes Menschsein und alles Menschliche um mich herum zum letzten Ziel hin zu bringen. Als überhaupt nichts Privates.
Esposito: Genau. Bereits am Beginn sagt der Papst: «Auf Hoffnung hin sind wir gerettet». Wenn wir „Erlösung“ sagen, färben wir das Wort oft entweder endzeitlich (das Paradies im Jenseits) oder moralisch ein. In Spe Salvi wird das Verständnis der antiken Philosophen kraftvoll wieder aufgenommen: Erlösung ist „die Erscheinungen retten“. Alles an mir, auch die Einzelheit, auch das Böse kann angenommen werden, nein, wird jetzt angenommen. Das ist die gegenwärtige Verheißung der Erfüllung. Sonst besteht die Gefahr, die Erlösung in die Zukunft zu projizieren, wo und wann auch immer. Diese Zukunft hat dann nichts mehr mit dem Menschen zu tun, der ich jetzt bin, sondern nur damit, was ich am Ende sein muss, also mit der Fähigkeit zur sittlichen Besserung. Endlichen werden wir das tun, was man tun muss.
Bersanelli: Die Erlösung Christi ist der wahre Kern der Gegenwart, der Beziehung mit dem „unvollendeten“ Einzelding. «Seine Liebe allein gibt uns die Möglichkeit, in aller Nüchternheit immer wieder in einer ihrem Wesen nach unvollkommenen Welt standzuhalten, ohne den Elan der Hoffnung zu verlieren». Die Hoffnung besteht nicht darin, die Unvollkommenheit zu überwinden, sondern darin, die im erlösten Zeichen gegenwärtige Wahrheit anzuerkennen. Das Zeichen gehört dadurch zu einer höheren Ordnung. Die Entdeckung der Geheimnisse des Universums oder der Evolution oder der Schneeflocken, die vom Himmel fallen, also alle Erkenntnis, ist befriedigend, wenn sie innerhalb dieses Zeichens Gottes geschieht. Die Hoffnung kommt nicht daher, dass ich etwas weiß, sondern von der Entdeckung der Liebe, von der alles kommt («Liebe, die Sonne und Sterne bewegt» (Dante, Par., XXIII, 146). Und so etwas geschieht immer in der Gegenwart. Die Haltung des Papstes fügt unserer gewöhnlichen Haltung gegenüber den Dingen eine andere Sichtweise hinzu.
Esposito: Dieselbe Neuartigkeit erleben wir an der uns am nächsten stehenden Sache, unserem Ich. Denn diese Haltung gibt dem Wort „Leben“ eine größere Dichte. „Leben“ ist nicht mehr eine biologische und instinktive Entwicklung, die Ideen und Projekte verfolgt, sondern wird endlich zur Erfahrung. Das, was mir am meisten zueigen ist, mein eigenes Ich, ist „gegeben“, und es trägt die unendliche Spur seines „Gebers“. Die vollendete Erfahrung des Lebens ist es, dies bemerken zu dürfen.

Vernunft und Freiheit. «Der Fortschritt ist die Überwindung aller Abhängigkeiten – Fortschritt zur vollkommenen Freiheit ». Mit diesen Worten stellt der Papst den Anspruch der Neuzeit bloß.

Bersanelli: Mein Ich ist zutiefst abhängig, ich mache mich ja nicht selbst. Und diese Abhängigkeit findet ein wunderbares Zeichen im Aufbau der Natur um uns herum. Gerade die Naturwissenschaft hat in den letzten 50 Jahren gezeigt, wie „abhängig“ wir im Bezug auf die materiellen Vorbedingungen unseres Daseins sind. Wir sind von der Umwelt und von der Geschichte des Universums abhängig, vom Urplasma vor 14 Milliarden Jahren, von der Bildung der Galaxien, Sterne und schließlich unseres Planeten. Das Vorhaben, unsere Abhängigkeit zu überwinden, ist auch auf der Ebene der Natur eine reine Illusion.
Esposito: Das Christentum hat wirklich eine beeindruckende Umwälzung gebracht. Man stelle sich das vor: Es gibt zwei Worte, die am deutlichsten den Käfig des Daseins beschreiben: Bedürfnis und Abhängigkeit. Sie werden ganz und gar umgedeutet, weil die Abhängigkeit die Freiheit vor einem Du ist, eine Liebeserfahrung, die Entdeckung eines Sinns, der auf das Bedürfnis des Menschen und der Gesellschaft antwortet. Von Marx über Freud bis zur postmodernen Soziologie gibt es viele Theorien der Abhängigkeit als Entfremdung und reichlich Analysen der materiellen und spirituellen Bedürfnisse. Aber wenn wir am Grunde dieser Theorien nicht herausfinden, welches das letzte Bedürfnis ist, bleiben wir in unseren utopistischen und kraftlosen Versuchen stecken, uns von diesem letzten Bedürfnis zu befreien. Die meisten wählen aber den Weg, sich selbst als Bedürfnis ohne Befriedigung zu sehen, so, also ob einer Hunger hätte und daraus schlösse, dass es kein Brot geben könne. Das ist die Trockenheit des Nihilismus.

Das Thema der Hoffnung ist mit dem Wunsch des modernen Menschen verknüpft, als Mitspieler, Handelnder, dabei zu sein. Und darum geht es auch beim Titel des Meetings 2008: «Entweder Protagonist oder niemand ». Zugleich betont Don Julian Carrón schon seit einiger Zeit, dass der Mensch um dieses Wunsches willen mit der Wirklichkeit gebrochen hat. Die Beziehung zu ihr ist nicht mehr der Endpunkt der Entwicklung und des Wachstums des Menschlichen, sondern ein Hindernis, von dem es sich zu befreien, das es zu überwinden gilt. Aber Christus den Rücken zuzuwenden hat die entgegengesetzte Wirkung gehabt, die Zerstörung des Menschlichen. Wie kann man neu beginnen? Was kann den Funken in Philosophie und Naturwissenschaft wieder entzünden?

Bersanelli: Die Krise der Beziehung zur Wirklichkeit hat letztlich dazu geführt, dass wir viele Erkenntnisse gewinnen, aber keine davon führt auch nur zu einem kleinen Moment der Rührung. In wissenschaftlichen Kreisen schämt man sich geradezu für jeden Rest von Rührung angesichts dessen, was wir entdecken. Diese Trockenheit macht es schwer, den Gesamtzusammenhang der Einzeldinge zu sehen. Zum Neubeginn bedarf es einer liebevollen Erkenntnis: Bei meinen Vorlesungen hoffe ich, dass meine Studenten mir in meiner Rührung über den Gegenstand folgen. Dieses Prinzip hat auch Folgen für die Planung eines Forschungsprojektes oder die Bewertung seines Erfolgs.
Esposito: Das Neue im Umgang mit meinen Studenten ist, dass das Interesse für das eigene Ich neu aufkeimt. Wenn wir vom Prüfen anhand der Wirklichkeit sprechen, denken wir nur an die Objekte außerhalb von uns, und denken sie uns wie auf einer Liste verzeichnet. Das ist aber die nihilistische Lehre vom Sein. Stattdessen ist die Wirklichkeit etwas, das mir geschieht, und zur Wirklichkeit gehört, dass ich sie wahrnehme und verstehe. Es ist eine echte Begegnung, wo beide Seiten einander entsprechen müssen. Ich sage meinen jungen Leuten immer: Die Philosophie ist nie abgeschlossen, weil jeder Mensch erneut für sich verstehen muss, dass die Wirklichkeit auf ihn wartet. Sie wartet auf sein «Ja», um das sein zu können, was sie ist. Auf dieses «Ja» hin geschehen unvorhersehbare Dinge, die vorher noch nicht erkennbar waren. So werden Ideen geboren. Das Geheimnis ist kein Rätsel, sondern etwas ganz Vernünftiges. Es quillt dann hervor, wenn ein Ich der Wirklichkeit begegnet. Das ist die Schönheit der Philosophie.

Glaube und Hoffnung. Viele machen sich vor, dass alles besser sein wird, wenn die Umstände sich verändern. So soll die Hoffnung für Gewissheit im Leben sorgen. Der Papst behauptet das Gegenteil: Entweder gibt es einen Grund in der Gegenwart, oder unsere Hoffnung ist ein Als-ob, dessen enttäuschende Früchte wir sehen. In Kann man so leben? sagt Giussani: «Die Gewissheit über die Zukunft gründet in einer Sache in der Gegenwart, die du mit Gewissheit erkennst», und geht dann sofort zum Problem des Glaubens über. Wie hilft die Enzyklika, das Thema Glaube besser zu verstehen?

Bersanelli: Man richtet gerne die Hoffnung ganz auf die Zukunft. Irgendwie wird es schon besser werden. Wo eine Glaubenserfahrung fehlt, wo keine erlösende Tatsache anerkannt wird, bleibt dies die einzige bittere Möglichkeit: Sich irrational eine bessere Zukunft herbeiwünschen. Diese erlösende Tatsache muss nicht alle Probleme lösen, sondern nur mein letztes Bedürfnis befriedigen. Es muss auf meine Einsamkeit antworten, wenn ich mich frage, wer ich bin. Dem zu begegnen, der mir dieses eine Problem löst, das gibt mir Hoffnung.
Esposito: Leben heißt nach vorwärts gerichtet sein. Der Mensch ist ein Bündel von Sehnsüchten und gespannten Erwartungen. Diese Unruhe macht auf der Ebene der Natur seine Größe aus. Der Papst aber erinnert uns daran, dass in jeder Erwartung eine Erinnerung nachklingt. Und das Gedächtnis ist mein Bewusstsein dessen, was mir bereits gegeben worden ist. Nur so kann ich realistischerweise weiter vorwärts blicken. Der Glaube beendet die Suche des Menschen nicht, sondern er schleudert das Ich in einen allgemeinen Vergleich zwischen meinem letzten Bedürfnis und der Wirklichkeit hinein, wie Giussani sagt. Er ist das Lot, das die Tiefe jedes Augenblicks ausmisst. Ein Christ kann sich nach vorne ausstrecken, weil ihn jemand hält, und das ist der Vater.
Bersanelli: Es ist schön zu sehen, dass dies das Interesse für das angeblich Normale weckt. Was ersehnt man in zunehmendem Maße von der Beziehung zu Kollegen, von einer Besprechung zum Satellitenstart, von all den kleinen Dingen? Dass sie Hoffnung bringen, dass sie Zeichen seien der Hoffnung, die alles bewegt, für mich und für alle um mich herum. Es wächst meine Sehnsucht, dass sich gerade durch diese oder jene vergängliche Einzelheit das Antlitz der Gegenwart offenbart, auf der die Hoffnung gründet.
Esposito: Deswegen zitiert der Papst Augustinus mit einem herrlichen Satz, nämlich, dass die wahre Übung für das Herz das Gebet ist. Philosophisch, säkular gesprochen, finde ich diese Aussage unangreifbar. Irgendwann siehst du ein, dass du nur hoffen kannst, wenn du zu dem «unbekannten Bekannten», von dem du alles erwartest, sagst: «Komm!»