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Seminar der Gemainschaft
Kann man so leben?
Luigi Giussani

Ab Beginn des neuen Jahres wird das Buch Kann man so leben? Inhalt des Seminars der Gemeinschaft sein. Als das Buch 1994 herauskam, wurde es bei einem Treffen von Don Giussani mit der Gemeinschaft von Rom vorgestellt. Die Mitschrift des Dialogs kann als Instrument dienen, uns in den Text einzuführen und die Arbeit der kommenden Monate zu begleiten.


Giacomo Tantardini: Thema der Begegnung mit Don Giussani ist sein neues Buch: Kann man so leben?, das kommende Woche erscheinen wird. Jetzt können jene, die die Druckfahnen des Buches gelesen haben, Fragen stellen.

Luigi Giussani: Zunächst liegt mir daran, ein paar Worte zum Stil des Buches zu sagen. Es ist die wörtliche Mitschrift einer Reihe von Begegnungen, die während eines ganzen Jahres jede Woche am Samstag zwischen mir und etwa hundert jungen Leuten stattfanden, die ernsthaft die Hypothese prüfen wollten, ihr ganzes Leben Gott zu weihen. Dieser letzte Aspekt ist eine interessante, jedoch nicht entscheidende Einzelheit. Denn der Inhalt der Gespräche betraf in der Tat die Natur, den eigentlichen Stoff der christlichen Erfahrung. Ich denke, wem es gelingt, beim Lesen der ersten Seiten die etwas plumpe Wirkung des Textes zu überwinden und sich dem Stil des Buches gewissermaßen anzunähern, der wird vielleicht doch das eine oder andere lernen können. Mir scheint, dass zum Thema von Glaube, Hoffnung und Liebe nicht einmal mehr der Katechismus-Unterricht viel beitragen kann. Denn viele gehen gar nicht mehr hin oder sind noch nie hingegangen.
Erlaubt mir auch einen Wert zu betonen, der mir besonders am Herzen liegt, und der gleichsam das Leitmotiv des gesamten Textes darstellt. Das bedeutsamste Motiv, besser noch, die Leidenschaft, die ihn von Kapitel zu Kapitel durchdringt, ist das ganz unmittelbare Erbe, das mir ab dem Zeitpunkt zuteil wurde, als ich in einem Gymnasium begann, Religionsunterricht zu erteilen. Der Religionsunterricht verlieh mir folgende Intuition und leidenschaftliche Erkenntnis: die Intuition nämlich, dass der Glaube vor allem anderen seine Nähe zur menschlichen Vernunft in all ihren Konsequenzen sichtbar machen muss. Es war also die Intuition, dass dem Glauben etwas zutiefst Vernünftiges innewohnt, dass der Glaube das Vernünftigste ist, was es gibt, und somit das Menschlichste, was es gibt. Denn die Vernunft bildet jene Ebene der Natur, auf der die Natur sich ihrer selbst bewusst wird, und dies bezeichnet man als «Ich». Zwei charakteristische Eigenschaften treten bei ihr besonders hervor. Zunächst einmal die Beweglichkeit, die bewegliche Vielfalt im Leben. Die ganz unterschiedliche Art und Weise, in die sich die Vernunft verwandeln kann und mit der sie sich für die Berührung mit der Wirklichkeit wappnet – mit der gesamten Wirklichkeit, ohne auch nur das Geringste auszuschließen – beschreibt man mit dem Wort «Methoden». Es geht darum, die Frage des Glaubens insbesondere als eine Frage der «Methode» zu entdecken. Darauf werden wir bestimmt später noch zu sprechen kommen. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass sich die Fragen nicht um diesen Punkt kreisen, der ja die Hauptbetonung des ganzen Textes darstellt.
Zunächst also diese lebendige Beweglichkeit: Die Vernunft ist das lebendige Ich selbst und lebt in ihm. Sie ist gleichsam das Leben im Leben der Person und daher keine mathematische Formel oder schon vorgefertigte Schablone aus Blech. Als Zweites ist die Vernunft das tiefe Verlangen, Leidenschaft und Verlangen nach einer alles umfassenden Erkenntnis, sie will die gesamte Wirklichkeit erfassen. Der bewusste Glaube entspringt unvorhergesehen, von der Vorsehung bestimmt, aus Gnade gegeben und wie aus einem Glück heraus gerade aus dieser Leidenschaft für ein allumfassendes Verstehen der Dinge, also der grundlegenden Eigenschaft der menschlichen Vernunft. Eine lebendige Vernunft zeichnet sich dadurch aus, dass der Horizont ihres Interesses und der Anspruch zu verstehen grenzenlos sind. Das soll fürs Erste genügen. Danke.

Frage: Don Giussani, können Sie uns erklären, was damit gemeint ist, «dass der Glaube eine natürliche Erkenntnismethode ist, eine indirekte Methode der Erkenntnis, das heißt eine Erkenntnis, zu der man durch die Vermittlung eines Zeugen gelangt»1?

Giussani. Du hast die zentrale Frage berührt, die für mich die interessanteste darstellt. Ich halte sie auch für die entscheidendste Frage im Hinblick darauf, dass eine religiöse Gesinnung nicht abgleitet, nicht eine rein subjektive Färbung oder Beeinträchtigung erhält, und dass sie sich insbesondere nicht künstlich aufbläht. Eine religiöse Gesinnung wird dann zu einer ungeheuerlichen Angelegenheit, wenn das Ziel, dem sie zustrebt, worauf sie verweist oder dem ihr Interesse gilt, von ihr selbst beziehungsweise von ihrer Phantasie hervorgebracht wird. Wenn es einen zutiefst objektiven Gegenstand gibt, dann ist es eben gerade der Gegenstand des Religiösen Sinns. Für den Christen, aber im Grunde für jeden Menschen hängt alles mit dem Problem zusammen, das in der Frage angesprochen wurde.
Zur Frage der Erkenntnis. Ich spüre eine gewisse Versuchung, euch einmal bezüglich eurer Vorstellung von Erkenntnis zu provozieren; was euer Verständnis davon ist. Die Erkenntnis ist etwas ganz Einfaches: Dies ist ein Mikrofon, das hier ein Buch, und das ist Don Giacomo Tantardini und so weiter. Doch endet die Erkenntnis nicht wie der Reflex in einem Spiegel, ihr Wert kommt darin noch nicht erschöpfend zum Ausdruck. Stellt euch mal das Auge einer Leiche vor – verzeiht mir bitte das Beispiel –, das die Ausmaße hätte wie bei einem Ungeheuer aus der Urzeit (vielleicht könnte das ja sogar sein, wenn ihr einmal an all die Evolutionstheorien denkt, die zur Zeit die Runde machen!). Ein totes Auge ist eine Art Spiegel, denn es besteht ja aus einem Glaskörper. Geht etwas daran vorbei, so spiegelt es sich wie auf einer photographischen Platte oder einem Film. Wäre das Auge hingegen lebendig, so würde das gleiche Objekt, während es vorbeigeht, ein Spiegelbild mit leisen Anzeichen von Farben und Schwingungen hervorrufen. Das Bild würde in Schwingung geraten in diesem Auge; es würde sich in diesem Auge mit einer Schwingung widerspiegeln: das Bild des Gegenstandes würde dieses Auge «treffen». Das Auge nimmt den Gegenstand in sich auf und beherbergt ihn. Der Gegenstand aber, der sich vorüberbewegt, durchbohrt das Auge, während er aufgenommen wird. Nicht in einem gewaltsamen Sinne, er gibt ihm ja keinen Faustschlag, aber in gewissem Sinne schockiert er es. Im Lateinischen müsste man das mit dem Wort «affectus» übersetzen, als wollte man sagen: Ein Auge wird «affiziert» von. Somit rundet das Wort «affectus» die Dynamik der Erkenntnis ab. Das Nicht-Sehen-Wollen bewirkt, dass man nicht sieht, beziehungsweise kann bewirken, dass man nicht sieht, bis hin zu extremen Formen pathologischen Verhaltens. Wieviel Moralität kommt also beim Vorgang des Erkennens ins Spiel!
Gerade dieses Thema haben wir bei unseren Treffen berührt und ausführlich entfaltet. Wir haben ganz viele Themen berührt, es war wirklich ein interessantes Jahr – ein ganzes Jahr! –, auch wenn die Mitschrift davon zu einem unüberwindlichen Einwand werden kann, wenn jemand auf den reinen Stil der italienischen Sprache Wert legt.

Das Thema der Erkenntnis also. Dies ist ein Buch; dieser Gegenstand hier vor mir ist ein Buch. Aber jetzt nehmt einmal an, ich müsste nach Sao Paolo in Brasilien fliegen, wie es viele Male vorgekommen ist. Zuerst fahre ich nach Rom, um Don Giacomo zu besuchen, der mit etwas Fieber im Bett liegt. Es ist nichts Schlimmes, nur eine leichte Grippe. Ich grüße ihn, umarme ihn herzlich und fahre dann zum Flughafen Fiumicino. Ich steige ins Flugzeug, lege meinen Handkoffer nach oben ins Gepäckfach und setzte mich auf meinen Platz ... Aber schau mal, wer da ist! Es ist Nadia! «Nadia, wir haben uns ganz schön lange nicht gesehen! Ciao, wie geht’s dir? Woher kommst du jetzt?» Es ist meine frühere Klassenkameradin; vor vielen Jahren haben wir uns zuletzt gesehen. «Ich komme aus Beirut», sagt sie und fügt dann hinzu, «Ich komme aus Beirut und fliege jetzt weiter nach Buenos Aires.» «Wieso das? Was für eine Arbeit machst du denn?» «Ich arbeite für eine Versicherungsagentur.» «Und ... Familie?» «Ich habe drei Kinder.» «Drei Kinder! Und dann widmest du dich auch noch deiner Arbeit!? Donnerwetter, da führst du ein ganz schön anstrengendes Leben!» «Ja, gewiss, etwas anstrengend ist es schon.» Inzwischen hat das Flugzeug abgehoben. Nach ein paar Minuten Stille sagt sie ganz plötzlich zu mir: «Erinnerst du dich noch an Carlo?» «Aber ja!» – Er war damals der Spaßvogel unserer Klasse, der alle Lehrer auf den Arm nahm. Einmal hat er hinter dem Rücken des Religionslehrers, der sich immer in Lobeshymnen auf die Heimat erging, die aufgerollte Nationalfahne befestigt, die sich ganz allmählich entfaltete, und der Lehrer (er hieß Monza, der Gute!) verschwand plötzlich hinter einer weiß-rot-grünen Fahne. Jeden Tag hat Carlo etwas Derartiges fertiggebracht ...» «Und wie! Wer weiß, was aus diesem Unglückstropf geworden ist!» Denn alle Lehrer sprachen schlecht über ihn, und auch in allen Klassenkonferenzen sprach man schlecht über ihn. «Aber nein! Er hat sich völlig verändert! Ich erzähle dir von ihm, weil ich ihn gerade letzte Woche in Sao Paolo getroffen habe: Er ist ein großer Unternehmer geworden! Überall hat er Fabriken, ist steinreich, er hat seinen Kopf voll unter Kontrolle und ist Vater von fünf Kindern!» «Donnerwetter, Leute, ganz im Widerspruch zur UNO! (ironischer Bezug auf die Bevölkerungskontrolle der UNO, Anm. d. Ü.) Ganz gegen die UNO!» Ich lasse mir von ihr alles, was sie weiß, über Carlo erzählen. Sie ist schon seit der Gymnasialzeit gut mit Carlo befreundet. Wir sind in Rio de Janeiro angekommen: «Ciao», «Ciao». Wir trennen uns, da sie nach Buenos Aires weiterfliegt, ich dagegen nach Sao Paolo. Es war ein reiner Zufall, von der Vorsehung gewollt. Ich gehe zur Platzreservierung, und wem begegne ich dort? Carlo! Nach vierzig Jahren sehe ich tatsächlich Carlo wieder vor mir. Ich beglückwünsche ihn zu seinen fünf Kindern, und er macht einen sehr frohen Eindruck. Dann beglückwünsche ich ihn zu der Seriosität, die er sich entgegen der Vorhersage von uns und anderen, von Klein bis Groß, erworben hat. Ich spreche ihm meine besonderen Glückwünsche zu der Fabrik aus, die er in Südafrika errichtet hat und von der mir Nadia erzählt hatte. Ich rede mit ihm über das, was ich von Nadia erfahren habe, als hätte ich es selbst gesehen. Und ich irre mich nicht, denn er erwidert mir keineswegs: «Das ist nicht wahr, ich besitze sie gar nicht!» Ich spreche also zu ihm über das, was ich von ihm wusste, nicht weil ich es zuvor gesehen oder festgestellt hätte, sondern weil es mir Nadia erzählt hatte, meine Freundin Nadia.
Das hier ist ein Buch. Ich weiß es auch, ohne dass es mir jemand sagt. Ich weiß es nicht deswegen, weil es mir jemand sagt. Ich weiß es, weil ich sehe, dass es ein Buch ist, ich erkenne es als ein Buch. Aber die Methode, die Vorgehensweise, die ich gegenüber Carlo und Nadia anwende, meine Erkenntnis über Carlo und das, was er geleistet hat, wurde durch die Unterhaltung mit Nadia eingeführt und von ihm nicht bestritten; denn es gibt dabei nichts zu bestreiten, es ist alles wahr. Ist dies vernunftgemäß als Anerkennung und Erkenntnis, oder nicht? Wenn Nadias Bericht der Objektivität der Dinge entspricht; wenn das, was ich durch Nadia erfahren habe und jetzt weiß, der Objektivität der Dinge entspricht, dann ist diese Methode als vollkommen vernunftgemäß zu bezeichnen. Damals, als ich in jener Klasse des Berchet-Gymnasiums unterrichtete, habe ich, ohne dass mir das jemand zuvor erklärt hatte, verstanden, dass die Vernunft eben jene lebendige Fähigkeit war, von der ich zuvor gesprochen habe – wenn auch noch aus anderen Motiven und durch ein anderes Ereignis. Ich habe verstanden, dass die Vernunft mein eigenes Ich war, dass sie mit meiner innersten Substanz übereinstimmte und alle Fasern meines Körpers durchdrang. Um diese zwei Jungs dort zu erkennen, von denen einer einen schwarzen Schal trägt, muss ich mich hierher begeben. Soll ich hingegen den gut gekleideten Herrn dort unten erkennen, dann muss ich mich hinstellen. Es hängt vom Gegenstand ab, welche Art und Weise, welche Methode, welchen Weg das Auge der Vernunft einschlägt. Auf diesem Weg wird sie dann ihren Gegenstand erreichen, nämlich die Wirklichkeit. So habe ich für mich entdeckt, indem ich die Frage ausweitete, dass die Vernunft, «meine» Vernunft, für das Erkennen der Wirklichkeit zum einen eine direkte Methode zur Verfügung hat – mehr oder weniger direkt, ich habe jetzt nicht die Absicht, eine Lektion in Psychologie oder Erkenntnistheorie zu halten. Jedenfalls bin ich bei dieser Methode das Subjekt, das zu einer Erkenntnis gelangt. Und das Instrument, welches mich zum Erkennen führt, liegt in mir selbst. Der Vernunft steht aber auch eine indirekte Methode zur Verfügung. Was ich über Carlo erfahren habe, erfuhr ich von meiner Freundin; aufgrund der Erzählung meiner Freundin gelangte ich zu einer Gewissheit. Noch bevor ich Carlo am Flughafen von Rio de Janeiro traf, war ich der Tatsache gewiss, dass er fünf Kinder hat, eine tüchtige Person geworden war und so weiter. Denn meine Freundin hatte mir das gesagt! Die Vernunft kennt eine Methode indirekter Erkenntnis, der Fachausdruck, wie ihn auch die Justiz verwendet, lautet «Zeuge». Das Instrument, das sich nicht mehr in mir, sondern außerhalb von mir befindet, bringt mich zur Erkenntnis einer Angelegenheit. Man spricht von einem Zeugen. Es ist eine Methode wie andere auch, mit deren Hilfe die Vernunft in Berührung mit der Wirklichkeit gelangt. Diese Methode als eine nicht vernunftgemäße Methode abzulehnen, ist unvernünftig: Es handelt sich um ein Vorurteil. Der heilige Thomas machte eine Beobachtung2, die von vielen Psychologen heute bestätigt wird: Der Mensch gelangt viel leichter zu einer Gewissheit über etwas, das er hört, als durch etwas, das er sieht. Er ist sich wesentlich sicherer, wenn ihm etwas gesagt wird, als wenn er es sieht. Übrigens bezeugt das heute auch ein ganzes Volk, wie es Pasolini schon mit dem Ausdruck «Gleichschaltung» angekündigt hat; alle sind von den Massenmedien völlig gleichgeschaltet. Wenn Personen nicht ganz bewusst bemüht sind, über die Dinge nachzudenken – so wie ich mich mit diesen hundert jungen Leuten bemüht habe –, dann sind sie alle gleichgeschaltet, alle! Ich erinnere mich noch an einen Bericht in einer amerikanischen Zeitschrift, den ich las, als ich vor 40 Jahren mit dem Religionsunterricht begann. Darin wurde beschrieben, dass jemand, der einmal pro Woche einen Film sah oder ins Kino ging, schon nach wenigen Jahren, es waren vielleicht zwei oder drei, die ethischen und erkenntnistheoretischen Kriterien übernommen hatte, wie sie im Durchschnitt den Meinungen und Kriterien der verschiedenen Regisseure entsprachen. Hätte man einige Regisseure aufgelistet und einen Durchschnittswert ihrer Überzeugungen ermittelt, so hätten sich eben diese Überzeugungen auch bei einem Individuum finden lassen, das einmal pro Woche deren Filme gesehen hat. Und jetzt stellt euch einmal die Situation von heute vor! Einmal pro Woche? Jede Stunde kann man einen anderen Film sehen. Daher kann man der Gleichschaltung nicht widerstehen, die Pasolini befürchtet, besser noch konstatiert hat. Gewiss, wir könnten sie im Grunde alle feststellen. Er hat das deswegen festgestellt, weil er sich in einem Maß um den Menschen sorgte, wie das für andere Schriftsteller, Denker und Politiker nicht galt.
So beantworte ich deine Frage, indem ich festhalte, dass der Glaube eine der Methoden oder Wege darstellt, deren sich eine lebendige und bewegliche Vernunft bedient, um in Berührung mit der Wirklichkeit zu kommen. Dabei folgt sie der Einladung von Seiten der Wirklichkeit: ist jemand hier, so tut sie das eine; ist jemand dort, so wird sie in anderer Weise aktiv. Kommt hingegen die Wirklichkeit durch das Zeugnis einer anderen Person auf mich zu, über einen anderen als Zeugen, so kann ich sehr wohl zur gleichen Gewissheit darüber gelangen, als sähe ich es selbst. Dies scheint eine offensichtliche Beobachtung zu sein, ist es jedoch keinesfalls.
Hier möchte ich eine weitere Beobachtung anfügen. Um das Zeugnis einer anderen Person für sicher zu erachten, müssen in mir eine moralische Ordnung und eine Seelenhaltung vorliegen, die sicherstellen, dass sich nichts a priori, also von vornherein, als Vorurteil demjenigen entgegenstellt, der zu mir spricht; sodass ich nicht instinktiv gegen und schon definitiv in Widerspruch zur Person stehe, die mir Zeugnis ablegt. Dies ist notwendig, damit ich das annehmen kann, was mir die andere Person bezeugt; damit ich verstehen kann –verstehen! – mir bewusst werden und anerkennen kann, dass sie es mir in wahrer Art und Weise vermittelt und ich somit keinem Irrtum unterliege. Man kann sich irren, darauf werden wir in einer Anmerkung noch zu sprechen kommen. Man kann sich irren, aber es ist auch möglich, dass man keinem Irrtum unterliegt. Somit ist es eine gültige Methode. Es ist möglich, sie ohne Irrtum einzusetzen.
Es gilt herauszufinden, wie man die Methode so einsetzen kann, dass man sich dabei nicht irrt. Das Sprichwort «Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser» ist äußerst dumm und widerspricht ganz offensichtlich der eigenen Erfahrung. Die Fähigkeit sich anzuvertrauen zeichnet gerade den reifen und erwachsenen Menschen aus, der schon vieles kennen gelernt und über alles nachgedacht hat. Wenn die andere Person spricht, weiß er sofort zu unterscheiden, ob er noch Zweifel haben muss oder ob der andere aufrichtig redet. Ihm fällt das wesentlich leichter als etwa einem Jugendlichen im Gespräch mit einem gleichaltrigen Kameraden. Je reicher die Menschlichkeit einer Person entfaltet ist, je selbstkritischer sie ist und je bewusster sie die Begrenztheiten ihres menschlichen Weges wahrnimmt, je mehr sie sich der Wirklichkeit bewusst ist, umso mehr ist sie in der Lage zu wissen, wann und in welcher Weise sie sich anvertrauen kann. Zu wissen, dass man sich anvertrauen kann: das ist Genialität! Demgegenüber liegt der Irrtum vieler Menschen heute darin, sich nicht anvertrauen zu können; es trifft auch für einen Mann gegenüber seiner Frau zu, für eine Mutter gegenüber ihrem Kind, für das Kind gegenüber den Eltern. Es steht am Ursprung vieler Zerrüttungen. Gewiss, man kann dabei einem Irrtum erliegen. Wenn du zum Beispiel – ich habe bei unseren Begegnungen dieses Beispiel gemacht – auf dem Bürgersteig entlang gehst, dich in Gedanken versunken und etwas zerstreut umschaust, bemerkst du nicht, dass sich dir ein Individuum nähert. Es hat einen extrem langen, gänzlich ungepflegten Bart; der Hut sitzt ihm schief auf dem Kopf und ist voller Löcher; die Jacke ist voller Schmutzflecken; die Zehen schauen aus den Löchern der Schuhe heraus; es schaut dich mit wirrem Blick an ... Dieses Individuum geht geradewegs auf dich zu, sodass du es erst im letzten Moment bemerkst, und sagt zu dir: «Fräulein»! «Ja, was möchten Sie?» Und du denkst: «Es ist ein armer Mann», und du greifst schon zum Geldbeutel –, aber er sagt: «Wissen Sie, was passiert ist?!» «Nein, was ist denn passiert?» «Clinton ist tot!» «Nein, wirklich?!?» «Clinton ist tot, ermordet.» «Ermordet?!» Würdest du weggehen mit dem Gedanken: «O Gott, was für Zeiten sind das! Wenn solche Dinge geschehen, dann sind sie Ausdruck eines allgemeinen Verfalls; so sehr, dass man gar nicht mehr ruhig leben kann. Dabei sollte ich doch in drei Jahren heiraten! Wer weiß, ob ich meinen ganzen Plänen in Ruhe nachgehen kann! Und dann, welche Traurigkeit hinterlässt das doch!» – würdest du also weggehen in der Erschütterung über das, was dir jene Gestalt gesagt hat, so wärest du etwas dämlich. Denn eine solche Gestalt ist außer Rand und Band und völlig losgelöst; nicht nur aus einem sozialen Blickwinkel heraus, sondern auch aus einem physiologischen, der das Verhalten der Person betrifft: Es ist ganz offensichtlich eine verwirrte Person, ein Verrückter. In diesem Fall wäre es nicht richtig, ihm zu glauben. Nur ist es jetzt nicht meine Aufgabe, wie in einer Lektion genau auszuführen, wann und wie man glauben soll.
Unter «Glauben» versteht man eine Erkenntnis der Wirklichkeit, zu der ein Mensch durch das Zeugnis einer anderen Person gelangt, und zwar mit der gleichen Gewissheit, als sähe er sie selbst. Daher muss er gewissermaßen die Rechnung mit diesem Menschen machen, mit dieser Person, mit diesem anderen, und die Beziehung mit dem anderen beinhaltet auch psychologische und ethische Aspekte. Wie sehr kommt es also auf deine Aufrichtigkeit an – wohlgemerkt deine eigene! –, auf deine Deutlichkeit, deine Einfachheit, deine Klarheit, auf deinen Scharfsinn, wenn du fähig sein willst, Urteile, Informationen und Nachrichten zu nutzen, die dir von anderen zukommen. Erkennt man eine Wirklichkeit mit Hilfe eines Zeugen, durch das Werk eines Zeugen, dann kommt die ganze eigene Persönlichkeit ins Spiel. Es ist nicht nur die Vernunft im Sinne der «Hirnwindungen» angesprochen. Vielmehr ist die gesamte Wirklichkeit des Gehirns mit den Augen, den Händen, dem Geruchssinn beteiligt, und mit ihnen das Herz, das Gedächtnis vergangener Dinge, deine Reaktivität, deine Lebendigkeit, deine Klarheit. Kurz gesagt, gegenüber einer anderen Persönlichkeit ist deine ganze eigene Persönlichkeit gezwungen, sich ins Spiel zu bringen. Somit bringt der Glaube, die Erkenntnis mittels des Glaubens, also Erkenntnis der Wirklichkeit durch das Zeugnis eines anderen, die Fähigkeit einer Person sichtbar zum Ausdruck, vor einem menschlichen Gegenüber die richtige menschliche Haltung und Gesinnung einzunehmen.
Übrigens, entschuldige die Frage, – Wo bist du geboren? «In Salerno.» Er ist in Salerno geboren: dies zu sagen beinhaltet für ihn bereits einen Akt des Glaubens, denn er war bei seiner Geburt nicht mit ganzem Bewusstsein dabei, er war in diesem Sinne anwesend. Dies zu sagen, ist also schon ein Akt des Glaubens.
Das menschliche Zusammenleben, also die Gesellschaft in ihrer Komplexität, die Geschichte in ihrer ganzen Entwicklung, die Kultur in ihrer ständigen Ausrichtung auf den letzten Horizont der Dinge und der Wirklichkeit: all dies hängt von eben diesem Typ, von dieser Anwendung der Erkenntnis ab. Müsste der Mensch stets von vorne beginnen und dürfte er nur das zugeben, was er selbst sehen kann, dann wären wir jetzt noch im Zustand der Höhlenbewohner. Der Mensch müsste immer wieder von vorne anfangen, er könnte nie von dem ausgehen, was er von anderen erhalten hat. Unser Ausgangspunkt hingegen ist immer, das Erbe der Vergangenheit aufzugreifen und dessen ganz sicher zu sein. So können wir tatsächlich im Vergangenen zwischen dem auswählen, was wir für besser erachten, und dem, was wir für schlechter halten. Und bei diesem Urteil kann man sich natürlich leicht irren. Doch auch dieses Urteil hängt vom Herzen ab, von der Reinheit des Herzens, oder von der Armut des Geistes, wie Jesus sagen würde. Darauf hat also meine Antwort abgezielt.
Einen Satz füge ich noch hinzu. Es ist klar, dass die genannten Beobachtungen von wesentlicher Bedeutung sind. Denn wenn etwas jenseits unseres Horizontes existiert, das uns unüberwindlich übersteigt; wenn wir an die Schwelle gelangen, wo die Wirklichkeit von Natur aus unbekannt bleibt; wenn wir also an die Schwelle gelangen, die man «Geheimnis» nennt, dann ist es einzig und allein diese Methode, mit der wir etwas von diesem Geheimnis erkennen können. Und wie werden wir überprüfen können, ob das, was wir vom Geheimnis wissen, wahr ist, nachdem uns einer davon Zeugnis gegeben hat, der von jenseits der Grenzlinie kommt und in die Welt des Menschen eintritt? Wie können wir wissen, ob das richtig ist, was er uns enthüllen wird? Wir werden es nur aus der Tatsache ersehen können, dass es das Menschliche in uns zum Aufblühen bringt. Wenn es unsere ganze Menschlichkeit aufblühen lässt, wie auch immer sie sich ausdrückt, dann ist es tatsächlich als wahr bestätigt.

Frage: In dem Buch unterscheidest du zwischen der Definition des Glaubens und dem Glauben, so wie er hervorbricht, wie er beginnt. Diesen Punkt würde ich gerne besser verstehen. 3

Giussani: Es geht also um die Beziehung zwischen der Definition des Glaubens und dem gelebten Glauben.
Giancarlo Cesana: Ich könnte eine Antwort vorlesen, die du in Kann man so leben? gegeben hast. So werden wir auch mit dem Stil des Buches vertraut, das – wie ihr sehen werdet – sehr leicht zu verstehen ist, da es einen Dialog wiedergibt. Du holst hier recht weit aus: «Wenn du mit der Straßenbahn fährst, und da sitzt ein ganz gewöhnlicher Straßenbahnfahrer, und du bahnst dir den Weg nach vorne, du gehst nach vorne, weil es dir gefällt, in der Straßenbahn vorne zu stehen, und du stehst dort vorne und schaust dem Fahrer zu, wie er „tra-trak, tra-trak“ macht ... er betätigt den Hebel – dann gehst du nicht nach Hause und sagst zu deiner Frau: „Du, ich hatte eine Begegnung!“ „Was für eine Begegnung?“ „Mit dem Straßenbahnfahrer.“ Anders ist es, wenn der Straßenbahnfahrer, während du dort stehst, plötzlich bremst, weil jemand schnell vor der Straßenbahn herübergelaufen ist, und er das Fenster öffnet und „Cornuto!“ (Gehörnter) ruft ... Dieser läuft der Straßenbahn hinterher und an der nächsten Haltestelle steigt er ein. Er bahnt sich einen Weg durch die Menge nach vorne und stellt sich neben dich und den Fahrer, der ein bisschen zu zittern anfängt, und der Mann fragt ihn: „Entschuldigung, aber warum haben Sie mich \\'Cornuto\\' genannt? Wie können Sie wissen, dass ich ein betrogener Ehemann bin?“ Der Fahrer antwortet ihm: „Entschuldigung, aber ich war so erschrocken, als ich Sie so plötzlich vor der Straßenbahn herübergelaufen sind, dass mir das Schimpfwort einfach herausgerutscht ist ... aber Sie hätten auch besser aufpassen können.“ „Aber nein, Sie haben völlig Recht! Ich bin ein betrogener Ehemann! Denn, wissen Sie, ich habe geheiratet. Dann bin ich für zwei Jahre nach England gegangen, nach London, um zu arbeiten, und als ich zurückkam, hatte meine Frau ein Kind. Was hätten Sie da gemacht?“ Der Fahrer zuckt mit den Achseln. Und der Mann: „Nun ja, ich habe es behalten! Armes Kind, es war ja nicht seine Schuld, ich habe es behalten. Nur, das Kind wurde größer und man musste es zunächst in den Kindergarten schicken ... und meine Frau sagt: \\'Schicken wir es zu den Schwestern, da können wir beruhigt sein.\\' Was hätten Sie gemacht? Ich habe zu ihr gesagt: \\'Schicken wir es zu den Schwestern!\\' Und nach dem Kindergarten kam die Grundschule. Und meine Frau sagte zu mir: \\'Lassen wir ihn doch bei den Schwestern\\' ... und das kostet mich einiges, das kostet mich einen Haufen Geld, Sie wissen ja, wie teuer Privatschulen sind ... Aber ich habe ihn weiterhin zu den Schwestern geschickt. Nach der Grundschule kam die Mittelschule. Und auch die machte er bei den Schwestern ... Was soll man machen ... Ich hab’ ein viel zu gutes Herz, und ich habe ihn weiter dort bei den Schwestern gelassen, und gezahlt und gezahlt, Unmengen! Und meine Frau verdient das alles nicht. Nach der Mittelschule hat mich meine Frau überredet: \\'Schicken wir ihn aufs Gymnasium!\\' Was hätten Sie gemacht? Ich habe ihn aufs Gymnasium geschickt ... auf eine Privatschule wohl gemerkt! Und so hat mich dieser Sohn einiges gekostet! Aber letzte Woche habe ich nur noch rot gesehen! Meine Frau sagt zu mir: \\'Du, er hat das Gymnasium ganz gut abgeschlossen. Lassen wir ihn doch studieren.\\' \\'Oh nein!\\', hab ich gerufen. \\'Das geht nun wirklich zu weit!\\' Denn der Sohn einer Dirne kann höchstens Straßenbahnfahrer werden!!!‘” Ich – so fährt die Erzählung fort – und die anderen um mich herum, die das gehört haben, brechen in Lachen aus ... Dann, wenn ich nach Hause komme, sage ich zu meiner Frau: „Du, ich hatte heute eine nette Begegnung!“ Das stimmt doch, oder? Denn es ist ein bisschen außergewöhnlich, dass einem so etwas passiert.»
Also – «zweites Kennzeichen des Glaubensaktes» ist also das Folgende: – «dies ist das zweite Kennzeichen des Glaubensaktes: Das Faktum, von dem man ausgeht, die gemachte Begegnung, hat etwas Außergewöhnliches an sich. Aber gebt hier Acht: Wann kann man etwas «außergewöhnlich» nennen? Dies ist wirklich eine Beobachtung, von der ich nicht weiß, ob sie eher dramatisch oder komisch ist – wisst ihr, die Natur, wie sie von Gott erschaffen ist, kann manchmal komisch sein –, denn wir empfinden eine Sache als außergewöhnlich, wenn sie den tiefsten Bedürfnissen entspricht, für die wir leben und uns bewegen.
Es gibt tiefe Bedürfnisse, die dem Leben, dem Denken, dem Handeln ein Ziel geben: Wenn etwas dem Kriterium entspricht, für das man lebt und aufgrund dessen man alles beurteilt – wenn es den Kriterien entspricht, mit denen man das Leben lebt, leben wollte, wenn es den tiefsten Wünschen des Herzens entspricht, wenn es dem entspricht, was das Seminar der Gemeinschaft «Grunderfahrung» nennt, wenn es den tiefsten Bedürfnissen des Herzens entspricht, das heißt jenen, mit denen man alles lebt und alles beurteilt, wenn es den natürlichsten und vollkommensten Bedürfnissen des Herzens entspricht, wenn es das verwirklicht, was das Leben erwartet – dann ist es außergewöhnlich.»4
Und dann gibt es «einen letzten Punkt: die Antwort». Wenn dieses Außergewöhnliche geschieht, wie antworten wir darauf? «Hört mal, welches ist das höchste Kennzeichen der menschlichen Handlung – jedweder wirklich menschlichen Handlung, aber vor allem, wenn die menschliche Handlung vor ihrer Bestimmung steht? Erinnert euch an Charles Péguy: Gott zwingt nie jemanden. Die Freiheit! Angesichts dieses Faktums, wo alles so klar ist – «Wenn ich nicht an Dich glaube, traue ich meinen eigenen Augen nicht»: dies ist das Wesen der Haltung des heiligen Petrus, angesichts der Frage «Was ist das für ein Mensch?» und angesichts der Antwort, die Petrus gibt, kann man «ja» oder «nein» sagen, dem, was Petrus sagt, zustimmen oder weggehen, wie alle anderen weggegangen sind. Das einzig Vernünftige ist das «Ja». Warum? Weil die vorgeschlagene Wirklichkeit der Natur unseres Herzens mehr entspricht als jede Vorstellung, die wir uns machen könnten. Sie entspricht dem Durst nach Glück, den wir haben und der der Grund ist, für den wir leben, in dem die Natur unseres Ichs besteht: das Bedürfnis nach Wahrheit und Glück. Christus entspricht all dem in der Tat mehr als jede Vorstellung, die wir uns ausmalen können. Denke, was du willst: Aber nenne mir jemanden, der mehr ist als dieser Mensch, wie ihn das Neue Testament beschreibt! Nenne mir jemanden, wenn du es schaffst, dir ihn auszumalen! Man schafft es nicht. Er entspricht dem Herzen mehr als jedwede mögliche Vorstellung, die wir haben.»5
Giussani. Die Sache hat allerdings einen Haken. Um zu verstehen, dass der Barolo ein guter Wein ist, muss man ihn trinken, und zwar auf bestimmte Weise, mit einer gewissen Vorsicht. Ebenso versteht man auch das, was dieses Buch behauptet, durch die Erfahrung. Man versteht durch die Erfahrung, dass es unmöglich ist, ohne Christus zu leben, wie Petrus im sechsten Kapitel des Johannesevangeliums sagt: «Auch wir verstehen nicht, was Du sagst, doch wenn wir von Dir weggehen, zu wem sollten wir gehen? Du allein hast Worte, die das Leben erklären.»6 Man versteht etwas, indem man es probiert. Und da dies die einzige Herausforderung ist, vor die ihr gestellt werdet, solltet ihr diese Herausforderung verifizieren, ehe ihr irgendetwas anderem nachgeht. Verifizieren bedeutet, es zu probieren und ihm so nachzugehen, dass es zur Erfahrung wird. Dann wird es für euch ganz normal werden, in der Erfahrung eurer Tage bestimmte Akzente oder herausragende Dinge festzustellen, die man anderswo nicht findet, und die aus einer anderen Position heraus unvorstellbar sind.
Als Er in jener Nacht mit im Boot war, war er so erschöpft, dass er nicht einmal den furchtbaren Sturm hörte – der auf dem See von Tiberias auch heute noch ganz plötzlich aufkommt. Das Boot war voller Wasser. Daher haben die Jünger sich entschieden, ihn zu wecken: «Herr, rette uns, wir gehen zugrunde!» Er steht auf, gibt dem See und dem Sturm ein Zeichen, und schon tritt völlige Stille ein. Jene sieben oder acht Männer, die seine Freunde waren und schon seit Monaten regelmäßig zu ihm gingen und alles von ihm kannten – seinen Vater, seine Mutter und die ganze Vorgeschichte –, diese Freunde sagten verschüchtert zueinander: «Was ist das für ein Mensch?»7 Es gab ein derartiges Missverhältnis zwischen der Art und Weise, wie dieser Mensch auftrat, und den Möglichkeiten ihrer Vorstellungskraft, sodass sie gezwungen waren, diese Frage zu stellen, obwohl sie ihn kannten. Dieselbe Frage stellten zwei Jahre später seine Feinde, als sie alle Möglichkeiten, eine Antwort zu geben, ausgeschöpft hatten und ihn schließlich fragten: «Wie lange noch willst du uns hinhalten? Sag uns, woher du kommst!»8 Sie hatten das Einwohnerregister und konnten dort nachsehen. Manchmal scheint es unmöglich, dass ein Mensch dem Engpass ausweichen kann, vor den er durch gewisse Fakten unweigerlich gestellt wird. Doch dann schaut man aufmerksam auf sich selbst und versteht: und ob der Mensch ausweichen kann! Denn der Mensch macht sich gerne zum Herrn über die Wirklichkeit. So sagt Jesus: «Ihr alle seid böse.»9 Er hat es in einem traurigen Moment gesagt, doch auch die Feststellung war traurig: «Ihr alle seid böse.»

Frage. Können Sie besser erklären, was Sie unter Hoffnung verstehen, wenn Sie sagen: «Wenn der Glaube die Anerkennung einer gewissen Gegenwart ist, wenn der Glaube die Anerkennung einer Gegenwart mit Gewissheit ist, dann ist die Hoffnung das Anerkennen einer Gewissheit für die Zukunft, die aus dieser Gegenwart erwächst.»10 Wie verstehen Sie Hoffnung?

Giussani. Ich weiß nicht mehr, wie ich die Frage aufgerollt habe (denn ich habe das Buch noch nicht gelesen), aber ich danke Gott für die Gewissheit, die er mir geschenkt hat; und wie der heilige Paulus sagt: «Seid stets bereit Rechenschaft zu geben für die Hoffnung, die in euch ist.»11 Stellt euch ein Kind vor, das durch einen tiefen Strom hindurch muss, wenn es einen Vater hat, von dem es weiß, dass er stark ist … Er hat es immer auf dem Arm gehabt! Auch jenes Mal, als er zum Heuen ging und das Kind nahm, stopfte der Vater seinen Rückentragkorb bis oben hin mit Heu voll und das Kind wollte ihm helfen, es hörte nicht auf, mit den Füßen zu stampfen und dabei zu sagen: «Papa, ich möchte dir beim Heu-Tragen helfen!» Und so zog der Vater eine Handvoll Heu heraus, legte sie in die Hände des Kindes und brauchte so auf dem Heimweg eine Stunde länger; normalerweise trug er das Kind oben auf dem Heu … Das Kind weiß genau, dass der Vater jede Menge Kraft in den Armen hat; es hat Angst über eine kleine Brücke zu gehen (ich sage das, weil ich immer noch Angst habe, wenn ich durch eine Felsschlucht muss), aber der Vater sagt zu ihm: «Ich nehme dich auf den Arm.» Das Kind passiert die Brücke im Arm des Vaters und hat überhaupt keine Angst mehr: aufgrund einer Gegenwart, einer Gegenwart, die einen Schritt Sicherheit gab, den es noch zu machen galt, aber der dann folgen sollte, der dann getan wurde.
Stellt euch die Witwe von Nain vor, diese Frau, die dem Sarg ihres einzigen Sohnes folgt und die schon Witwe ist. Jesus geht auf sie zu, sagt ihr aber nicht sofort: «Ich gebe dir deinen Sohn zurück: Sohn, steh auf!» Als Erstes sagte er zu ihr: «Frau, weine nicht»12, was sogar töricht scheint. Denn wie kann man den Anspruch erheben, dass eine Frau in einer solchen Situation nicht weint? Wie kann man so etwas machen? Aber diese kleine Vorgeschichte zu dem, was Christus danach Erhabenes getan hat, ist das Zeichen, dass die Liebe, mit der er zu den Menschen kam, eine sehr persönliche, sehr tiefe, sehr rührende Liebe und Mitleid war: Es war Caritas. Wie es in Kann man so leben? heißt, ist die Caritas, die Liebe Gottes zum Menschen eine ergriffene Liebe, die Liebe Gottes zum Menschen ist eine Ergriffenheit13; wenn sie nicht ergriffen wäre, wäre sie nicht göttlich – ohne eine solche Ergriffenheit wäre es dasselbe, ob man Mist schippt oder Geld verschenkt. Die Ergriffenheit zeigt die Tiefe der Anteilnahme, die ein Mensch hat. Man lebt nicht, um zu sterben, sondern man lebt, um zu leben. Das gilt auch für den Tod, wie Huizinga14 sagt, da er Teil einer Definition des Lebens ist, integraler Bestandteil der Definition vom Leben. Er ist ein Übergang, eine Schwelle zu einem größeren und tieferen Leben.
Es ist klar, dass ich von einer sicheren Gegenwart aus auch für die Zukunft Pläne machen kann, die klug und somit angemessen dem gegenüber sind, was ich habe. Aber das war nicht der Punkt, der uns an der Frage interessierte; das liegt auf der Hand. Die Hoffnung gründet psychologisch gesehen immer auf einer Gegenwart. Sie ist etwas, was du in der Gegenwart hast, was dir erlaubt, die Zukunft mit einer Gewissheit anzugehen. Eine Gewissheit, die bis zu einem bestimmten Punkt reicht. Deswegen muss du deinen Plan gut abwägen, du musst deine Phantasie im Zaum halten, sie darf kein Anspruch sein. Aber de facto heißt Hoffnung, strukturell etwas in der Gegenwart zu haben, das es einem erlaubt, von der Hypothese auszugehen, dass man etwas für die Zukunft aufbaut. Es ist kein Mehr, denn der Mensch lebt für ein Morgen, er lebt den Augenblick nicht, indem er alle seine Wünsche im Gefängnis des Augenblicks erschöpft. Nur ein Betrunkener kann so leben, jemand, der auf unterschiedliche Weise, aus verschiedenen Gründen betrunken ist, aber immer nur einer, der betrunken ist – wie Jesus in einem Satz sagt, der auf einem der Papyri erhalten ist, die im ägyptischen Oxyrhynchos gefunden worden sind: «Ich kam zu ihnen und traf sie alle betrunken an; keiner von ihnen hatte Durst.»15 Ibsen hat das anders übersetzt. Er verwendet das Bild eines Zimmers, in dem sich der Hausherr nie aufhielt. Und der Hausherr sagt am Ende: «Du liebliche Sonne, vergeudet hast / Du dein Sprühn auf eine verödete Hütte./ Da saß niemand darin zu Trank oder Schmause –/ Der Eigener, sagt man, war niemals zu Hause. »16 In jedem Falle ist man unvermeidlich im Rahmen bestimmter Grenzen darauf ausgerichtet, etwas für die Zukunft aufzubauen, man will sich für den Organismus einsetzen, seine Zeit gut nutzen. Deshalb kann die Frage im Gegenteil lauten: Warum lebst du heute? Für das Morgen, für ein Morgen. Du kannst dem keine Grenze setzen: Wenn du stumm bleibst – wenn du nicht reagierst –, ist das ein Zeichen dafür, dass du schon tot bist. Du bist schon tot!
Aber die Frage interessiert uns vor allem im Hinblick auf das, was uns Christus gesagt hat, der von der anderen Seite des letzten Ufers kam, der von der anderen Seite zu uns herüber kam, um uns zu sagen: «Ihr drängt euch hier alle auf diesem Stück Erde. Ihr esst unter Mühsal, alles ist dürr, alles endet in der Dürre, aber ich werde euch auf die andere Seite bringen, zum anderen Ufer, wo es eine ewige Vegetation geben wird.» Die Gewissheit, die ich Jesus gegenüber jetzt habe, gibt mir die Fähigkeit, die Zukunft mit Gewissheit zu erwarten; und Hoffnung heißt, dass man die Zukunft aus einer Gewissheit heraus erwartet. Auf die Zukunft mit einer Erwartung zuzugehen, das heißt, einen neuen Inhalt zu erwarten, eine neue Zukunft in einer Gewissheit. Nicht «innerhalb gewisser Grenzen» …; im Gegenteil – doch, «innerhalb gewisser Grenzen», zumindest nach außen erscheinen sie als Grenzen: innerhalb der Grenzen des Planes Gottes, des Willens des Vaters, der ein unendlicher und ewiger Wille ist. Ohne die Perspektive des Ewigen wird auch die liebevollste, die zärtlichste Umarmung – so Claudel in Der seidene Schuh –, zu einem Vorzeichen des Todes. Und wie Rilke sagte: «Und alles ist einig, uns zu verschweigen, halb als Schande vielleicht und halb als unsägliche Hoffnung»17 Das, wofür wir gemacht sind, ist etwas Unsagbares. Man kann es erahnen, aber es ist unsagbar. Je näher unser Leben sich bewusst an die Gegenwart Christi hält, desto mehr wird diese Vorahnung zur Regel und zur Norm, zur Quelle der Lebendigkeit. Aber die Dichter, das habe ich schon seit meiner Zeit am Gymnasium gesagt, die großen Dichter sind alle Propheten. Du liest viele Seiten von ihnen, und dann auf einmal findest du einen Vers, eine Strophe, eine Seite, auf der sie wirklich Propheten für Gott sind; mehr noch, für Christus. Gerade weil sie von etwas ausgehen, das menschlich ist, und weil das Bild, das sie verwenden, menschlich ist, sind sie die Propheten Christi, des Gottes, der Mensch geworden ist. Und wenn man sich mit Literatur befasst, so wie ich sie Gott sei Dank studiert habe, wird auch das Lernen zu einer Teilhabe an einer außerordentlichen Geschichte.
Umsonst hoffen – gibt es etwas Grausameres, ein schrecklicheres Ende? Das Leben ist keine Tragödie, aber es ist tragisch, wie es das letzte Wort über das Leben bei den großen Denkern und Dichtern aus Griechenland war, die das Beste sind, was der Mensch an Literatur hervorgebracht hat. Nur durch das Christentum ist das Leben nicht mehr tragisch, sondern dramatisch. Und die Dramatik ist der Kampf zwischen einem Ich und einem Du, wie der des Jakob, des biblischen Jakob: Als er am Abend an jene Furt kam, ließ er zuerst die Sklaven, die Frauen, die Kinder, die Tiere hindurchgehen, er ging als Letzter. Es war schon ganz dunkel, aber er wollte trotzdem hinübergehen, doch eine Hand hielt ihn zurück; die ganze Nacht kämpfte er mit diesem geheimnisvollen Wesen, bis dieses am Morgen siegte, ihn an der Hüfte schlug, so dass er sein ganzes Leben lang hinkte und so gebrandmarkt war.18 Wer lebt schon so, dass er dabei versucht, sich der großen Gegenwart bewusst zu sein? Der heilige Paulus sagt: «Ob ihr nun esst oder trinkt, erinnert euch daran, dass alles zur Ehre Christ geschieht.»19 Essen und trinken: banaler kann man den Vergleich nicht wählen; würde man den Vergleich eine Stufe tiefer ansetzen, dann wäre er vulgär.

Frage. In dem Text bezeichnest du es als entscheidende Frage, dass wir wieder zu Kindern werden, zu den Ursprüngen zurückzukehren, zu dem zurückzukehren, wie Gott uns geschaffen hat. Um das zu erklären hast du die Moralität definiert: «In der Haltung leben, in der Gott uns geschaffen hat». Kannst du diese Beziehung noch einmal erläutern?

Giussani. Mein Freund Carlo wird antworten.
Carlo Wolfsgruber. Ich lese noch einmal den zitierten Satz vor, denn dann versteht man es besser: «Deshalb ist die entscheidende Frage, wieder so zu werden wie die Kinder […] Die entscheidende Frage ist, wieder zurück zum Ursprung zu kommen, die entscheidende Frage ist, wieder zu jener Haltung zurückzukehren, mit der Gott uns geschaffen hat. Denn was ist die Moralität anderes? Die Moralität bedeutet, in der Haltung zu leben, in der Gott uns geschaffen hat.»20 Dieser Abschnitt versteht sich als Antwort auf eine Frage weiter oben, die lautet: «Doch wer hat Gott erkannt, als er kam?»21. Eben, die entscheidende Frage ist, dass wir wieder zu Kindern werden, das heißt moralisch werden, also in der Haltung leben, in der uns Gott geschaffen hat.
Zunächst möchte ich dazu sagen, am meisten beeindruckt die Tatsache, dass diese Haltung, in der Gott uns geschaffen hat, eine Haltung ist, die wir gegenüber der ganzen Wirklichkeit haben, und damit auch gegenüber dem Problem Christi. Denn es ist nicht ein abstraktes Problem, keine Idee, kein theoretisches Problem. Es geht darum, angesichts eines gegenwärtigen Faktums in der Geschichte Position zu beziehen. Christus ist so gegenwärtig in der Wirklichkeit, dass die rechte Haltung, die es erlaubt Christus anzuerkennen, dieselbe ist, die angesichts der ganzen Wirklichkeit richtig ist, also gegenüber mir selbst, gegenüber meiner Mutter, gegenüber dem, was mir gehört oder was ich gern hätte, den anderen gegenüber, den Freunden gegenüber, eben gegenüber der Wirklichkeit. Christus anzuerkennen verlangt eine bestimmte Haltung, eine angemessene, moralische Haltung. Aber es ist dieselbe moralische Haltung, die mir erlaubt, eine richtige Beziehung zu allem zu leben.
Wenden wir uns der Frage zu, worin diese richtige Haltung besteht. Giussani sagt das an derselben Stelle: Es ist die Haltung des Kindes. An einem bestimmten Punkt erklärt er in der Versammlung, die sich dann anschließt, worin diese Haltung besteht, und sagt: Das Kind ist «Offenheit, Neugierde und Anhänglichkeit.» 22 Folglich bedeutet die moralische Haltung, eine moralische Haltung gegenüber der Wirklichkeit einzunehmen; diese Haltung erlaubt mir dann auch, Christus anzuerkennen, offen und neugierig gegenüber der Wirklichkeit zu sein und ihr anzuhängen. In einem Wort: keine Vorurteile haben, das heißt nicht irrational sein, nicht von der Irrationalität des Vorurteils beherrscht zu sein. Denn das Vorurteil ist meiner Meinung nach zumindest aus zwei Gründen irrational: erstens, weil du den Anspruch hast, eine Sache zu kennen, die du nicht kennst, dadurch dass du sie schon zu kennen meinst – das ist ein ganz offensichtlicher Widerspruch; und zweitens ist es irrational, weil das, was du zu wissen meinst, normalerweise einfach das ist, was die anderen denken, es ist noch nicht einmal eine Vorstellung, die ursprünglich von dir kommt.
Auf jeden Fall «ist die entscheidende Frage, wieder so zu werden, wie die Kinder»: das ist Moralität. Und dann wendet der Text diese Haltung auf die Beziehung zu Christus an. Wenn ich darf, möchte ich die Stelle vorlesen: «Alle Apostel lebten so, außer einem. Auch er folgte ihm und war ganz wie die anderen, ja sogar voller Initiative. So hatte ihm Jesus sogar das Geld anvertraut, er hatte ihn zum Verwalter der Gruppe gemacht. Aber er folgte ihm nicht mit diesem Empfinden, sondern hoffte auf etwas anderes. Auch die Apostel hofften auf etwas anderes; sie hofften, dass Jesus endlich das Reich Israel errichten werde, das Reich des jüdischen Volkes, das die Welt beherrschen sollte, mit ihnen als Ministern dieser Welt. Während sie mit diesen Bildern der Mentalität aller folgten, so hatten sie aber doch eine Nähe und Beziehung zu Jesus, die noch stärker als diese Bilder waren, denen sie treu geblieben waren. Entsprechend sagten sie auch zum auferstandenen Jesus, als sie ihm zum ersten Mal begegneten: „Meister, wirst du jetzt also das Reich Israel errichten?“ – ganz so, als sei er nicht gestorben, so als sei nichts geschehen. Sie wiederholen die Mentalität aller. Und Jesus antwortet entschieden: „So ist es nicht! Die Zeit, wann dies geschehen soll, weiß nur der Vater“. Und sie nehmen in der Nähe Jesu so sehr eine Haltung von Kindern ein, dass sie ihre Erwartungen aufgeben. Sie halten nicht an ihren Ansprüchen fest, dass er auf ihre Fragen genau so antworten müsse, wie sie es sich vorstellen. Sie bleiben ihm hingegen tiefer verbunden als ihren eigenen Ansichten und Vorstellungen, mit einer wesentlich größeren Einfachheit.[…] Und genau hier liegt die große Gefahr für uns alle: dass unsere Vorstellungen gegenüber der Erwartung, die Gott uns ins Herz gelegt hat und die Christus erneuert beziehungsweise vielmehr noch zugespitzt hat, überwiegen. Wie hat er sie zugespitzt? Er hat sie als Beziehung zu Ihm präzisiert: „Verlasst euch auf mich.“ »23
Ein Stück in dem Buch ist mit Moralität: Gedächtnis und Sehnsucht überschrieben. Das ist die Stelle, die mich am meisten beeindruckt hat. Dort ist mit anderen Worten beschrieben, was diese Offenheit, diese Neugierde, diese Fähigkeit zum Anhängen ohne Vorurteil heißt: «In der Beziehung zwischen Sohn und Vater, in der Beziehung zwischen einem Jünger und seinem Meister, leben der Sohn und der Jünger ganz aus dieser Beziehung heraus.»24 Genau das ist die ursprüngliche Haltung der Moralität.

Frage. Sie behaupten, dass sich das Problem der Intelligenz angesichts der Wirklichkeit in der Episode von Johannes und Andreas im 1. Kapitel des Johannesevangeliums zeigt, als sie Jesus folgen, auf den der Täufer verwiesen hat. Und dann sagen Sie, dass das Fundament der wahren Moral im 21. Kapitel bei Johannes steht, als Christus den Simon Petrus fragt: «Liebst du mich?» und er antwortet: «Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebe.»25 Könnten Sie diese beiden Dinge noch einmal erklären?

Giussani. An der Stelle wollte ich die wahre Bewegung des Menschen, den Christus in die Welt gebracht hat und der für jeden erfahrbar geworden ist – wenn jemand dazu berufen ist, das zu erfahren –, ganz einfach in zwei Punkten zusammenfassen (Joh 1 und Joh 21). Denn das, was nicht in der Gegenwart, in der gegenwärtigen Erfahrung vorhanden ist, etwas, das nicht in irgendeiner Weise Teil der gegenwärtigen Erfahrung ist, existiert nicht. Nur eine Erfahrung in der Gegenwart, nur eine Erfahrung von dem, was ist, kann als Sein gelten. Unser Unbehagen besteht deshalb religiös gesprochen darin, dass wir das Christentum nicht als eine gegenwärtige Wirklichkeit in der gegenwärtigen Erfahrung wahrnehmen; während wir zum Leben von einer gegenwärtigen Erfahrung ausgehen und alles von daher beurteilen. Das, was keine Gegenwart in der Erfahrung ist, existiert nicht. Es muss auf irgendeine Art und Weise präsent sein, wenn es ist. Selbst wenn es der entfernteste Stern wäre, würde er doch, ohne dass wir ihn sehen könnten, in meine persönliche Situation der Gegenwart ein Licht werfen, er würde uns die Möglichkeit einer Sicht auf die Dinge erahnen lassen, die wir sonst nicht hätten.
In den zwei Punkten wollte ich all das zusammenfassen, was Christus uns gebracht hat und zu welcher Erfahrung wir im Hinblick auf den realen Wert der Person Christi und damit im Hinblick auf den realen Wert des Geheimnisses Gottes gerufen sind, das in unsere Welt gekommen und jetzt gegenwärtig ist, hier und jetzt, diese Barmherzigkeit – würde der Papst sagen – , die in der Geschichte einen Namen hat: Jesus Christus.
Wie hat es begonnen, wo in Literatur und Geschichte wird erzählt, wie das Problem Christi in der Welt aufgetaucht ist? Wie hat die Gegenwart dieses Problems in der Welt begonnen? Wenn wir darauf schauen, können wir uns bewusst werden, was wir in der Gegenwart tun müssen, was wir in der Gegenwart brauchen, um es verstehen zu können. Christus kann kein abstrakter Name sein. Aber er ist ein abstrakter Name, wenn er nicht der Erfahrung entspricht, die wir machen. Da er in unsere Welt eingetreten ist – das Christentum ist die Verkündigung, dass Gott Mensch geworden ist, in unsere Erfahrungswelt eingetreten ist –, gibt es etwas, was in unserer Beobachtung fehlt, was in unserer Aufmerksamkeit fehlt. Wir blenden das vorher aus, löschen es hartnäckig aus, wir zensieren es, um zu den Leuten von heute zu gehören.
Der erste Augenblick, in dem das Problem sich in der Welt, in der Geschichte – historisch und chronologisch gesehen – gestellt hat, war, als zwei Galiläer zu Johannes dem Täufer gingen, um ihn sprechen zu hören. Den Täufer kannten damals alle in der jüdischen Welt, was auch andere, heidnische Quellen neben dem Evangelium belegen. Nach 150 Jahren gab es zum ersten Mal wieder einen Propheten. Jedermann ging zu ihm hin: Freunde, Feinde, Pharisäer, Volk. Die beiden Galiläer gingen zum ersten Mal dorthin, um ihn sprechen zu hören. Stellt euch vor, wie sie dort mit offenen Augen vor ihm standen, voller Staunen und betroffen, als sie ihn sprechen hörten. Sie verstanden nicht alles, was er sagte, aber es berührte sie, sein Gesicht, seine Stimme, das, was er sagte. In einem bestimmten Augenblick sahen sie, als sie ihn beobachteten, wie er einen jungen Mann anstarrte, der sich entfernte, der rechts vom Fluss den Weg nach Norden nahm. Plötzlich rief er laut: «Seht, der hinwegnimmt die Sünden der Welt.» Die Leute achteten normalerweise nicht weiter auf solche Ausbrüche; sie waren es gewohnt, dass zwischendurch unverständliche Sätze aus ihm herausbrachen, die in keinerlei Verbindung zu dem standen, was er vorher gesagt hatte oder danach sagen sollte. Aber diese beiden, die gesehen hatten, wen Johannes dabei angeschaut hatte, folgten diesem Mann, diesem jungen Mann. Und, da sie nicht wagten, sich ihm zu nähern, folgten sie ihm mit etwas Abstand. «Er hörte, wie sie ihm folgten. Da drehte er sich auf einmal um und sagte: „Was wollt ihr?” „Rabbi, wo wohnst du?” „Kommt und seht!” Und sie gingen zu ihm nach Hause und blieben den ganzen Tag bei ihm. Es war etwa um die zehnte Stunde (vier Uhr nachmittags)», genauer sagt es Johannes nicht. Sofort danach heißt es im Evangelium weiter – ohne einen weiteren Zusammenhang, wie man es bei Notizen macht, wie es jemand macht, der sich in einem Notizbuch Notizen zu den vergangenen Tagen macht; es waren Notizen von einem der beiden, der inzwischen alt geworden war, von Johannes: «Sie kehrten nach Hause zurück und Andreas sagte dem Ersten, dem er begegnete, und zwar seinem Bruder, der vom See kam, weil er fischen gegangen war: «Wir haben den Messias gefunden.»26 Er begründet es nicht gleich, er sagt nicht, was der Messias gesagt hat, «wie» er es bewiesen hat, nein! Stellt euch die beiden vor, wie sie dasaßen und ihn anschauten, während er redete, und er sprach in einer Weise, wie «noch niemand gesprochen hatte». Sie waren so getroffen von der Außergewöhnlichkeit dieses jungen Mannes, dass ihnen der Atem stockte. Als sie sich auf den Heimweg machten, sprachen sie kein Wort miteinander. Stellt euch die beiden vor, wie sie nach Hause zurückkehren, schweigend. Andreas betrat sein Haus, wo seine Frau und seine Kinder waren, und seine Frau sagte zu ihm: «Aber was hast du? Du bist irgendwie anders. Heute Abend bist du irgendwie anders!» Und er antwortet ihr nicht, und womöglich hat er sie umarmt, ohne etwas zu sagen; und sie hat sich ihr ganzes Leben lang noch nie so umarmt gefühlt. Und sie sagt zu ihm: «Aber, was ist dir passiert?» Er wird ihr gesagt haben, was er dann seinem Bruder Simon gesagt hat: «Wir haben einen Menschen kennen gelernt, der behauptet, der Messias zu sein.» Er hat ihr sicherlich auch einige Worte gesagt, die er von Ihm gehört hatte: «Wenn ich diesem Menschen nicht glauben sollte, könnte ich nicht einmal meinen eigenen Augen trauen, ich könnte niemandem mehr Glauben schenken: Ich bin jetzt ein anderer, ich bin ein anderer geworden!» Mein Gott, wie wahr das ist! Wie viele von euch könnten das sagen: «Ich bin ein anderer geworden. Nicht: „Ich war blind, aber jetzt sehe ich wieder!” Nicht: „Ich war lahm, aber jetzt gehe ich!” Ich bin nicht mehr der, der ich war: Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll ...»
Stellt euch das vor nach Wochen, in denen sich diese Unterredung wiederholte, und nach Monaten, die sie nicht nur mit ihm gesprochen, sondern auch mit ihm zusammengelebt hatten. Sie waren Zeugen all dessen, was er sagte, all dessen, was er tat, sie verbrachten Tage, Wochen, ohne auch nur ein Wort zu sagen, weil ihre ganze Aufmerksamkeit von dieser außergewöhnlichen Präsenz, von dieser geheimnisvollen Präsenz in Anspruch genommen war. Bis drei oder vier Monate später dieser Abend kam. Er ging mit ihnen fischen; abgesehen davon, dass er sich tagsüber mit ihnen unterhielt, ging er abends mit ihnen zum Fischen. Es kam jene Nacht, von der wir vorher schon gesprochen haben. Bei Morgendämmerung drohte das Boot durch den Sturm zu kentern und dieser Mensch «gebot dem Wind und dem Meer und es trat völlige Stille ein», so dass sie zueinander sagten: «Wer ist dieser?» So ist das christliche Problem in der Welt entstanden, auf diese präzise Weise: zu einer ganz bestimmten Zeit und an einem ganz bestimmten Ort. Daraufhin gelangte es dann zu den Freunden, denen sie es sagten, zu den Familienangehörigen, denen sie es sagten, zu den Freunden aus dem Dorf, denen sie es sagten; und viele von ihnen liefen zu ihm, um ihn sprechen zu hören und sie riefen wie die Samariterin aus: «Jetzt sage ich das, was du gesagt hast. Ich sage das, weil ich es gesehen habe, weil ich es gehört habe: „Keiner hat je so gesprochen”. Auch ich kann es nun selber sagen: „Keiner hat je so gesprochen”». Von einem über den anderen gelangte es wieder zu jemand anderem und dann noch weiter, bis ich davon erfahren habe. Dieses Ereignis ist bis zu mir vorgedrungen, bis zu dir, bis zu euch: Es ist hier! Und ich schwöre euch, dass wir alle vergehen werden und Er immer noch unter denen sein wird, die hier Mathematik oder Philosophie studieren werden oder auch einer Rede über Ihn beiwohnen werden. Es ist dasselbe – vollkommen dasselbe! Jetzt werdet ihr nach Hause gehen und ihr werden das nicht leugnen können. Ihr könnt es leugnen, indem ihr nicht daran denkt. Aber wenn ihr daran denkt, kapiert ihr nichts, bittet aber: «Gott, wenn es dich gibt, dann zeig dich mir», in der verzweifelten und bewussten Haltung des Ungenannten (Figur aus den Verlobten von Manzoni, A.d.Ü.); oder noch einfacher: «Herr, mach, dass auch ich etwas verstehe! Herr, komm auch zu mir herein, in mein Haus, denn ich verstehe, dass die Welt, der Friede der Welt, die Güte der Welt, der Geschmack an der Welt, die Freude im Leben von der Veränderung abhängen, die Du bringst.» Denn es gibt keine Partei, keinen Staatspräsidenten, keine amerikanische Währung, keinen Fall der Berliner Mauer, keinen Angriff auf Osteuropa von Seiten Westeuropas, keinen Sieg der Japaner oder der Chinesen, es gibt nichts auf der Welt, was den Menschen verändern könnte. Aber diese Gegenwart schon. «Ich bin nicht mehr so wie vorher: ich bin wie vorher, aber ich bin nicht mehr der von früher; Herr, ich sehe Dinge, die diese Leute nicht sehen: öffne auch ihnen die Augen.» Man kommt nicht daran vorbei, so etwas zu sagen. Man sagt so etwas nicht, weil man ein Schwärmer ist, sondern weil es wahr ist – weil es wahr ist! Denn, wenn ihr Kinder habt, was gebt ihr ihnen dann, wenn nicht das? Warum bringt ihr sie auf die Welt? Ja, es ist schon fast normal geworden, dass man den Eindruck hat, es sei unvernünftig, Kinder auf die Welt zu bringen. Warum? Weil es kein «Warum» gibt. Seine Gegenwart kann einem dieses «Warum» des Lebens wiederschenken.
Der zweite Punkt (Joh 21) verdient – analog zu dem eben ausgeführten – eine noch aufmerksamere Reflexion, die wir ein andermal angehen werden.

Frage: Ich möchte verstehen, warum Sie sagen, man müsse die unmittelbare Reaktion opfern, um die Erfahrung des Hundertfachen zu machen. Auch die Erfahrung des wahren Besitzens erfolge durch ein Loslassen. 27

Giussani. Normalerweise sage ich meinen Freunden, dass man keine wahre Beziehung mit etwas beziehungsweise mit jemandem anknüpfen kann, wenn man dabei kein Opfer in Kauf nimmt. Stell dir Folgendes vor: Um eine wahre Beziehung zwischen mir und dir anzuknüpfen, soll man diese sechs Meter Abstand überwinden. Während ich diese sechs Meter gehe, erscheint bei jedem Zentimeter etwas, der Schein von Dingen, der eine Einladung an mich darstellt. Wenn ich dort verweile, komme ich nicht mehr zu dir. Wenn ich dort verweile, der Einladung dieses Scheins folge, verirre ich mich und erkenne nicht mehr den Weg. Wenn bei jedem Zentimeter ein Scheinbild hervortritt, muss ich mich von diesem Scheinbild trennen, um zu dir zu kommen. Den Schein aufzugeben, sei es auch ein schmerzlicher, ist für den Menschen immer ein Opfer, ein Schmerz. Sich von dem Schein zu trennen: Der Schein besitzt immer eine Art Klebstoff, der dich aufhält, der dich in schlechter, guter oder auch glücklicher Weise aufhält; aber es handelt sich um eine falsche Gegenwart. Der Schein ist eine falsche Gegenwart. Deshalb, weh demjenigen, der darauf die Zukunft gründet! Es ist das Gegenteil der Hoffnung, die Ursache der Enttäuschung. Der Schein ist Ursache der Enttäuschung. Wenn ich meinen Blick auf etwas Sicheres – Gewisses! – richte, auf etwas ganz Zutreffendes: Dass du da bist und dass ich, um zu dir zu kommen … wie ein Junge, der zu seiner Freundin gehen möchte, weil er weiß, dass sie etwas Gutes darstellt, dass dies richtig ist, dass er sie liebt – mag sein, dass er gerade einen Fehler begangen hat, aber er ist sich seiner Liebe gewiss und weiß, dass seine Fehlerhaftigkeit etwas Vergängliches ist. Dieser Junge muss sich von all dem trennen, was sein Arm packt und ihn aufhält. Alle Dinge packen seinen Arm und halten ihn auf. Er muss sich davon losreißen und weitergehen, sich losreißen und weiter. Und wenn er dann vor dem Gesicht der Freundin ankommt, zieht ihn dieser Schein – denn auch dies ist Schein – hundert Millionen Mal mehr an als alles andere. Wenn er sich aber auf sie stürzen würde, seinem Drang danach folgen würde, würde er alles kaputtmachen. Wenn er sich auf sie stürzen und sie greifen würde, wäre dies eine Art … also ja, eine Besitzergreifung. Der Besitz verwandelt dich, verrät dich, wandelt deine Gestalt in die einer tierischen Pfote um, in eine Pfote, die zerreißt – wie ich vorher sagte – «zerkratzt», nämlich das Gesicht der anderen. Zwei oder drei Jahre später ist es nicht mehr wie früher! Denn das, was dieses Gesicht in dir hervorgerufen hatte, stirbt. Mit Christus, in der Nachfolge Christi wuchs hingegen in den Aposteln Tag für Tag das an, was in ihnen wachgerufen worden war. Es wächst, es wächst so, dass es auch mich nach 2000 Jahren mit Rührung erfüllt. Er ist da. Er ist hier und jetzt.

Deswegen kann man keine Beziehung weder auf der Ebene der Erkenntnis noch auf derjenigen der Zuneigung zu einer Sache oder zu einer Person anknüpfen, ohne ein Opfer in Kauf zu nehmen, ohne sich von etwas, von einem Anschein loszureißen. Etwas, was hinter dem Schein steckt, soll emporsteigen, konkret werden, soll dich verändern, dich von deinem Anschein entreißen, das Spiel umwerfen. Dann kannst du wahrlich eine Familie gründen. Du kannst auf eine wahre Art und Weise eine Familie gründen. Stell dir dich selber abends vor, und zwar nicht in dem Augenblick, in dem du mit deiner Frau ein Ave Maria betest (man tut es oft nicht), sondern während du dich im Bett umdrehst und daran denkst: Auch der heutige Tag war voller Widersprüche und Unbehagen. Nur etwas hält dabei stand: das Gedenken an etwas, ein bestimmtes Bild, das Bewusstsein einer Gegenwart. Denn das Gedächtnis ist das Bewusstsein einer Gegenwart: Die Anwesenheit von etwas, was in der Vergangenheit angefangen hat (deswegen nennt man es «Gedächtnis»), was aber bis in die gegenwärtige Zeit vordringt. Dies läutert deine Gedanken und lässt die Hoffnung emporsteigen. Das, wofür du geschaffen worden bist, wofür du deiner Frau begegnet bist, weswegen du ein Kind zur Welt gebracht hast. All das wird siegreich sein. Es ist dazu bestimmt, dank der Kraft eines Anderen, der Kraft des Seins, zu siegen. Du hast dir nämlich dein Leben nicht selber gegeben. Auch deine Frau hast du nicht geschaffen. Dein Kind ist nicht dein Besitz: Alles gehört einem Anderen. Wenn du an denjenigen denkst, dem all dies gehört, der so gegenwärtig ist, dass er in genau diesem Augenblick deinen Körper schafft – erinnert ihr euch an das zehnte Kapitel des ersten Bandes des Seminars der Gemeinschaft, Der Religiöse Sinn28? Lest es noch einmal. Dieses Kapitel stellt ja eine Herausforderung für jedes andere Buch dar. Dies ist keine Überheblichkeit von mir. Es handelt sich eher um Einfachheit. Christi zu gedenken, läutert dich. Dann sagst du: «Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade ...», «Möge ich neu geboren werden, so wie der Mensch gewordene Gott von dir, aus deinem Schoß geboren wurde.» So findest du den Frieden wieder.
Das Opfer erlaubt dir nicht, die Wirklichkeit zu vergessen, es umarmt alles und mündet in die Freude, manchmal mündet es in die Freude. Es ist beeindruckend, dass dieses das letzte von Christus zu den Aposteln gesagte Wort ist – zu den Aposteln, das heißt zu allen Menschen. Vor seinem Tod, gegen Ende jener schrecklichen Nacht, jenes schrecklichen Abends, von dem vier Kapitel des Johannesevangeliums berichten: «Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch ist und damit eure Freude vollkommen wird»29 Fordern wir dies heraus, überprüfen wir, ob dies wahr ist, ob diese Freude möglich ist! Aber dabei sollen wir unsere Lebenserfahrung so leben, wie Christus sie uns geschildert hat! Indem wir unsere Lebenserfahrung so leben, wie er sagt, bleiben wir immer noch arme Schlucker wie alle anderen: Menschen, die niemanden beurteilen, weil sie sich der eigenen Begrenztheit bewusst sind. Menschen, die aber die Möglichkeit der Freude erfahren, einer Freude, die gewöhnlich im Alltag laetitia heißt: «Durch die Freude in ihren Herzen wird es offenbar sein, dass ich Gott bin.» Das Wort laetitia sollte aus allen Wörterbüchern gestrichen werden, weil die Möglichkeit einer solchen Freude im durchschnittlichen Menschen nicht da ist. Man kennt die Fröhlichkeit, die Gedankenlosigkeit, aber nicht die laetitia, geschweige denn die höchste Freude. Diese ist nur im Lichte Christi möglich, dank der Gewissheit, die uns Christus bringt. Ich habe mich in dem Wortschatz des Buches ausgedruckt.

Bevor wir diese Versammlung abschließen, möchte ich einen Auszug aus einem Dialog zwischen mir und Studenten vor ein paar Wochen in Cervia vorlesen. Zu Beginn haben wir die Sevillanas del adios gesungen. Lernt es, denn es ist sehr schön. Der Text lautet: «Etwas stirbt in der Seele, wenn ein Freund weggeht … Wenn ein Freund weggeht und eine Spur hinterlässt, die man nicht verwischen kann. Geh noch nicht weg, bitte geh nicht, geh noch nicht, denn meine Gitarre weint, wenn sie Abschied nimmt. Ein Augenblick der Stille zum Zeitpunkt der Abfahrt, denn es gibt Worte, die wehtun und die man nicht aussprechen kann. Das Boot wird kleiner, während es sich auf dem Meer entfernt. Während es sich auf dem Meer entfernt und am Horizont verschwindet, wie groß ist da die Einsamkeit! Der Freund, der weggeht, ist wie ein Brunnen ohne Grund, den man nicht auffüllen kann.»30 Also, stellt euch diese Leute, diesen Mann vor, der am Kai steht und sich vom Freund verabschiedet, der sich mit einem kleinen Boot entfernt. Er fährt fort, weiter fort, bis er am Horizont verschwindet. Er verschwindet am Horizont und die Linie des Horizontes kann man nicht erreichen, den Brunnen kann man nicht füllen. Man steht alleine da. Das Christentum ist das Gegenteil davon: Der Mensch steht da am Kai alleine, aber er wartet, denn alles in ihm ist Erwartung. Und da erscheint ein Punkt am Horizont – ein Punkt, der sich dem Ufer nähert. Er wird immer größer und größer ... es handelt sich um ein Boot, in dem allmählich auch der Schiffer zu erkennen ist. Man erkennt die Umrisse des Schiffers. Das Boot kommt immer näher ... es legt am Ufer an. Derjenige, der im Boot war, umarmt den Menschen, der am Kai stand. «Ein Punkt am Horizont, an der Horizontlinie erscheint: Es ist dieses Boot. Dieses barquiño ist ein Punkt und wird immer größer; in den Augen eines aufmerksamen Menschen, der auf ihn schaut, wird er immer größer, bis man auch die Einzelheiten im Inneren des Bootes erkennt. Man erblickt im Boot einen Menschen, den Schiffer. Das Boot nähert sich dem Ufer, legt an und der Mensch, der wartete, umarmt den Menschen, der ankommt. So entsteht das Christentum: Wie ein Mensch, der wartet und den Menschen umarmt, der aus dem ansonsten bis dahin unbekannten Horizont ankommt». Der Mensch, der ankommt, ist Gott, der Mensch geworden ist. 31

Tantardini. Danke.

1 L. Giussani, Kann man so leben?, Sankt Ulrich Verlag, Augsburg 2007, S. 18.
2 Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, III, 40, 30.
3 L. Giussani, Kann man so leben?, op. cit., S. 34-35.
4 Ibidem, S. 35.
5 Ibidem, S. 41.
6 Joh 6, 68.
7 Mt 8, 23-27; Mk 4, 35-41.
8 Joh 10, 24.
9 Mt 7, 11; Lk 11, 13.
10 L. Giussani, Kann man so leben?, op. cit., S. 134.
11 1Petr 3, 15.
12 Lk 7, 11-17.
13 L. Giussani, Kann man so leben?, op. cit., S. 245-253.
14 J. Huizinga, Der Herbst des Mittelalters, Stuttgart 2006.
15 M. Erbetta (Hrsg.), Gli apocrifi del Nuovo Testamento, I/1, Scritti affini ai Vangeli canonici, composizioni gnostiche. Materiale illustrativo, Marietti, Casale 1975, S. 101.
16 H. Ibsen, Peer Gynt, Stuttgart 1978, S. 146.
17 R.M. Rilke, «Die Zweite Elegie», in: Die Duineser Elegien, Einaudi, Torino 1978, S. 12.
18 Gen 32, 23-32.
19 1Kor 10, 31.
20 L. Giussani, Kann man so leben?, op. cit., S. 164.
21 Ibidem.
22 Ibidem, S. 189.
23 Ibidem, S. 164-165.
24 L. Giussani, «Moralità: memoria e desiderio», in: Alla ricerca del volto umano, Rizzoli, Milano 1995, S. 235.
25 L. Giussani, Kann man so leben?, op. cit., S. 215 .
26 Joh 1, 35-41.
27 L. Giussani, Kann man so leben?, op. cit., S. 318-319.
28 L. Giussani, Der Religiöse Sinn, Paderborn 2005, S. 121-131.
29 Joh 15, 11.
30 Sevillanas del adios, in: Canti, Cooperativa Editoriale Nuovo Mondo, Milano 2002, S. 269-271.
31 L. Giussani, Realtà e giovinezza. La sfida, Sei, Torino 1995, S. 80.