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Glaube und Kultur
Herr Xiao und seine Freunde
Massimo Camisasca

Die Priesterbruderschaft der Missionare des heiligen Karl Borromäus leitet eine Pfarrei in Taipeh. Viele Menschen begegnen durch sie erstmals dem Christentum, wie zu Zeiten des Völkerapostels Paulus. Für den 83-jährigen Xiao Bei mit seiner bewegenden Lebensgeschichte ist ihre Präsenz ein Grund, aus tiefstem Herzen «Danke – Sheng Fu» zu sagen.

Wenn er kommt, erkennt man ihn sofort am metallenen Geräusch seines dreifüßigen Gehstocks. Er hat ihn immer dabei, schleppt ihn von hinten in der Kirche bis in die vorderste Bank. Dort setzt er sich hin, weil er sonst nichts verstehen würde. Xiao Bei Bei, ein ehemaliger Soldat unter General Chiang Kai Shek, ist 83 Jahre alt und inzwischen fast taub. Wie seine Gehhilfe so schleppt auch er eine lange Geschichte mit sich. Er ist weit herumgekommen in seinem Leben, das im Herzen der Weite Chinas begann, noch zu einer Zeit, als man weder von Mao Tse Dung noch vom Kommunismus sprach. Er hat sie alle erlebt: erst die «Herren des Krieges», dann die japanischen Invasoren, schließlich die Kommunisten, die ihn 1949 zwangen, zusammen mit seinem Kommandanten und dem ganzen Heer nach Taiwan zu gehen. Seitdem lebt er von Erinnerungen an seine Heimat, die er nie mehr wiedergesehen hat. Eine Erinnerung übertrifft alle anderen: die Erinnerung an die Kindheit. Damals kam dieser groß gewachsene, freundliche Fremde, der ihm und seinen Freunden Englischunterricht gab. «Ich mache das nicht für Geld, ich gebe euch gratis Unterricht», hatte er gesagt, «aber unter der Bedingung, dass ihr euch fragt, warum ich eine so weite Reise unternommen habe, um an diesen verlassenen Ort Chinas zu kommen und euch Englisch beizubringen». Durch diesen Priester hat der kleine Xiao das Christentum kennen gelernt. Es war die Begegnung mit einem Fremden, der dir zum Freund und Weggefährten wird, der dir seine Sprache lehrt, aber dir vor allem beibringt, dass es etwas gibt, was noch älter ist als die Geschichte der großen Nation, älter als Fragen von Lao Tse und die Sprüche des Konfuzius. Es ist die Sehnsucht, die das Herz jedes Menschen leben lässt und auf die nur Christus eine Antwort geben kann.
Eines Tages beschloss dieser Soldat – er war gerade seit einigen Jahren in Taiwan – eine weite Reise anzutreten. Er machte sich mit dem Flugzeug in die Vereinigten Staaten auf, flog dort an die Ostküste. Dann lieh er sich ein Auto, fuhr auf irgendwelchen Straßen durch weite Schneefelder und kam an einen weniger bekannten Ort. Als der Priester, der mittlerweile in die Jahre gekommen war, ihn auf einmal dort sah, war er zutiefst gerührt: «Ich wusste, dass du mich irgendwann besuchen kommen würdest». Der Soldat sagte zu ihm: «Sheng fu (was soviel heißt wie Pater), ich habe diese Reise unternommen, um Ihnen nur eines zu sagen: Danke». Nun kommt Xiao Bei Bei jeden Morgen mit seiner Gehhilfe. Oft schafft er es nicht pünktlich zu sein, dann geht er langsam bis zur ersten Bank vor. Er hört dort wenig, und er sieht sehr schlecht. Um die chinesischen Schriftzeichen zu lesen, benutzt er eine dicke Lupe. Aber am Ende jeder Messe ist immer seine klare Stimme zu vernehmen: «Danke, Sheng fu!» Es ist so, als würde er jeden Tag neu jene Reise unternehmen und dem danken, der ihn das Wichtigste in seinem Leben hat kennen lernen lassen. Der amerikanische Priester ist nicht mehr da, deswegen dankt er nun den drei Priestern der Priesterbruderschaft vom Heiligen Karl Borromäus: Don Paolo Cumin, Don Paolo Costa, Don Emmanuele Silanos. Ihm ist klar, dass sie aus demselben Grund hier sind, der auch den Priester aus Amerika vor vielen Jahren nach China geführt hatte. Ihnen ist die kleine Gemeinschaft der Pfarrei des heiligen Franz Xaver am Stadtrand von Taipeh anvertraut. Daneben unterrichten sie Italienisch an der Universität. Sie treffen sich mit ihren Studenten, die keine Ahnung davon haben, wer Jesus ist, und übersetzen die Worte und die Methode Don Giussanis ins Chinesische. Und so beginnen Maura, Bruno, Veronica, Giuliana (das sind die italienischen Namen, die sie sich gegeben haben) und viele andere, sich Fragen zu stellen, die sie sich vorher nie gestellt haben und der ein oder andere beginnt, zur Messe zu gehen, wie Valeria und Caterina. Taiwan ist ein eigenartiger Ort voller Gegensätze. Politisch gesehen ist die Insel zweigespalten: die «Blauen» sind für eine Wiederaufnahme der Beziehungen mit «Mutter China», die «Grünen» träumen von einer Unabhängigkeit, die es wahrscheinlich nie geben wird. Wenn ich hier bin, habe ich den Eindruck, dass Taiwan immer abhängiger vom Kontinent wird. Und das verwundert einen nicht angesichts des Wirtschaftswandels in der Volksrepublik. Taiwan war in diesen Jahrzehnten ein großer amerikanischer Flugzeugträger unweit von China. Aber hat es heute noch dieselbe Berechtigung, die es vor dreißig oder vierzig Jahren hatte?
Die Religion der Taiwanesen ist ein Mix aus volkstümlichem Aberglauben, Taoismus, Buddhismus und konfuzianischer Weisheit. Aber das Wichtigste ist der Totenkult, die Verehrung der eigenen Vorfahren, was typisch für jede heidnische Religion ist. Auch Frau Gao kommt jeden Tag zur Messe. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und lehrt Deutsch an der Universität. Vor acht Jahren ist sie katholisch geworden, weil bei den Protestanten eine Verehrung der verstorbenen Vorfahren nicht erlaubt ist, bei den Katholiken hingegen schon. Aber ihre Beziehung zur Religion war immer ein wenig sentimental, individualistisch. Bis sie anfing, den Religiösen Sinn ins Chinesische zu übersetzen. Zunächst fand sie das Werk undurchsichtig, schwierig, dann hat sie entdeckt, dass kein Mensch je so direkt zu ihrem Herzen gesprochen hat.
Die Diözese Taipeh wurde 1952 gegründet, aber es ist, als wären wir noch in den Zeiten des heiligen Paulus, den Zeiten der Apostel, den Zeiten der Gründung der Kirche. Und so wie damals trifft das Christentum auf Heidentum und Aberglauben. Abgesehen von den Chinesen gibt es hier viele andere Ethnien und allein dreizehn Stämme von Ureinwohnern. Auch Mei Xiang gehört zu ihnen. Sie ist 30 Jahre alt, eine hübsche Frau und hat vor ein paar Jahren einen Mann eines anderen Stammes geheiratet. Er war katholisch, sie nicht. Ihre Großmutter war einst die Hexe des Dorfes. Zu ihr kamen die Leute, wenn sie sich an jemandem rächen wollten. «Du kannst den Mann heiraten», hatte ihr ihre Großmutter damals gesagt, «aber du darfst auf keinen Fall katholisch werden». Vor zwei Jahren ist Mei Xiang mit ihrem Mann und der Tochter nach Taipeh gezogen: «Ich fühlte mich oft schwach, war traurig. Ich sah meinen Mann und seine Familie, ihren Glauben, die Gewissheit, die sie hatten. Sie gaben mir die Kraft, die ich selber nicht hatte. Ich fragte mich, was bei ihnen so anders war. Eines Tages sagte mein Mann zu mir: Möchtest du mal mit in die Messe kommen? Sprich: komm und sieh!» So hat Mei Xiang Don Paolo und die Priester der Priesterbruderschaft kennen gelernt. Sie hat eine Familie entdeckt, die größer ist als die ihrige, wo man sich dabei hilft, die Schönheit und den Sinn des eigenen Lebens zu entdecken. Wie anders und weit entfernt war das doch von der Religion ihres Dorfes, der Religion ihrer Großmutter, wo Angst verbreitet wurde und man Flüche aussprach! So bat sie Don Paolo um die Taufe, die sie schließlich vor einem Jahr empfing. Ich habe mitbekommen, wie sie ein Zeugnis gab. Als sie sprach, weinte sie vor Rührung: «Auch wenn ich nicht besser bin als vorher, hat mein Leben jetzt einen Sinn, und das ist die Dankbarkeit für diese eure Familie, die mir eine neue Weise beigebracht hat, mich, mein Leben und das der anderen anzuschauen. Das möchte ich sagen: Gott sei Dank dafür, dass er mich diesen Personen hat begegnen lassen, und ihnen sei dafür gedankt, dass sie mich Ihn haben kennen lernen lassen.»
Jedes Mal, wenn ich auf meinen Reisen Leuten wie ihnen begegne, verstehe ich immer mehr, dass Jesus ein Wort für jeden Menschen auf der Welt hat. Er bleibt unverändert Er selbst und versteht es doch, zu jedem Menschen auf je eigene Weise zu sprechen. Der Gruppe unserer Freunde der Bewegung (Julie, Steve, Naomi, Claudia, Vincenzo, Simona, Eleonora …) erzählte ich, wie ich in den Nächten in Taiwan häufig wegen des Jetlags wach lag. Und um vier Uhr morgens hörte ich, wie die Leute die Marktstände aufbauten und die Tiere für den Verkauf auf dem Markt töteten. Unsere Pfarrei liegt inmitten dieses Marktes. Ich dachte an all diese Leute und die vielen anderen an diesem Ort und im weiten China, die nicht dem begegnet sind, auf das ich getroffen bin. Warum sind diese drei Freunde von mir hier? Warum bin ich hierher gekommen? Damit die Menschen in Taiwan dem begegnen können, dem ich begegnet bin. Weil es etwas Schmerzhafteres gibt, als mit dem Schmerz zu leben und zwar, wenn man lebt, ohne zu wissen, warum man lebt. Wir sind dazu berufen, die Stimme Jesu zu sein, die zu allen spricht, durch den Vorschlag, der uns in Bewegung gesetzt hat. Dieser Vorschlag zeigt sich in einer Ungeschuldetheit, die zu einer Geduld fähig ist, die die Geduld Gottes ist; und dieser Vorschlag erwächst vor allem aus Dankbarkeit für das, was uns begegnet ist. Es ist dieselbe Dankbarkeit und Ungeschuldetheit, aus der heraus dieser alte Priester aus den USA lebte. Und dieselbe Ungeschuldetheit ist es, die auch heute noch den alten chinesischen Soldaten bewegt. «Danke, Sheng Fu».