Logo Tracce


Nach der Abschlussprüfung
Was bin ich, wenn ich groß bin?
Paolo Perego

Karriere, Sehnsüchte, Neigungen … Die Berufung ist für die Jugendlichen, die sich nach einem Studium umschauen, ein berennendes Thema. Nach welchen Kriterien soll man vorgehen? Eine Gruppe von Abiturienten hat darüber mit Don Giorgio Pontiggia gesprochen. Dabei kamen Zweifel und Vorbehalte zum Vorschein. Aber auch ein klarer Vorschlag.

Die Frage der Berufung ist für die meisten Jugendlichen nicht einfach. Wenn sich die Mailänder Abiturienten Cecilia, Carlo, Giulia, Mariachiara, Giovanni, Massimo und Marco trafen, um darüber zu sprechen, zeigten sich einerseits Zweifel, zugleich aber auch der Wunsch, besser zu verstehen, was man tun soll, «wenn man groß ist», und welchen Kriterien man folgen soll. Daraus ergab sich die Idee, die Fragen im Gespräch mit Don Giorgio Pontiggia zu vertiefen. Dabei legten sie ohne Vorbehalte ihre ganze Freiheit und ihre Sehnsüchte in die Waagschale.

Cecilia: Bei der letzten Begegnung hast du gesagt, dass das Problem nicht in der Wahl als solcher besteht, sondern in einem Leben, das innerhalb des Horizonts der eigenen Bestimmung gelebt wird. Ich dachte mir: OK, das war’s dann wohl. Ich kann zwar etwas ersehnen: Studium, Heirat, Kinder bekommen. Was es aber bedeutet zu wählen, kann ich nicht sagen, weil man die Bestimmung im Kopf hat.

Pontiggia: Zum Glück hat es dir Gott nicht mit Worten gesagt, sondern es dir ins Herz geschrieben. Ihr seid euch nicht bewusst, dass die Bestimmung wie ein Same ist, dass der Mensch gleichsam ein Same ist. Im Samen ist alles enthalten, die ganze Entwicklung. Es braucht nichts anderes dazu. Die Bestimmung ist nicht etwas, das du dir aussuchst: Sie ist etwas, was dir gegeben worden ist. Sie ist die Erfüllung dessen, was das Herz ersehnt. Und folglich hat sie jeder. Das wahre Drama des Lebens besteht darin, zu verstehen, wer die Bestimmung ist. Wie es Oriana Fallaci sagte: Man kann an Gott glauben oder nicht, aber es ist arrogant, die Bestimmung zu beseitigen, weil die Bestimmung etwas Offensichtliches ist. Wir dürfen die Kreuzung, an der ihr jetzt steht und den Weg, den ihr einschlagen wollt, nicht vom Ziel trennen. Es gibt das Ziel. Die Kreuzung ist eine Anregung hin zum Ziel. Du musst das Ziel in der Kreuzung erkennen, andernfalls gehst du dorthin, wohin du selbst gehen willst. Wenn wir von Bestimmung sprechen, vom Geheimnis, dann sprechen wir vom Grund dessen, was wir leben. Das Ziel ist im Weg enthalten, es ist im Schritt enthalten, den du machst. Andernfalls ist es eine Sache, die du deinem Weg überstülpst, und bei der ersten Anstrengung wirst du dich fragen, wer dich dazu verpflichtet und wirst wahrscheinlich den Weg verlassen und etwas anderem folgen, das dich unmittelbar mehr anzieht.

Carlo: Du sprachst auch von Wegen, die «verpflichtendend» seien, von besonders bindenden Umständen. Gerade gestern musste ich gezwungenermaßen etwas Wichtiges tun. Bevor ich dorthin ging, habe ich gebetet, dass sich die Bestimmung in dem, was ich gleich tun würde, deutlicher zeigt und dass ich Zeugnis ablegen kann von dem, was ich lebe. Ich bin also dorthin gegangen und am Ende hat mich ein Junge – schon zum zweiten Mal – gebeten, ihn zum Treffen von CL einzuladen: Wir vermitteln offenbar eine Anziehungskraft und Schönheit, die dieser Junge sieht. Dies war nur das, worum ich gebetet hatte: dass sich die Bestimmung zeigt. Ich bin beeindruckt. Es war ein Umstand, den ich mir nicht ausgesucht habe, aber die Bestimmung war da.

Pontiggia: Don Giussani erklärte die Begegnung damit, dass man sich völlig auf eine andere Menschlichkeit einlässt, die einen anzieht, auf eine interessante menschliche Andersartigkeit. Was ist die andersartige Menschlichkeit? Es ist keine Form: Der eine studiert an der Universität und der andere betet den Rosenkranz, der eine geht zur Caritativa und der andere geht ins Fußballstadion ... Nein! Die interessante andersartige Menschlichkeit ist eine Art und Weise, die Bedürfnisse der eigenen Menschlichkeit anzugehen. Was beeindruckte die Leute, die Jesus begegnet sind? Diese Menschlichkeit: sie war anders, aber faszinierend. Anders als die herrschende Mentalität und mit einer besseren Antwort auf das, was der Mensch in jeder Sache sucht. Vor ein paar Tagen hat du mir einen anderen Freund vorgestellt (Andrea, der nicht von der Bewegung ist). Du hattest ihn zum Lernen in den Circolino mitgebracht. Obwohl ich ihn vorher noch nie gesehen hatte, erlaubte ich mir, ihn ein bisschen auf den Arm zu nehmen mit seinen Vorhaben, nächstes Jahr Psychologie zu studieren ... Als ich ihn später sah, sagte er zu mir: «Ich würde gerne einmal mit Ihnen reden.» Weil ich sympathisch bin? Nein! Weil ich ihm vorschlug, sein Bedürfnis in einer Art und Weise anzugehen, die sich von der herrschenden Mentalität unterscheidet. Eine andere Menschlichkeit, die anziehend ist, weil sie wahr ist, weil sie uns mehr entspricht.

Giulia: Mich hat beeindruckt, dass du, wie du sagtest, von klein auf zwölf Kinder haben wolltest und dass sich deine Sehnsucht dann auf eine ganz andere Art und Weise verwirklicht hat. Und dann das Beispiel vom Legostein: Du siehst einen wunderschönen Legostein und versuchst, ihn immer besser zu erkennen. Aber je mehr du ihn erkennst, desto mehr wünschst du dir, zu wissen, an welcher Stelle er sich einfügt. Es passiert oft, dass man eine Sache sieht, die einen äußerst stark anzieht. Aber wie schafft man es, den ganzen Plan im Kopf zu haben?

Pontiggia: Du musst der Sache, die dich anzieht, auf den Grund gehen. Wie kannst du einen Jungen, der dir gefällt, im Hinblick auf seine Bestimmung ansehen? Du musst ihn bis auf den Grund lieben. Wenn du versuchst, ihn bis auf den Grund zu lieben, dann entdeckst du, dass es da etwas gibt, das dir entgeht, das fehlt. Es gibt ein Fundament, das fehlt. Und dann wird die Sache noch interessanter. Es ist nicht so, dass es die Bestimmung gibt und dann noch ihn ... Sein Fundament ist die Bestimmung selbst. Das Problem besteht darin, sich nicht einfach so zufrieden zu geben. Ihn bis auf den Grund zu mögen, bedeutet, dass die Liebe, die du für ihn empfindest, für immer und für alles ist. Versuch es! Ich möchte sehen, ob du nicht dieses Missverhältnis wahrnimmst. Es ist die Bestimmung, die es dir ermöglichen kann, ihn «für immer» und «für alles» zu lieben.

Mariachiara: Wir müssen uns derzeit auf die dritte Prüfung vorbereiten. Deshalb hatten wir diese Woche in Frage gestellt, ob wir wirklich zur Caritativa gehen sollten. Ich habe mit einigen Freunden darüber gesprochen und mich dann schweren Herzens dafür entschieden, hinzugehen. Das Seminar der Gemeinschaft sagt, dass man sich von den eigenen Besonderheiten losreißen muss, um sich an etwas anderem zu orientieren ...

Pontiggia: Man muss sich nicht davon losmachen, sondern die eigenen Besonderheiten in Beziehung zu etwas anderem anschauen. Wenn du wie eine Verrückte lernst, machst du zwar die dritte Prüfung gut, aber du hast sie nicht in Verbindung zur Bestimmung, zum Ganzen gelebt ... Es ist nur ein Beispiel, aber was ist, wenn du vor der Prüfung stirbst? Und wir wissen, dass das passieren kann, denn einem unserer Freunde ist das passiert. Wenn er ins Leben zurückkehren würde, würde er dann darüber fluchen, gelernt zu haben, oder würde er uns sagen, dass auch das für die Bestimmung geschehen ist? Die Tatsache, dass ihr Angst vor etwas habt, ist eine Frage, die sozusagen, wie es Don Giussani sagen würde, mit den Sternen zu tun hat. Gestern Abend hatte ich eine Begegnung mit einigen Jugendlichen: Sie hatten schon alles geplant, was sie nach dem Abitur tun wollten. Sie hatten für die Ferien schon ein zweistöckiges Haus für zwanzig Leute gemietet und sammelten bereits Geld dafür. Ich blieb mit einem gewissen Unbehagen zurück: Gewiss ist das eine schöne Sache, aber darin war nichts von dem, was sie gerade lebten: Es war die «Erholung des Kriegers». Die Frage besteht niemals in der Form, sondern darin, wie diese Form entsteht.

Massimo: Aber was hat dieses andere Maß mit deiner Neigung zu tun?

Pontiggia: Es hat damit zu tun. Man muss die Neigungen akzeptieren, mit denen Gott dich geschaffen hat, einschließlich der scheinbar boshaften, das ist der Ausgangpunkt. Wenn sich jemand dagegen auflehnt, zerstört er sich. Die erste Tatsache besteht gerade darin, dass du nicht umhin kannst, von den Neigungen und Fähigkeiten auszugehen, die du hast. Und dann kommen die Zeichen der Zeit, die deutlich machen, was Christus und folglich auch die Kirche, brauchen, um sich zu zeigen. Vor einigen Jahren antwortete Don Giussani einigen Leuten, die ihm mehr oder weniger die gleiche Frage gestellt haben, über die wir gerade sprechen: «Wo wird Christus am meisten missachtet, wo hat der Mensch keinen Wert mehr? – Wenn er krank ist oder im Gefängnis sitzt.» Don Giussani antwortete so, um dann die Bedeutung zu unterstreichen, in diesen Bereichen zu arbeiten, etwa als Richter, Arzt oder Krankenpfleger. Wir preisen Gott genau dort, wo Er paradoxerweise am meisten an den Rand gedrängt wird, das heißt dort, wo der Mensch nicht geachtet wird. Die Ehre Gottes ist der Mensch, der lebt. Deshalb könnt ihr nicht umhin, von diesem Punkt auszugehen. Was ist das für eine Frage, die euch diese Möglichkeit eröffnet? Sie besteht darin, sich zu fragen: «Wie kann ich, so wie ich gemacht bin, dem Ganzen am meisten dienen?» Und mit diesem zweiten Aspekt verbindest du dann die geschichtlichen Umstände, in denen du lebst.

Cecilia: Du sprichst von der Neigung. Dabei kommt mir nicht «zur Ehre Gottes» in den Sinn, sondern «zu meinem Glück».

Pontiggia: Richtig. Dann frage dich, was dein Glück ist. Aber überspringe nicht die einzelnen Schritte! Hab keine Angst und nimm die Herausforderungen an, die dir begegnen; antworte auf sie. Ansonsten gehst du von einer Entgegensetzung aus: der Wahl zwischen der einen oder der anderen. Es ist so, als ob du mich fragtest, ob du nach Rom oder nach Turin gehen solltest. Ich würde dir sagen: «Was wirst du in Turin tun und was wirst du in Rom tun?» Langsam wirst du anfangen, zu verstehen, ob es für dich besser wäre, nach Turin oder nach Rom zu gehen. Der springende Punkt besteht darin, die Herausforderungen zu akzeptieren. Die Apostel haben es auch so gemacht. Wenn sie etwas nicht verstanden, regten sie sich auf. Aber wie antworteten sie? «Lasst uns weggehen!» oder «Wir gehen mit dir!»? Besser noch, es war Jesus selbst, der sie herausforderte wegzugehen. Aber es war eine Provokation, die ihnen die Gründe bewusst machte, die sie schon hatten.

Giulia: Ich würde gerne Krankenschwester werden und ich diskutiere darüber gerade mit meinen Eltern. Als ich mit meiner Mutter darüber sprach, sagte ich, dass das, was du mir sagst, wegen der Art und Weise, wie du es mir vorschlägst, mir mehr entspricht als ihre Ratlosigkeit darüber, ob ich nun lieber Krankenschwester oder Ärztin werden sollte ...

Pontiggia: Paradoxerweise könntest du, gerade auf Grund dessen, was du sagst, sogar etwas anderes machen. Wenn du diese Gründe, die du verstehst, nur leben kannst, wenn du Krankenschwester bist, dann heißt das, dass diese Gründe nicht völlig wahr sind. Es wird zu einer Vorentscheidung. Jesus endete schließlich am Kreuz. Aber der Grund, wofür er gelebt hat, wofür er lebte, wofür er Wunder gewirkt hat, war ein solcher, für den man sich auch kreuzigen lassen konnte. Es ist richtig, dass du deine Gründe nennst, dass du darum bittest, deine Wahl zu verstehen. Aber wenn die Gründe wirklich wahr sind, könntest du auch etwas anderes tun.

Giovanni: Mich hat dieser Appell beeindruckt: «Man muss dorthin gehen, wo der Mensch nichts gilt, wo Gott nicht beachtet wird» ...

Pontiggia: Achtung: Du musst von dir selbst ausgehen, aber dies bevorzugen. Es gibt zwar Orte, die zerstörter sind und an denen man tiefer verstehen könnte, wer Gott ist. Aber du sollst von dir selbst ausgehen. Die Zeichen der Zeit sind jene Einstellungen und Situationen, die dem Leben der Gesellschaft so sehr zuwider laufen, dass sie für denjenigen, der sie geteilt hätte, leichter Zeichen für etwas Größeres gewesen wären. Wenn du zur Cometa in Como gehst und diese Leute dort siehst, mit ihren 40 Kindern und allem anderen darum herum, dann fragst du dich doch, ob sie verrückt sind. Oder aber es muss etwas Größeres geben, das sie bewegt. Mehr noch, sie müssen weitermachen, wie es Don Giussani empfohlen hat, ohne ihren Arbeitsplatz aufzugeben: «Denn wenn ihr arbeitet, dann macht ihr diese Sache unentgeltlich, mit Gratuität.» Don Giussani hat das Wort «Gratuität» immer in Beziehung zur Bestimmung benutzt. Mit «Gratuität» heißt «gratis», umsonst: Du machst etwas und verdienst nichts daran. Der Grund, weswegen du dies tust, ist paradoxerweise die wichtigste Sache. Denn die Gratuität ist ein Synonym für das Unendliche und für die Bestimmung. Wenn darin nur eine Spur von Gewinn wäre, wäre es nicht mehr unendlich: Es wäre endlich. Die Bestimmung ist die absolute Gratuität, denn du kannst sie nicht besitzen, nicht du bist es, der sie bestimmt. Und ohne Gratuität kann man die Wirklichkeit nicht verstehen: Sie ist ein Verständnisschlüssel, nicht nur ein Moment davon. Es ist so, dass das Besondere angesichts des Ganzen interessant wird. Als ich im Priesterseminar war, benutzte ich als Stoßgebet einen Satz des heiligen Augustinus: «Gott! Durch den uns die geringen Dinge nicht verkleinern.» Das ist die Bestimmung.

Marco: Jedes Mal, wenn ich diese Dinge höre, entdecke ich mit wachsender Gewissheit, dass alles, was ich wähle, zu etwas gut sein wird. Und das bedeutet nicht, dass mir das einfach egal wäre, wie wenn ich sagen würde: «Ich wähle das, was eben passiert.» Es ist eine Gewissheit, auch im Zweifel ...

Pontiggia: Was du sagst ist zutreffend. Aber überspringt nicht die Vernunft! Der heilige Paulus sagt: «Für diejenigen, die den Glauben haben, trägt alles zum Guten bei.» Nehmt ihr den Glauben weg, dann trägt alles zur Illusion oder Depression bei. Don Giussani sagt, dass die Illusion eine Depression ist, die noch nicht bewusst als solche erlebt wird. Wenn die Dinge dann schlecht laufen, wirst du unvermeidlich deprimiert. Worauf beruht seine Behauptung? Auf einer Gegenwart, das heißt, auf dem Glauben.

„Du allein, Jahwe, lässt mich in Sicherheit wohnen.“ Die Entdeckung Christi als Zentrum von allem tilgt die Angst und lässt den Menschen die Fähigkeit einer umfassenden Beziehung mit allem erfahren: „Omnia vestra sunt, vos autem Christi, Christus autem Dei“ – „Alles gehört euch, ihr aber Christus und Christus Gott“.
Genauer gesagt führt diese neue Kultur eine äußerst dichte Auffassung vom Leben nach sich, ein Leben, das fortwährend beteiligt ist und sich keiner Verantwortung entzieht. Eine solche Beteiligung ist wirklich „Dienst“ in jedem Augenblick und jedem Wort („Ob ihr also esst oder trinkt...“): Dienst am Himmelreich, das heißt jenem Entwurf des Kosmos, für den Christus das Haupt der ganzen Wirklichkeit ist. Die Existenz eines jeden hat nur insoweit einen Sinn – das heißt sie ist nur insoweit –, als sie eine Funktion seines Reiches ist.
Diese Funktion ist vom Ideal selbst vorgesehen, welches das geheimnisvolle Zusammenspiel von allem festgesetzt hat. Jedes Bewusstsein ist in dem Maße eine solche Funktion, in dem es wahrnimmt, dass es für eine Aufgabe bestimmt ist: Diese Bewusstheit ist die Begegnung zwischen Gott und dem einzelnen Menschen – das Ereignis der Berufung.
Diese Begegnung erfolgt auf vollkommene Weise an dem Ort, der Christus ist: Die Berufung eines jeden Menschen ist ein Ereignis, das innerhalb der personalen und geheimnisvollen Wirklichkeit Christi stattfindet: „Sind wir doch ... geschaffen in Christus Jesus…“.
In der Wahrnehmung der eigenen Berufung, in der Nachfolge des Rufs, das eigene Leben anzunehmen, und im Verständnis der Existenz als Dienst am Ganzen beruht der lebendige Einsatz des eigenen Seins. Der Geist Christi hält einen dazu an, indem er die Kraft zum Anfang und zur Treue gibt.
An keinem anderen Punkt wie an diesem ist die moderne Lebensauffassung soweit vom Geist Christi entfernt. Die heutige Mentalität macht gewöhnlich den Nutzen, die Neigung oder die Bequemlichkeit des Individuums zum Kriterium, mit Hilfe dessen man die Zukunft beurteilt. Ob man sich nun für einen Weg entscheidet oder für einen Menschen, den man liebt, ob für einen Beruf, den man später ausüben will, oder einen bestimmten Studiengang – bei allem stellt der besondere Nutzen des Einzelnen das letzte Kriterium dar. Dies ist scheinbar derart einsichtig und selbstverständlich, dass ein Umsturz dieser Logik auch sehr vielen anständigen Menschen wie ein Affront gegen den gesunden Menschenverstand, eine Verrücktheit oder Übertreibung vorkommt. Auch von Erziehern, die sich als Christen empfinden, werden solche und ähnliche Vorwürfe erhoben wie auch von Eltern, denen daran gelegen ist, dass aus ihren Kindern „menschlich“ gesehen etwas wird. Ob es sich nun um Urteile und Entscheidungen im privaten oder öffentlichen Bereich handelt: Die Ratschläge für ein anständiges Leben, Ermahnungen und Tadel sind stets von dem Standpunkt aus diktiert, dem die Liebe zum Ganzen und die Sorge um das Himmelreich völlig abgeht und aus dem die Realität Christi verbannt ist. „Was kann das Ganze mir bringen? Wie kann man aus dem Ganzen den größtmöglichen Vorteil ziehen?“ Dies sind die Kriterien, die einer weit verbreiteten Auffassung und dem allgemein als gesunden Menschenverstand geltenden Standpunkt zugrunde liegen.
Die christliche Mentalität hingegen kehrt jene Fragen um, sie widerspricht ihnen und erstickt sie im Keim. Stattdessen macht sie gerade den entgegengesetzten Imperativ stark: Wie kann ich mich mit dem, was ich bin, hingeben; wie kann ich am meisten dem Ganzen, dem Himmelreich, Christus dienen? Dies ist das einzige erzieherische Kriterium für die menschliche Persönlichkeit, die das Licht und die Kraft des Geistes Christi erlöst hat.
Die frühe Jugend ist das einzige Lebensalter, in dem sich leicht und sicher die klare und verständige Aufrichtigkeit und die anhaltende Großzügigkeit entwickeln kann, die die christliche Auffassung von der eigenen Existenz fordert.
Die umfassende Verfügbarkeit des ganzen eigenen Lebens im Dienst am Ganzen ist von außerordentlicher Bedeutung, um verstehen zu können, welche Funktion auszuüben man gerufen ist, welche die persönliche Berufung ist. Das, was ich tun und was ich sein soll, das heißt meine Berufung, zeigt sich mir normalerweise nicht wie ein klarer Befehl, sondern vielmehr wie eine Anregung, wie eine Einladung. Die Berufung – das ist die Bedeutung und der Sinn meines Lebens – zeigt sich mir mehr in der Form einer Möglichkeit, die ich erahne, als in einer unmissverständlichen Unvermeidbarkeit. Dies ist umso wahrer, je grundlegender und wichtiger die Aufgabe ist, die es zu verwirklichen gilt. Das Gewissen ist in seinem reinsten und wirkungsvollsten Aspekt die diskreteste Anregung: Es ist die Inspiration. So entscheide ich meine persönliche Gestalt, indem ich in positiver Weise den noch so leise sich zeigenden Möglichkeiten nachgehe.
LUIGI GIUSSANI
(aus: Der Weg zur Wahrheit ist eine Erfahrung, EOS-Verlag, 2006)