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Benedikt XVI. und sein Buch Jesus von Nazareth
Jesus und die Gleichnisse
José Miguel García

Im dritten Teil unserer Reihe über das Buch des Papstes geht es darum, besser zu verstehen, wie Christus diese lebendigen und anschaulichen Erzählungen aus dem alltäglichen Leben dazu gebraucht hat, die Wahrheit der Dinge zu zeigen. In einem anscheinend widersprüchlichen Satz enthüllt sich noch einmal die Barmherzigkeit der Vergebung Gottes.

In den synoptischen Evangelien entwickelt sich das Predigen Jesu großenteils durch die Gleichnisse. Diese Art und Weise zu lehren, ist charakteristisch für Jesus, da sich in der jüdischen Literatur vor Seiner Zeit kein einziges Gleichnis findet, sondern nur zwei Vergleiche von Rabbi Hillel (um 20 v. Chr.): Er vergleicht den menschlichen Körper mit einer Statue und die Seele mit einem Gast. Erst am Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus finden wir in jener Literatur die ersten Erzählungen mit Gleichnissen. Darüber hinaus zeichnen sich die Erzählungen Jesu durch ihre Lebendigkeit und Klarheit aus, wenn man sie letzteren gegenüberstellt. Joachim Jeremias sagt, dass «die Gleichnisse ein Fragment des ursprünglichen Felsen der Überlieferung sind» (*). Das heißt, wir befinden uns in unmittelbarer Nähe von Jesus. Im Übrigen unterscheidet sich die literarische Gattung des Gleichnisses durchaus von der Fabel, einer Gattung von Erzählungen, die in der orientalischen und griechischen Welt weiter verbreitet ist. Bei der letztgenannten Art von Erzählungen ist es normal, Tieren und Pflanzen als Hauptfiguren der Erzählungen menschliche Eigenschaften zuzuweisen. Die Gleichnisse Jesu dagegen sind Erzählungen, die Situationen und Ereignisse des täglichen Lebens beschreiben. Jesus nutzt die Normalität des Lebens und realer Situationen, um die Menschen die letzte Bedeutung, die Wahrheit Gottes und Sein Verhalten gegenüber dem Menschen, erkennen zu lassen. «Mittels allgemein bekannter Tatsachen», sagt Benedikt XVI., «will uns [Jesus] das wahre Fundament aller Dinge und damit die wahre Richtung zeigen, die wir im täglichen Leben einschlagen müssen, um dem rechten Weg zu folgen. Er zeigt uns Gott, nicht einen abstrakten Gott, sondern den Gott, der handelt, der in unser Leben eintritt und uns an der Hand nehmen will».

Eine erschütternde Behauptung

In seinem Buch Jesus von Nazareth verweilt Benedikt XVI. in dem Kapitel, das der Erforschung der Gleichnisse gewidmet ist, bei der Beschreibung ihres Wesens und Zwecks. Dabei bedient er sich der Studien von Adolf Jülicher, Charles H. Dodd und Joachim Jeremias. Beim Erkennen des Zwecks der Gleichnisse richtet sich die Aufmerksamkeit des Papstes natürlich auf eine Stelle aus dem Markus-Evangelium, auf Mk 4,11 ff., wo der Evangelist einige Worte Jesu zusammenstellt, die die Einführung zur Erklärung des Gleichnisses vom Sämann bilden und in denen er den Grund anzugeben scheint, weshalb Jesus sich mit Gleichnissen ausdrückt. Rufen wir uns die Stelle in Erinnerung: «Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes begeben. Jenen draußen aber wird alles in Gleichnissen zuteil, auf dass sie sehend und sehen und doch nicht schauen, und hörend Hören und doch nicht verstehen, um nicht umzukehren und Vergebung zu finden» (**). Der Papst räumt in seine Überlegungen zu Recht ein, dass diese Worte Merkwürdig erscheinen: «Hinsichtlich der Gleichnisse stellt sich uns ein Wort Jesu in den Weg, das uns erschüttert». Diese Worte Jesu werfen wirklich ernste Fragen auf. Der Papst stellt sich in seinem Buch folgende Fragen: «Dienen die Gleichnisse des Herrn vielleicht dazu, Seine Botschaft unzugänglich zu machen und sie nur einem kleinen Kreis von Auserwählten vorzubehalten, denen Er sie selbst auslegt? Wollen die Gleichnisse vielleicht nicht öffnen, sondern schließen? Ist Gott vielleicht parteiisch und möchte nicht alles beziehungsweise alle, sondern nur eine Elite?» In der Tat, nach den Worten Jesu scheint es, als ob der Zweck der Gleichnisse darin bestünde, zu verhindern, dass sich diese Menschen bekehren und so die Vergebung Gottes erhalten können. Aber müssten die Gleichnisse in Wirklichkeit nicht ein Mittel dazu sein, das Predigen Jesu verständlicher und wirkungsvoller zu machen? Und von der anderen Seite her gesehen: Suchen wir in den Evangelien nicht einen unablässigen Ruf Jesu nach Bekehrung, der ja den Wunsch einschließt, dass jeder Mensch dank der Bekehrung des Herzens von Gott die Vergebung erhält?
Der Papst versucht als tief gläubiger Mensch und als ernsthafter Wissenschaftler, eine Erklärung für diese geheimnisvollen Worte Jesu zu geben. Seines Erachtens stellt sich Jesus mit diesen Worten in eine Reihe mit den Propheten. Denn mit diesen Worten behauptet Jesus, dass Seine Bestimmung dieselbe ist, wie die der Propheten: die Ablehnung seiner Botschaft, die Er im Namen Gottes verkündet, durch das Volk, beziehungsweise das Scheitern. «Dieses Scheitern des Propheten droht wie eine dunkle Frage über der gesamten Geschichte von Israel und wiederholt sich in gewisser Weise ununterbrochen in der Geschichte der Menschheit. Es ist vor allem immer wieder neu auch das Schicksal von Jesus Christus: Er endet am Kreuz. Aber gerade aus dem Kreuz erwächst die große Fruchtbarkeit». Der Papst behauptet etwas sehr Wahrhaftiges und zeigt, dass Jesus selbst Seinen Auftrag vor dem Hintergrund der Propheten deutete, vor allem vor dem Hintergrund von Jesaja. Dennoch bleibt die Merkwürdigkeit dieser Textfassung, so wie sie uns überliefert worden ist. In anderen Worten, die gängige Interpretation erklärt nicht, was der Ursprung der so erschütternden Behauptung war, die in Mk 4,11 ff. enthalten ist. Und es ist außerdem schwer, zu akzeptieren, dass Jesus nicht fähig gewesen wäre, das Bewusstsein, das Er von Seiner Person und Seiner Sendung hatte, klarer und direkter auszudrücken. Versuchen wir also zu erklären, welchen Ursprung dieser griechische Text hatte, um diesen Worten Jesu einen vernünftigen Sinn zuzuordnen. Wie Jean Carmignac scharfsinnig betont, ist es notwendig – bevor man irgendeinen Text des Evangeliums theologisch interpretiert – zu verstehen, was er eigentlich aussagen will: «Eine gute Theologie setzt eine gute Exegese voraus, und eine gute Exegese setzt eine gute Philologie voraus; die Festigkeit der philologischen Grundlagen ist eine unverzichtbare Garantie für das Aufstellen exegetischer und theologischer Theorien». (***). Meines Erachtens ist es notwendig, den Einfluss der aramäischen Sprache auf das Griechische der Evangelien
zu beachten, um eine Erklärung für diese so ungewöhnlichen Worte Jesu zu finden.
Zunächst müssen wir uns daran erinnern, dass die von Jesus zuletzt genannten Worte ein Zitat des Propheten Jesaja sind. «Gehe und verkünde diesem Volk da: Höret, ja, höret, doch versteht nicht!
Gehe und verkündet diesem Volk da: "Höret, ja, höret, doch verstehet nicht! Sehet, ja sehet, doch erkennt nicht!" Verstocke das Herz dieses Volkes, mache seine Ohren taub, verklebe seine Augen, dass es mit seinen Augen nicht sehe, mit seinen Ohren nicht höre, sein Herz nicht zur Einsicht komme, dass es sich nicht bekehre und Heilung finde.» (****). Auch wenn es nicht ausdrücklich gesagt wird, so ist es doch wahrscheinlich, dass die abschließende Konjunktion bei Markus "auf dass" (hina) auf die Erfüllung der Prophezeiung hinweisen soll. Wie es bekannt ist, führen die Evangelisten, besonders Matthäus, nach dem Bericht einer Episode normalerweise ein Zitat aus dem Alten Testament ein, und zwar mit diesen Worten: «Auf dass sich erfülle, was die Propheten verkündet haben...». Dieses "auf dass" entspricht in Wirklichkeit einem "auf diese Weise". Mit diesen Zitaten wollen sie eine Tatsache aus dem Leben Jesu mit den Worten der Heiligen Schrift darstellen oder beschreiben. In der Tat ist die Konjunktion, mit der Matthäus sein Zitat aus Jesaja einführt, höchstwahrscheinlich das Ergebnis der Übersetzung einer aramäischen Konjunktion aus dem weiten semantischen Wortfeld ("Damit“, „auf dass“, „auf diese Weise“. Sie konnten folgende Feststellung einführen: «Auf dass sie [damit sich die Worte von Jesaja erfüllen] sehend und sehen und doch nicht schauen, und hörend Hören und doch nicht verstehen; es sei denn sie kehren um Gott vergibt ihnen». Der Evangelist sagt somit nicht, dass Jesus durch Gleichnisse spricht, damit jenen draußen alles in Gleichnissen erzählt wird, auf dass sie sehend und sehen und doch nicht schauen, und hörend Hören und doch nicht verstehen, sondern eher, dass sich mit der Verkündigung in Gleichnisse die Worte von Jesaia erfüllen. Denn sie beschreiben die Verhärtung des Volkes Gottes angesichts der Worte seiner Propheten.

Versuch einer Lösung

Die Lösung der zweiten Frage ist komplizierter. Sicherlich widerspricht die Aussage, Jesu wolle verhindern, dass jene die draußen sind, sich bekehren und Vergebung finden, dem, was wir im Alten Testament lesen und dem, was wir vom Verhalten Jesu kennen: Gott sucht mit unendlicher Geduld die Bekehrung des Sünders. Es ist sein Wille, dem Sünder Vergebung zu schenken. Um also die Textstelle zu verstehen, müssen wir zunächst darauf hinweisen, dass die Worte von Jesaja, die Jesus zitiert, nicht die wörtliche Übersetzung des hebräischen Originals des Propheten sind, noch eine genau Kopie der griechischen Version der Septuaginta. Der Text von Markus hängt von der aramäischen Übersetzung ab, der in Palästina für den Kult in der Synagoge gebraucht wurde, dem Targum. In der Tat entspricht dem Wort "auf dass" im Passus von Jesaja im Targum nicht dem Wort "dilema". Diese zusammengesetzte Konjunktion bedeutet nicht nur "auf dass", sondern auch "es sei denn". Das darf uns nicht erstaunen, denn in allen Sprachen existieren Worte, vor allem Präpositionen und Konjunktionen, die bei der Übersetzung in andere Sprachen je nach Zusammenhang mehrere Worte verlangen. Deshalb müsste das aramäische Original, das sich hinter dem griechischen Text von Markus verbirgt, folgendermaßen übersetzt werden: «Wenn sie sich nicht bekehren und Vergebung erhalten». Es ist deutlich zu sehen, dass damit die Härte der Aussage verschwunden ist. Was Jesus sagen wollte, indem er Jesaja zitierte, ist Folgendes: Der Grund weshalb bestimmte Personen beim Hören seiner Predigt nicht sehen, obgleich sie doch sehen, und hören aber nichts verstehen, liegt darin, dass sie auf seinen Ruf nicht mit einer aufrichtigen Umkehr antworten. Wenn Sie aber umkehren, dann sehen sie und verstehen sie.
Diese Lesart wird durch eine weitere Tatsache bekräftigt, der man sich bewusst sein muss, wenn man auf die Art der Mitteilung Jesu eingeht. Das hebräische Wort mashal und das aramäische matla können eine kurze Erzählung bezeichnen, wie dies für die "Gleichnisse" gilt. Sie bezeichnen aber auch Sprichworte, eine bildliche Reden oder ein Rätsel. Wenn also vom "Sprechen durch Gleichnisse" die Rede ist, so kann dies auch bedeuten, „durch Rätsel". Es bezeichnet also eine rätselhafte Ausdrucksweise. So kann man die ersten Worte Jesu in Mk 4,10 auf folgende Weise verstehen: «Euch wurde das Geheimnis Gottes offenbart; für jene von außen, ist alles ein Rätsel, eine Aussage, die sie nicht einsehen können». Auf diese Weise bilden die beiden Teile des Werkes das, was man als "antithetischen Parallellismus" definiert. Beide Teile sagen dasselbe, doch der erste durch eine Feststellung und der zweite durch eine Negation. Der erste Teil sagt, dass die Jünger die Erkenntnis für den Inhalt des Geheimnisses mit Blick auf das Reich Gottes in der Predigt Jesu empfangen haben; der zweite Teil, dass jene, die außen sind, in der Predigt Jesu und in seiner Person ein Rätsel sehen, das sie nicht verstehen. Die einzige Möglichkeit, um ihn zu verstehen, oder besser dass Gott ihnen Erkenntnis gewährt, besteht in der Umkehr.
Schließen wir unseren Versuch einer Klärung dieser eigenartigen Aussage Jesu mit der vollständigen Übersetzung der beiden Verse ab, in der wir durch Einschübe beide linguistischen Erklärungen zusammenführen. «Als er alleine war, fragten ihn die, die mit den Zwölf um ihn waren, über die Gleichnisse. Da sprach er zu ihnen: "Euch ist [durch Gott] das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben. Jenen draußen aber wird alles ein Rätsel, eine Ausdrucksweise, die sie nicht verstehen. Auf dass sie [damit sich die Worte Jesaja erfüllen] sehend sehen und doch nicht schauen, und hörend Hören und doch nicht verstehen; es sei denn sie kehren um, und Gott vergibt ihnen». Jeremias kommentiert dies mit den Worten: «Den Jüngern wurde das Geheimnis des gegenwärtigen Reiches geoffenbart; für jene außerhalb bleiben die Worte Jesu dunkel, weil sie seine Sendung nicht anerkannt haben und keine Buße tun. So erfüllt sich die schreckliche Prophezeiung von Jes. 6,9 ff. Dennoch bleibt die Hoffnung: „Wenn sie Buße tun, wird Gott ihnen vergeben“. Der letzt Blick ruht auf der Barmherzigkeit Gottes, der vergibt».

* J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu
** Mk 4,10-12
*** J. Carmignac, Recherches sur le Notre Père
**** 6,9 - 10