Logo Tracce


Aufmacher
Jemand, der wirklich das Herz erfüllen kann
Julián Carrón

Mitschrift eines Vortrags von Julián Carrón bei der Vorstellung des Buches Kann man so leben? von Luigi Giussani (Augsburg 2007)*. Rom, Auditorium des Parco della Musica, 15. Mai 2008.

Ich bin sehr dankbar für diese Einladung. Sie gibt uns Gelegenheit, gemeinsam in einem Buch zu lesen, das mehr ist als ein Buch. Denn es enthält die Erfahrung eines ganzen Lebens und einen Vorschlag, der sich an uns alle richtet.
«Ein Gut, drin Ruh erlangt des Herzens Schlagen, ahnt jeder Mensch in seinem dunklen Drange und sehnt sich sein und hofft es zu erjagen.»1 Dante hat in seiner Genialität besser als jeder andere Autor die Erwartung auszudrücken vermocht, die das Herz eines jeden von uns prägen. Alle – ich kann hier getrost von allen sprechen, ohne Gefahr zu laufen, etwas Falsches zu sagen –, alle erwarten insgeheim (wenn auch manchmal mit einer gewissen Scheu, es einzugestehen) dieses Gut, in dem unser Herz Ruhe findet. Doch in der Suche nach diesem Gut und angesichts der Flüchtigkeit und Hinfälligkeit der Dinge finden wir uns an einem Scheideweg wieder. Entweder ist alles, was uns dazu veranlasst hat, dieses Gut zu ersehnen, letztlich nichts, da alles endet und somit enttäuscht; oder die Wirklichkeit ist auch trotz ihrer Vergänglichkeit etwas Wahres, das uns auf etwas Anderes verweist. Wir stehen stets vor dieser Wahl: das Nichts oder das Sein, das heißt das Nichts oder die Wirklichkeit als Zeichen von etwas Anderem. Für den, der sich für das Nichts entscheidet, ist das Leben gelaufen: Er kann nur noch die Leere seines Lebens auszufüllen versuchen, indem er sich mit allerlei anderem aufhält, denn nichts interessiert dann mehr wirklich. Wer dagegen die Herausforderung der Wirklichkeit annimmt, steht vor der Möglichkeit eines Abenteuers. Doch hier beginnt eine andere Schwierigkeit. Kafka hat sie gut erkannt. Es kann nicht sein, dass es dieses Gut nicht gibt; da ich es so ersehne, ist es unmöglich, dass es dieses Gut nicht gibt: «Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg.»2 Unser Unvermögen, dieses Gut zu erreichen, kann für das Ich, für einen jeden von uns, nicht ohne Konsequenzen bleiben. In der Tat erwacht das Ich in der Beziehung zur Wirklichkeit. Die Dinge, die Begegnung mit Personen, die Wirklichkeit vor unseren Augen erwecken in uns ein Interesse. Doch wenn die Wirklichkeit des Geheimnisses fern ist, wenn sie mich nicht ganz zu ergreifen vermag, dann ruft dies jene Blockade des Ichs hervor, jenes allgemeine Desinteresse, das den Kern des Ichs lähmt. Das Ich hat dann keinen angemessenen Grund mehr, sich zu bewegen, sich wirklich für die Dinge zu interessieren. Dies kann nur eine Entleerung der Person zur Folge haben, ihr fortschreitendes Dahinschwinden, das Don Giussani an anderer Stelle beschreibt.
Dies geschieht vor unseren Augen. Hannah Arendt hat es in beispielhafter Weise beschrieben: «Die Moderne hat nicht eine diesseitige Welt für eine jenseitige eingetauscht, und genau genommen hat sie nicht einmal ein irdisches, jetziges Leben für ein jenseitig-künftiges gewonnen [wie wir dachten]. Sie ist bestenfalls auf es zurückgeworfen … Was in ihr an die Stelle der Welt getreten ist, ist das nur der Selbstreflexion zugängliche Bewusstsein, in dessen Felde die höchste Tätigkeit das Formelspiel des Verstandes. ist » Und sie schließt: «Es ist durchaus denkbar, dass die Neuzeit [als Folge dieser Tatsache], die mit einer so unerhörten und unerhört vielversprechenden Aktivierung aller menschlichen Vermögen und Tätigkeiten begonnen hat, schließlich in der tödlichsten, sterilsten Passivität enden wird, die die Geschichte je gekannt hat.»3 Das Desinteresse zeigt sich vor allem unter der Jugend. Und inzwischen haben dies alle anerkannt, gleich welcher Couleur oder politischen Überzeugung. Der italienische Schriftsteller Pietro Citati sprach von der tödlichen Langeweile, die selbst ein Laizist wie Scalfari einräumte. Desinteresse und Langeweile sind beides Konsequenzen, die unausweichlich eintreten, wenn der Mensch aufgrund der Ferne des Geheimnisses keinerlei Interesse mehr hat, sich zu bewegen.

Doch auch in dieser Situation verbleibt die Dynamik unserer Menschlichkeit und das, was wir auf verworrene Weise ersehen. Wie die großen Genies der Menschheitsgeschichte erkannt haben, ersehnen wir zwangsläufig, dass dieses uns umgebende Geheimnis ein Wort offenbart – wie Platon sagte –, um den Weg zurücklegen und das Meer mit einem sicheren Gefährt überqueren zu können. Der spanische Dichter Antonio Machado hat dies auf wunderschöne Art und Weise formuliert: «Schläft mein Herz? Wenn es dies sagt, wenn es dies ersehnt, schläft mein Herz dann? Nein, mein Herz schläft nicht, es ist wach, es ist wach und schläft nicht, noch träumt es: Es erblickt mit offenen und klaren Augen weit entfernte Zeichen und horcht am Ufer der großen Stille.» Auch in dieser Situation ersehnen wir zwangsläufig ein Zeichen aus der großen Stille, denn ansonsten wäre das Leben – wie Dostojewski bemerkte – unerträglich.
Wenn sich nicht eine Neuheit, etwas Unvorhergesehenes ereignet hätte, wären auch wir zu dieser Passivität verurteilt. Wir alle wären unausweichlich zu diesem Stillstand verurteilt, zu dieser tödlichen Langeweile, die wir dann durch diverse Dinge anfüllen; Dinge, die uns letztlich nicht interessieren, die nicht wirklich in der Lage sind, uns zu fesseln oder mitzureißen (Arbeit, Zuneigungen, Zerstreuungen). Wir geben uns ihnen dennoch hin, um die Langeweile eines Lebens ertragen zu können, das letztlich von nichts mehr angezogen und bewegt wird. Don Giussani spricht in seinem Buch nun von eben diesem Unvorhergesehenen. Das Buch gibt die Gespräche wieder, «die ein Jahr lang jeden Samstag zwischen mir und hundert jungen Leuten entstanden, die die Hypothese ernst genommen hatten, ihr Leben ganz Gott hinzugeben.» 5

Doch wozu kann uns ein Buch wie dieses dienen? Inwiefern kann es für die hier Anwesenden von Interesse sein, die in ihrem Leben vielleicht schon einen anderen Weg gewählt haben oder einfach skeptisch sind?
Für Don Giussani geht es diesen Jugendlichen gegenüber nur um eines: Dass sie «verstehen». Denn andernfalls werden sie nicht auf diesem Weg bleiben können. Um ihnen beim Verständnis zu helfen, schlägt er ihnen einen menschlichen Weg vor, auf dem sie die Vernünftigkeit dieser Wahl erkennen können. Hier beginnt es interessant zu werden. In Don Giussanis Versuch, diesen Jugendlichen die Vernünftigkeit ihrer Wahl aufzuzeigen, tritt ein Vorschlag hervor, der für alle interessant sein kann. Denn es besteht eine tiefe Übereinstimmung dieses Vorschlags mit dem Menschlichen.
Ausgangspunkt des Weges ist die Tatsache, dass in der Geschichte etwas Unvorhergesehenes geschehen ist, das es allen ermöglicht, den Weg wieder aufzunehmen, von neuem ein Abenteuer zu beginnen, das ansonsten unausweichlich blockiert wäre. Ich frage oft: Wie viele Erwachsene kennt ihr, die nicht skeptisch sind? Auch wir wären unvermeidlich zum Skeptizismus bestimmt, wenn in unserem Leben nicht etwas geschehen wäre und weiter geschieht, das unser ganzes Interesse weckt und beleben würde.
Dieses Faktum hat sich ereignet, es ist das christliche Faktum. Die Neuheit der Welt liegt in der Möglichkeit einer Begegnung, in der der Mensch wahrnimmt – wie Don Giussani an einer Stelle des Buches sagt –, dass es eine Antwort gibt auf die Bedürfnisse seines Herzens, auf diese Sehnsucht nach etwas Gutem. Die Begegnung mit diesem Faktum, die Begegnung mit der Person Christi, mit dieser absolut außergewöhnlichen Gegenwart, lässt einen den Weg wieder aufnehmen und macht einen neugierig, so dass die Ersten, die Ihn kennen lernten, nicht umhin konnten, Ihn am folgenden Tag wieder aufzusuchen. So begann das Christentum. Diejenigen, die Ihm als Erste begegnet waren, haben in jenem Menschen, den sie noch nicht kannten, etwas für ihr Leben derart Interessantes verspürt, dass sie dem Wunsch nicht widerstehen konnten, Ihn am darauf folgenden Tag wieder aufzusuchen. Das könnte als etwas Normales erscheinen. Mit etwas Nachdenken wird aber jeder verstehen, wie außergewöhnlich dies ist. Man braucht sich nur zu überlegen, wie selten man im Leben jemandem begegnet ist, den man am darauf folgenden Tag wieder aufsuchen wollte, und am darauf folgenden Tag immer noch. So beginnt das Abenteuer des Lebens von neuem. Und je länger sie bei Ihm blieben, desto drängender wurde für sie die Frage: «Wer ist dieser?»

Gott hat die Ferne überwunden und ist als Mensch in die Geschichte eingetreten, «so dass ihr Denken und ihre ganze Einbildungskraft und Zuneigung, ihr ganzes Träumen gleichsam ergriffen, gebannt waren.»6 Durch die Neugier, die Er geweckt hatte, begann für sie die Partie von neuem. Gegenüber dieser Frage (Wer ist dieser?), die sich den ersten Jüngern aufdrängt, ohne, dass sie darauf eine Antwort geben konnten, mussten sie anerkennen, dass es in diesem Menschen etwas Größeres gab. Es war etwas, das keine Definition (Prophet, König und so weiter) erfassen konnte. Sie mussten akzeptieren, was Er von sich sagte, da es voll und ganz dem entsprach, was sie mit eigenen Augen sahen.
Der Glaube ist der erste Punkt im Gedankengang dieses Buches. Er besteht in der Anerkennung des Geheimnisses, das in jener absolut einzigartigen und faszinierenden menschlichen Wirklichkeit gegenwärtig ist, die die ersten Jünger dazu brachte, fortwährend zu sagen: «So etwas haben wir noch nie gesehen!». «Es gibt in unserer Erfahrung etwas, das von außerhalb ihrer selbst kommt: Es ist unvorhersehbar, geheimnisvoll, liegt aber doch im Horizont unserer Erfahrung.» (S. 205) Wenn dann jemand dieses Etwas zensiert, muss er zugleich die Erfahrung verleugnen, die er macht. Wenn die ersten Jünger nicht anerkannt hätten, was Er von sich sagte, hätten sie das leugnen müssen, was sie mit eigenen Augen sahen und was nicht offensichtlicher hätte sein können. Was sie vor sich hatten, war nicht das Geheimnis als etwas Unbekanntes, sondern das Geheimnis, das in dieser überbordenden Menschlichkeit präsent war. Wie oft erzählt das Evangelium vom Staunen, und zwar nicht vor dem, was es nicht gab, nicht vor etwas, das fehlte: Es geht hier nicht um ein unbekanntes und fernes Geheimnis, sondern um ein gegenwärtiges Geheimnis!
Der Beweis, dass es sich hier nicht um leere Worte handelt, die Bewährung des Glaubens von demjenigen, der von dieser unvergleichlichen Gegenwart ergriffen wurde und ihr gegenüber nicht mogeln kann, diese Verifizierung liegt in der Freiheit. Was ist die Freiheit? Don Giussani weist uns den Weg zur Antwort: Gehen wir vom Adjektiv aus, von der Erfahrung, sich frei zu fühlen und überlegen wir, wann wir uns wirklich frei fühlen. Jemand fühlt sich frei, wenn ein Wunsch von ihm in Erfüllung geht, wenn das eintritt, was er ersehnt. Wenn wir umgekehrt auf jemanden treffen, der diesem Wunsch widerspricht und uns daran hindert, ihn zu verwirklichen, so sprechen wir von einem «Chef», der uns daran hindert, uns selbst zu verwirklichen und unseren Wunsch zerstört. Doch was ersehnen wir? Was ersehnt der Mensch? Was ersehne ich? Was ersehnt jeder von uns? Je weiter wir im Leben voranschreiten, desto mehr können wir erreichen, was wir ersehnen, und gleichzeitig wird uns immer klarer, dass unsere Sehnsucht doch stets größer ist als das Erreichte. So sagte der italienische Schriftsteller Pavese: «Der Mensch ersehnt in seinen Vergnügungen etwas Unendliches, und niemand würde je auf die Hoffnung verzichten, dieser Unendlichkeit zu folgen.»7 Die Freiheit ist nun die Beziehung zu diesem Unendlichen, das allein in der Lage ist, die gesamte Sehnsucht des Menschen zu erfüllen.

Wie erneuert sich diese Sehnsucht? Wie wird das Geheimnis erfahrbar und wie erneuert sich diese Sehnsucht? Durch die Geschöpfe hindurch, durch die Dinge. Je mehr man sich der Erfüllung der Sehnsucht, diesem Unendlichen annähert, desto freier ist man: Das christliche Ereignis, die Gegenwart Christi ist das, was in der Lage ist, uns immer mehr zu erfüllen; es erschöpft sich nicht, sondern erneuert sich immer wieder. So versteht man, dass es ohne Glauben beziehungsweise ohne einen Glauben, der nicht wirklich also nicht das Anerkennen von etwas Realem ist, keine Möglichkeit zur Freiheit gibt. Man kann nicht mit Worten spielen und in einen bloßen Nominalismus abgleiten. Das Christentum wurde uninteressant, weil es zum bloßen Nominalismus geworden ist. Wenn man nicht jedes Wort, das man sagt, erfährt (wie wir Gott sei Dank durch Don Giussani gelernt haben), wird der Glaube immer uninteressanter, das Leben verliert an Anziehungskraft. Wenn man hingegen immer mehr die Erfüllung der Sehnsucht erfährt, dann erweist sich darin am offensichtlichsten die Wahrheit des Glaubens.
Und daher folgt man ihm. Das ist der dritte Punkt des ersten Kapitels über den Glauben. Diese Nachfolge nennt sich Gehorsam. Es ist ein verwünschter Begriff: in der Tat wäre es erbarmungslos, wenn man diesen Gehorsam als etwas erfährt, das einem das Leben nimmt; jemanden, der einem das Leben raubt und nicht dem Interessantesten im Leben folgt. Don Giussani sagt: «Die unmittelbare und logische Konsequenz aus dieser außergewöhnlichen Tatsache, dass dieser Mensch wie kein anderer immer in einer Weise spricht und handelt [mich anschaut, mich umarmt und diese Zärtlichkeit mir gegenüber hat], die dem Herzen entspricht, besteht darin, dass ich ihm folge. So sagte Petrus: «Wenn wir von dir weggehen, wohin sollen wir gehen?» (S. 105). Niemand zwingt sie zu folgen. Jesus fordert sie bis zum Letzten heraus. Alle waren gegangen. «Wollt auch ihr gehen?». Er erspart ihnen nichts. Was für eine Erfahrung der Fülle müssen sie mit diesem Menschen erfahren haben, dass Petrus sagen konnte: «Wenn wir von dir weggehen, zu wem gehen wir dann? Du allein hast Worte, die das Leben erklären»8! So versteht man tatsächlich, was Gehorsam ist. Wenn du diese Erfahrung machst, dann wird das, was dir gesagt wird, Schritt für Schritt eins mit dir, wie es Petrus widerfahren ist. Was bedeutet daher gehorchen? Gehorsam bedeutet, «der Entdeckung seiner selbst zu folgen» (S. 114), die ein Anderer wirkt. Wie wenn man sich verliebt: Man verliebt sich nicht, um dem anderen einen Gefallen zu tun, sondern man folgt der Entdeckung seiner selbst, die die Begegnung mit dem anderen bewirkt. Das ist genau das Gegenteil zum Verlust des Lebens! Also etwas ganz anderes, als das Leben einem anderen abzutreten! Es ist die Erfüllung des Ich. Der Gehorsam besteht im «Sich-selbst-folgen» durch die Gegenwart eines Anderen, der mich berührt und bewegt und mich ständig mehr mich selbst sein lässt. Dieser Glaube bewährt sich also durch Freiheit, die Erfüllung und den Gehorsam. Und aus ihm erwächst unmittelbar die Blüte der Hoffnung. «Die Hoffnung ist nichts anderes als die Ausweitung der Gewissheit des Glaubens in die Zukunft.» (S. 193). Wir kennen das gut. Niemand, der in einer normalen Familiensituation zur Gewissheit gelangt ist, dass die eigene Mutter ihn liebt, kann sich ausmalen, dass es einen Moment im Leben geben könnte, in dem sie ihn nicht mehr liebt. Worauf gründet sich diese Gewissheit über die Zukunft? Es ist die Ausweitung der Gewissheit in der Gegenwart auf die Zukunft. Ich kann mir nicht vorstellen, was auch immer ich tue, dass meine Mutter mich nicht mehr lieben wird, denn ich müsste all meine Erfahrung verleugnen. «Wenn der Glaube die Anerkennung einer Gewissheit in der Gegenwart ist», die einem zutiefst entspricht, «dann ist die Hoffnung das Anerkennen einer Gewissheit für die Zukunft, die aus dieser Gegenwart erwächst» (vgl. S. 134). Daher sagt Péguy auf geniale Art und Weise: «Um zu hoffen muss man eine große Gnade erlangt und empfangen haben.»9 Welches ist diese Gnade für uns, die wir die Gnade erfahren haben, Christus begegnen zu dürfen? Der Glaube. Die Gnade ist der Glaube an Jesus Christus. « Die große Gnade, aus der die Hoffnung hervorgeht, ist die Gewissheit des Glaubens. Die Gewissheit des Glaubens ist der Same der Gewissheit der Hoffnung.» (S. 137f.) Die Hoffnung gründet sich auf eine Gegenwart; «Eine Gegenwart ist allerdings in dem Maße wirklich Gegenwart, in dem du von ihr Besitz ergreifst. Deshalb ist die Hoffnung die Gewissheit über die Zukunft, welche sich auf einen bereits gegebenen Besitz stützt» (S. 139), auf eine große Gnade.

Und wie entsteht diese Hoffnung aus dem Glauben? Sie entsteht, weil die Begegnung mit der Gegenwart, die der Glaube anerkennt, die ganze Sehnsucht des Ich erneuert, und die Gewissheit des Glaubens garantiert mir, dass diese Sehnsüchte erfüllt werden. «Werden diese Wünsche erfüllt, ja oder nein? Dies ist die entscheidende Frage. Diese Wünsche entsprechen den Forderungen des Herzens. Sie können nur dann mit Gewissheit verwirklicht werden […] [das ist die große Herausforderung] wenn jemand dem Inhalt des Glaubens vertraut, […] wenn er sich der Gegenwart anvertraut und überlässt, auf die der Glaube verweist.» (S. 143). Ich hoffe, weil ich Gewissheit über die Macht der großen Gegenwart habe, die ich im Glauben anerkenne. «Das Bedürfnis des menschlichen Herzens nach Glück verwirklicht sich gemäß der Form, die das Geheimnis der großen Gegenwart festlegt.» Diese Form ist nicht, wie wir oftmals denken, gemäß unserem Bild: Wir identifizieren diese Fülle mit einem Produkt unserer Vorstellung. «Diese Form ist nichts anderes als die große Gegenwart selbst, die Form ist Christus selbst» (S. 146). Wir können das im zwischenmenschlichen Zusammensein gut nachvollziehen: Nicht das Haus oder das Auto, das mir eine Person schenkt, ist die Fülle des Bedürfnisses nach Glück! Was uns glücklich macht, ist die Person selbst, nicht die Geschenke, die sie macht. Seine Gegenwart erfüllt mich so sehr, dass ich frei bin. Aus dieser Gewissheit entsteht die Armut. Ich bin so erfüllt von dieser Gegenwart, die wahrhaft das Herz erfüllt, dass ich nicht mehr viele Dinge zum Leben brauche.
«Worauf gründet die Armut ihren Wert? Auf die Gewissheit, dass es Gott ist, der erfüllt. [...] Wenn Christus dir die Gewissheit schenkt, dass er das, was er dich ersehnen lässt, auch erfüllt, dann bist du vollkommen frei» (S. 195f.). Daher ist jedes Wort, das wir sagen, eine Möglichkeit, um zu überprüfen, wie sehr wir von Christus sprechen, wenn wir über Ihn sprechen, was für eine Erfahrung wir von Christus machen. Denn wenn jemand «Christus» sagt, aber unzufrieden ist und von allem Möglichen abhängt, und nicht frei ist, dann reden wir nicht von Christus. Wie wenn mir jemand sagen würde, dass er in ein Mädchen verliebt ist, aber sie nicht sehen will, dann ist das ein Widerspruch. Aber Vorsicht, es geht dabei nicht um eine Frage der Inkonsequenz. Die Verkürzungen, die wir oftmals vornehmen, sind nicht das Problem der Wankelmütigkeit. Man kann absolut zufrieden sein, erfüllt, und manchmal zerbrechlich, aber dies nimmt nicht einen Augenblick die Gewissheit über das, was das Leben erfüllt. «Daraus erwächst ein Verständnis der Freiheit, vor allem ein Bild der Freiheit gegenüber den Dingen. Keine Sache versklavt dich mehr, nichts bindet dich mehr, nichts kettet dich an, du hängst von nichts mehr ab: Du bist frei.» (S. 196). Wer sehnt sich nicht danach?
«Aus dieser Freiheit von den Dingen, aus der die Gewissheit erwächst, dass Er – Gott – alles erfüllt, geht eine weitere Charakteristik der Armut im Geiste hervor: die Freude – Laetitia» (S. 197): Du bist zufrieden und frei, weil dir nichts fehlt. « Die Freiheit ruft nicht nur die Freude hervor, sie lässt dich auch entdecken, dass dir nichts fehlt. Nichts fehlt dir, dir fehlt nichts, weil alles dein ist» (S. 200). Don Giussani fragt sich: «Wie ist es möglich, dass alles dein ist? Weil du das besitzt, was notwendig ist, du hast das, was notwendig für dich ist» (S. 200), um zu leben, um zu atmen, um wahrhaft froh zu sein, und das lässt dich vertrauensvoll sein, denn der, der dir diese Erfahrung ermöglicht, ist jemand, dem man sich anvertrauen kann. Man kann sich in seine Hände geben.

Der letzte Schritt ist die Liebe, die Caritas. «Die Liebe […] verweist auf den tiefsten Kern, enthüllt das Innerste, das Herz jener Gegenwart, die der Glaube anerkennt» (S. 242). Warum ist das so? Warum hat mich diese Gegenwart so betroffen? Warum gibt sie mir diese Gewissheit und erneuert diese Hoffnung? Warum kann ich dort die Erfüllung finden und kann mich ganz anvertrauen und frei sein? Weil diese Gegenwart Liebe ist. Die ungeschuldete Liebe ist «die höchste Form […] in der sich menschliche Liebe ausdrückt. Die Gratuität […] beinhaltet das völlige Fehlen von «Gründen», die für die Vernunft einsichtig und erklärbar wären. Die Liebe beinhaltet das Fehlen irgendwelcher Nützlichkeitserwägungen, Berechnungen oder Erwartungshaltungen» (S. 244). Don Giussani verwendet einen knappen Satz des Propheten Jeremias (und schon dieser würde genügen, um zu leben): «Ich habe dich mit ewiger Liebe geliebt, daher habe ich dich an mich gezogen (das heißt ich habe dich teilhaben lassen an meiner Natur), denn ich hatte Erbarmen mit deiner Nichtigkeit.»10 Das ist Liebe, die Hingabe seiner selbst, die das Geheimnis bewirkt – ergriffen, bis hin zur Rührung. Das hat die Muttergottes vom ersten Augenblick an erfahren, wie es im Magnificat heißt. Sie ist ganz erfüllt von Freude, denn «der Herr hat – mit dieser Hingabe seiner selbst – auf die Nichtigkeit seiner Magd geschaut»11. Das ist Liebe, und sie kommt stets vor allem anderen: Vor unserer Konsequenz oder Inkonsequenz, vor unserem Bösen, vor unseren Fehlern. Es gibt immer dieses «Vorher», diese einzigartige Initiative des Geheimnisses uns gegenüber, die die Quelle von allem ist.
Dieses Urteil ist es – nicht ein Gefühl, es ist ein Urteil («ich habe mich deiner Nichtigkeit erbarmt») – das es ermöglicht, alles zu umarmen, unser ganzes Ich mit allem, was passieren kann, mit unserem ganzen Bösen. Das ist die Neuheit, an die uns der Papst in der Enzyklika Deus caritas est erinnert hat. «Das eigentlich Neue des Neuen Testaments sind nicht neue Ideen, sondern die Gestalt Christi selber, der den Gedanken Fleisch und Blut, einen unerhörten Realismus gibt.»12 Das bewirkt im Ich dieselbe Dynamik in der Beziehung zu allem: Die Liebe zu allem. Daraus erwächst die Überfülle der Liebe, die jeder von uns empfangen kann, die zum Gesetz wird, die zur Haltung gegenüber allem wird. Wir geben letztlich das, was überläuft – von der Überfülle an Gnade – von dem, was wir empfangen haben.
Darum kann man ein Opfer auf sich nehmen. Wann wurde das Opfer, das stets als etwas gegen unsere Natur Gerichtetes erscheint, je «interessant» (S. 291), fragt sich Don Giussani. Es wurde interessant, «als Gott Mensch wurde» (S. 292); seitdem das Ich Ihm begegnet ist, in dieser Nähe des Geheimnisses, dieses Menschen. Denn seitdem bedeutet, Ihn anzuerkennen, das Ich zu bejahen, das Ich leben zu lassen. «Nicht mehr ich lebe, ein anderer lebt in mir». In der Bejahung dieses Anderen besteht das Leben des Ich.

Don Giussani beschließt seinen Vorschlag an die, die ihr Leben Jesus hingeben wollen, indem er von der Jungfräulichkeit spricht, als dem letzten Aufweis für die Wahrheit des Gesagten – und das sind keine bloßen Worte, sondern Fleisch und Blut, also mögliche Erfahrung. Genau deshalb, weil Gott die Distanz aufhebt, in der ihn der Mensch halten würde, und sich uns nähert und uns seine siegreiche Anziehungskraft vor Augen stellt, kann es das Vernünftigste sein, Ihm das ganze Leben zu geben. Wir sind nicht etwa verrückt – falls dies jemand dächte – wir, die wir es hingegeben haben! Aber damit das in der Geschichte statthaben kann, ist es notwendig, dass alles, was wir gesagt haben (ausgehend vom Glauben, über die Freiheit, den Gehorsam, die Hoffnung, die Armut, das Vertrauen, die Liebe und das Opfer), wahr ist! Und zwar «wahr» nicht nur im formalen Sinn. Wir können auch ein weniger zweideutiges Wort verwenden: «wirklich». Denn wenn es nicht wirklich ist, dann ist es nicht möglich, das Leben hinzugeben.
Darum schließe ich mit dem Satz des heiligen Thomas: «Das Leben des Menschen besteht in der Zuneigung, die ihn am meisten trägt, und in der er seine größte Befriedigung findet»13. Das Leben kann Bestand haben, wenn man etwas findet, das es ermöglicht, alles zu tragen. Die Jungfräulichkeit ist nur möglich, weil es diese Gegenwart gibt, die in der Lage ist, in das Leben eine so große Erfüllung einzuführen, dass alles andere davon getragen ist. Und das ist für alle möglich. In der Kathedrale von Piacenza hat die Färberzunft diesen Satz schreiben lassen (und wohlgemerkt, die Färberzunft und nicht etwa das Kloster des heiligen Benedikt!): «Wenn wir der Wirklichkeit einen neuen Sinn verleihen wollen, wenn wir ein neues Leben wollen, müssen wir zur Jungfräulichkeit zurückkehren»14. Damit wollten sie nicht sagen, dass man nicht heiraten solle, sondern dass sich nur, indem man Seine Gegenwart akzeptiert und anerkennt, also in der Zuneigung zu ihr, eine Neuheit einstellen kann, eine Dankbarkeit in der Art und Weise, alles zu behandeln, die uns von allem frei macht. Sonst würden wir, wie immer, von allem abhängig sein: Von allem, auch von den Krumen, die von den Tischen der jeweiligen Machthaber fallen. Wir aber sind für das Ganze geschaffen und ersehnen es, und keine irdische Macht ist in der Lage, uns dies zu geben. Nur wenn etwas Größeres unseren Blick anzieht und lenkt, können wir die richtige Haltung einnehmen, um die Wirklichkeit anzugehen.
Daher ist die Jungfräulichkeit der wahre Inhalt des Glaubens: Kein Traum, sondern Wirklichkeit, Menschen, die von dem Einem berührt sind, der wirklich das Herz erfüllen kann. Das ist die Herausforderung. Die Tatsache, dass es Menschen gibt, die das Leben Christus hingeben, bezeugt trotz aller Zerbrechlichkeit, in der sie es vielleicht leben, in aller Öffentlichkeit, dass es wahr ist, dass der Inhalt des Glaubens wahr ist. Darum handelt es sich um einen Weg, einen Vorschlag, der sich nicht nur an diejenigen richtet, die das Leben Christus hingeben. Im Versuch, auf ihre Fragen zu antworten, sie die Vernünftigkeit ihres Weges verstehen zu lassen, macht Don Giussani einen Vorschlag, der für jeden absolut faszinierend ist, der am Leben interessiert ist.

Anmerkungen
1 Dante, Das Fegefeuer, 17. Gesang, Verse 127-129. Frankfurt am Main 1974, S. 231.
2 Vgl. F. Kafka, Franz Kafka, Aphorismen-Zettelkonvolut Nr. 26, in: Nachgelassene Schriften und Fragmente, Hamburg 1992, S. 118.
3 H. Arendt, Vita activa oder vom Tätigen Leben, München 1996, S. 408, 411.
4 Vgl. F.M. Dostojewski, Die Dämonen, München 1977.
5 L. Giussani, Kann man so leben?, Augsburg 2007, S. 8f.
6 L. Giussani, «Er ist, da Er wirkt», Beilage zu «30Tage», Nr. 6, 1994, S. 80.
7 C. Pavese, Il mestiere di vivere, Turin 1973, S. 190.
8 Vgl. Jh 6,67-68.
9 Vgl. Péguy, Charles, Das Mysterium der Hoffnung, Wien 1952, S. 22.
10 Vgl. Jer 31, 3.
11 Vgl. Lk 1, 48.
12 Benedikt XVI., Deus caritas est, Nr. 12.
13 Vgl. Thomas v. Aquin: Summa Theologiae, II–II , q. 179, a. 1, Respondeo: «Unde etiam in hominibus vita uniuscuiusque hominis videtur esse id in quo maxime delectatur et cui maxime intendit.»
14 Zitiert in L. Giussani, «Presentazione», in E. Manfredini, La conoscenza di Gesù, Marietti, Genua-Mailand 2004, p. 24.