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Kunst /Trento Longaretti
Das Geheimnis des Lebens auf Leinen
Jonah Lynch

Er erinnert an Chagall und nimmt in seinen Werken zahlreiche Stränge der Tradition auf. Die Stadt Follonica hat dem 90-Jährigen bergamaskischen Künstler Trento Longaretti eine eigene Werkschau gewidmet. In seinen Bildern spiegelt sich eine heitere Melancholie, die auf seinen tiefen Glauben verweist.

Vor Jahren sah ich im Haus von Don Massimo Camisasca zum ersten Mal ein Gemälde von Trento Longaretti. Das Thema und die Farben hatten mich fasziniert; etwa das lebendige Violett des Rockes einer Frau, die unter einem blassen Mond ein kleines Kind im Arm hielt. Der Stil zog mich an und erinnerte zugleich an Chagall. Die Frau erschien mir wie eine Madonna, bis ich entdeckte, dass sie „Mutter“ betitelt war. Kürzlich besuchte ich den Künstler zusammen mit Don Massimo Camisasca in Bergamo Alta. Er empfing uns in seinem schönen Haus, das voller Gemälde und Bücher war. An den Wänden eine Sammlung der größten Künstler des 20. Jahrhunderts, und im lichtdurchfluteten Studio auf drei Staffeleien die neu entstehenden Arbeiten.
Die Werke von Longaretti berühren einen wegen ihrer Demut, und gerade deswegen versprechen sie ein langes Leben. In ihnen entdecken wir Verweise auf viele große Künstler, aber trotz großer Ähnlichkeiten gibt es weder den Stolz eines Modigliani noch die immer undurchdringlichen Träume Klees und auch nicht den Rationalismus, der die späten Werke eines Kandinsky erstickt.
Longarettis Werke offenbaren einen bescheidenen und warmherzigen Mann in den Neunzigern mit einer außerordentlichen Vitalität, die fähig ist, durch die Malerei die Geheimnisse des wirklichen Lebens auszudrücken.

Phantasie und Wirklichkeit

Wie die Gemälde Chagalls so entstehen auch Longarettis Bilder aus einer Phantasie, die Erinnerungen und unwahrscheinliche Landschaften mit lebenden und geliebten Personen verbindet. Gelegentlich sind die Figuren mit einer Flüchtigkeit behandelt, die die Abstraktion aufscheinen lässt, niemals aber verlieren sie den festen Bezug zur Wirklichkeit. Die Themen sind einfach, entwickelt in immer neuen Variationen, ohne jedoch mit der stilistischen und thematischen Kontinuität zu brechen. Tradition und Innovation leben friedlich miteinander, denn die Experimente führen den Maler nicht von der Wurzel seiner Kunst weg, die in der Kontemplation der grundlegenden Begriffe des Lebens besteht. Die Familie, der Alte mit seinem Enkel, die Mutter, die sich für den Sohn freut oder leidet, die Wanderer, die Straßenmusikanten.... Diese Themen, quasi Archetypen der Menschheit, wiederholen sich im Laufe seines langen Lebens.
Der Künstler sagt dazu: «Ich habe eine sehr hohe Meinung von der Familie. Wir waren dreizehn Geschwister, zusammen mit den Eltern also fünfzehn. Eine ganz schöne Mannschaft! Einer ist früh gestorben, vor meiner Geburt. Er hieß Trento, und als ich dann auf die Welt kam, habe ich seinen Namen bekommen. In meinen Werken gibt es Themen, die immer wieder auf die Familie verweisen, auf die Mutter oder den Alten mit Kind. Das Leben endet nicht. Das Kind wird alt werden und selber ein Kind haben, das ihn begleitet. Die Kontinuität des Lebens eben. Wie Sie sehen, gibt es in meiner Malerei keine Verzweiflung, nur Melancholie.»

Italien mit dem Fahrrad

Es ist die Melancholie dessen, der viel gesehen hat: mit zwanzig Jahren hat Longaretti das Italien der dreißiger Jahre mit einem Freund durchquert, begleitet von einem Heft, das sich mit Zeichnungen füllte. Eines Tages im August erreicht er Pescara. Er hält in seinem Tagebuch fest: «Bin zum Fischerhafen gegangen, um Mädchen zu zeichnen. Am Strand lag ein Toter, verlassen wie ein Hund. Er war ein unbekannter Ertrunkener, mit Lumpen bedeckt. In der Nähe standen lachende Mädchen.» Wenige Jahre später ist er in den Krieg nach Slowenien, Sizilien und Albanien gezogen. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm er seine Tätigkeit als Maler wieder auf, das Herz schon angefüllt mit der Erinnerung an leidende Menschen, die er auf der Straße getroffen hatte.
Mit den Augen seines klaren und reinen Glaubens, der von der Gegend um Bergamo geprägt ist, hat er viel gesehen. Deshalb scheint der Ausdruck „heitere Melancholie“ passend, mit dem Alberico Sala die Werke beschreibt. Es ist die Melancholie dessen, der die Grenze der Welt sieht und die Härte des Lebens kennt, zugleich aber auch die Heiterkeit dessen, der weiß, dass alles einer guten Bestimmung anvertraut ist. Die Darstellung ernster Themen wird dadurch leicht und zugänglich, ohne die Last einer Ideologie oder die Distanz eines unpersönlichen, anschuldigenden Blickes.

Ein rechtschaffener Blick

Vielleicht ist es gerade diese Anteilnahme des Künstlers, die sein Werk so überzeugend macht. So schreibt Carlo Pirovano aus Anlass des 90. Geburtstages des Meisters: «Der Künstler hat sich schon völlig mit seinen Hauptdarstellern identifiziert; ein einfacher Wanderer; ohne Arroganz vertrauend.»
Was sein Freund und Lehrer, Aldo Carpi, an der Akademie Brera in Mailand vor 50 Jahren über ihn schrieb, entspricht nicht nur einer genauen Wahrnehmung des Künstlers, der den Beginn seiner reifen Schaffensphase erreicht hatte, sondern ist gleichsam der Plan eines ganzen Lebens: «Ich glaube, dass seine gesamte Ausdrucksfähigkeit unmittelbar und nur aus der Einfachheit seines Herzens erwächst, aus dem klaren, rechtschaffenen Anschauen und Betrachten der Menschen und Dinge; er schreitet wie ein Wanderer auf dem langen Weg der Kunst und des Lebens, und meidet jede leere Erscheinung, jede Torheit und Einbildung.»(*)

(*) In Zusammenarbeit mit Massimo Camisasca