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CL
Im Allgäu und in Rimini: Protagonisten
Georg del Valle

Die Ferien der Gemeinschaften von Baden-Württemberg werden zur Gelegenheit, den Kern des Charismas der Bewegung neu zu entdecken. Eine Freundschaft und Wegbegleitung, um zu verstehen, «was das eigene Leben groß und bedeutend macht».

Kaum angekommen, wollte sie schon wieder weg! «So viele fremde Menschen!» ist der erste Gedanke, der Gerlind aus Leipzig durch den Kopf geht. Und in der Tat, sie kennt nur Simon, ihren Taufpaten, und seine Frau Katja. Die beiden hatten sie immer wieder zu den Ferien der CL-Gemeinschaften von Baden-Württemberg eingeladen. Diesmal hat Gerlind beschlossen mitzufahren. Sie wollte dort die Zeit mit den beiden Freunden und ihren eigenen Kindern verbringen. «Aber dann sah ich mich von etwa hundert fremden Menschen umgeben. Jeden Tag waren Gottesdienste angesetzt, alles war durchgeplant – was sollten das für Ferien werden?»
Gerlind bleibt. Eine Woche später sieht alles anders aus. Eine Woche in Memhölz, in herrlicher Allgäuer Landschaft über dem Niedersonthofener See, mit Spielen und Liedern, Vorträgen und Wanderungen, Sommerrodelbahn, Begegnungen und Gottesdiensten, Filmen für die Kinder und die Erwachsenen. «Es sind wundervolle Ferien geworden! Ich war ganz nah bei meinen Kindern, habe viele neue Freunde kennen gelernt und fühlte mich am Ende innerlich ganz stark – bereit in den Alltag zurückzukehren und an den Herausforderungen zu wachsen.» Zwei Dinge haben sich ihr eingeprägt: wie schön es ist, das eigene Herz zu öffnen, und eine Ahnung, was es heißt, als „Protagonistin“ durchs Leben zu gehen.
Protagonistin? Ja, das stand nämlich als Motto über den Ferien: «Entweder Protagonisten oder niemand». Dieser etwas eigenartige Titel wurde dem Meeting 2008 in Rimini entlehnt. Er hatte einige von uns so beeindruckt, dass wir ihn als Motto für die Ferien gewählt haben. Beim Meeting für die Freundschaft unter den Völkern in Rimini begegnen sich seit 1980 alljährlich in der letzten Augustwoche Menschen unterschiedlichster Nationalität, kultureller, politischer und religiöser Zugehörigkeit. Bei der Vorbereitung der Ferien tauchte die Idee auf, jemanden vom Meeting einzuladen. Eine Person, die seit langem damit vertraut ist, die etwas über die Hintergründe erzählen kann, wie es entstanden ist, und vor allem, was es für die Beteiligten persönlich bedeutet. So war die Wahl auf Emilia Smurro gefallen. Sie ist seit einigen Jahren Präsidentin des Meetings und von Anfang an dabei. Aber wird sie Zeit haben? Sie sagt sofort zu. Am zweiten Abend der Ferien ist sie da und erzählt. Wie sie im Jahr 1962 als Fünfzehnjährige über Mitschüler Don Giussani kennen gelernt hat, wie sie ihm das erste Mal persönlich begegnet ist, und wie sie diese Freundschaft nun schon über vierzig Jahre begleitet. Diese Frau beeindruckt. Sie spricht ganz einfach. Keine hochtrabenden Worte. Es macht alles einen ganz natürlichen Eindruck: Eine Schülerin beginnt das Schuljahr an einer neuen Schule. Sie begegnet immer wieder Schülern mit orangen Umschlägen. Einladungen zu einem Treffen unter Mitschülern. Diese Schüler interessieren sich scheinbar mehr für die orangen Umschläge und füreinander als für Zensuren und Lernstoff. Emilia wird neugierig. Sie fühlt sich gerade allein, ist etwas in der Krise. Sie geht hin. Jetzt sagt sie: «Heute gebe ich diesen orangen Umschlägen einen Namen: Es war Christus, der mir hinterher gelaufen ist.»
Am Ende des Schuljahres hat sie eigentlich genug. Dann die Einladung zu einem dreitägigen Treffen. Sie hat keine Lust. Sie ist jetzt sechzehn und hat anderes im Sinn. Aber diesen Freunden will sie nicht Nein sagen. Im Aufzug dann ein unbekannter Priester. «Na, wie geht´s?» Was soll sie antworten? Sie zieht die Schultern hoch, ist ganz direkt: «Eigentlich habe ich ja keine Lust gehabt zu kommen …» «Aber jetzt bist du da!», ist die genauso direkte Antwort von Don Giussani. Und so geht es weiter. Sie ist immer direkt. Ohne Schnörkel. Ohne falsche Scheu. Ein Herz, das ganz offen für die Wirklichkeit ist.
Sie erzählt eine Anekdote. Ein paar Freunde gehen nach einem Konzert eine Pizza essen. Sie haben eine Idee. Warum nicht hier in Rimini, wo so viele Menschen ihre Ferien verbringen, etwas Großes machen, das alle Menschen anspricht, unabhängig von Nationalität, Kultur, Politik, Religion? Warum nicht etwas tun für die Freundschaft unter den Völkern? Aus der Idee wird Wirklichkeit. Das Meeting ist geboren. 1980 findet es zum ersten Mal statt.
1981, im zweiten Jahr des Meetings, scheint es schon am Ende zu sein. Einige Studenten der Bewegung schauen misstrauisch auf das, was da in Rimini geschieht. Don Giussani ruft Emilia an: «Hör mal, wir haben gerade beschlossen, dass ihr ab morgen alle Veranstaltungen des Meetings streicht!» Emilia kontert: «Jetzt sage ich dir zuerst, warum ich das falsch fände. Wenn du danach immer noch sagst: „Macht Schluss!“ dann hören wir auf.» Am Ende des Telefonats ist Giussani überzeugt. Das Meeting geht weiter.
Und so macht Emilia weiter. Was macht das Meeting eigentlich aus? Es ist ein Versuch zu zeigen, wie Christus mit allem etwas zu tun hat. Wie er der Punkt ist, von dem aus man alles auf neue Art und Weise betrachten kann. Emilia hatte das in der Schulzeit kennen gelernt. Don Giussani lud immer in den letzten drei Tagen vor Beginn des neuen Schuljahres zu einem Treffen nach Varigotti in Ligurien ein. Dort präsentierte er den Schülern die Meister der Kultur, wichtige Zeitgenossen, die Kunstwerke verschiedenster Epochen. Eine umfassende Offenheit: Alles Schöne, Wahre und Gute wird hier hochgeschätzt. Emilia lernte eine Gewissheit und eine Heiterkeit, die alle Hindernisse überwinden kann.
Die Freunde, die die Verantwortung für das Meeting tragen, gehören zu einer Fraternitätsgruppe von Rimini. Giussani begleitete sie ganz eng. Zwei Dinge sagte er ihnen. Der Ausgangspunkt ist gut, und die Irrtümer und Unvollkommenheiten werden sich im Lauf der Zeit korrigieren, wenn alles – das ist der zweite Punkt – in Einheit mit dem Zentrum der Bewegung geschieht.
Dieser Wunsch nach Einheit mit dem Zentrum der Bewegung, mit Giussani, sitzt ganz tief in Emilia: «Es gab nur eine Art, diesen Wunsch nach Einheit zu leben. Und das war, ihn alles zu fragen. Wenn ich wusste, wo er vorbeikommen würde, hatte ich Zettel mit einer Menge Fragen dabei. Fragen zu allem: Wen einladen, wie die Dinge angehen, alles über das Meeting. Und er antwortete auf alles. Nicht unbedingt, weil er alles interessant fand, was ich ihn fragte, sondern aus Interesse an mir.»
Bettina staunt: «Du scheinst gleichzeitig sehr frei und ganz gehorsam zu sein!» Emilia lacht: «Die Freiheit, denke ich, habe ich gelernt, und den Gehorsam auch. Wenn ich etwas Wahres sehe, tue ich mich schwer, nicht hinterherzulaufen. Ich kann auch ungehorsam sein, aber ich kann nicht schummeln.»
Auch der Film Strajk von Volker Schlöndorff, der an einem Abend gezeigt wird, macht Gerlind klarer, was es heißt, als Protagonistin zu leben: «Einfach wahrhaftig sein, in jeder Situation da sein, nicht weglaufen und das tun, was notwendig ist.» Der Film zeichnet einige Stationen im Leben der Anna Walentynowicz nach, deren Entlassung als Kranführerin Auslöser der Streiks im August 1980 auf der Danziger Lenin-Werft war. Auf ihre Art verdeutlicht diese Arbeiterin, was es heißt, mit offenem Herzen vor der Wirklichkeit zu stehen, frei trotz aller Widerstände.
Die Ferienwoche ist viel zu schnell vorbei. Am Ende steht eine Versammlung. Immer wieder wird dankbar festgestellt, wie schön das Miteinander war von Familien und denen, die allein hier sind. Simon und Katja: «Wir waren froh über die reichliche Aufmerksamkeit, die uns und unserer Mathilde von allen Seiten zuteil wurde. Sogar von denen, die selber keine Kinder haben. Hubert und Lorenzo haben unseren Kinderwagen ohne zu murren über einen absurden Kletterweg, über Treppen und Brücken und Wurzeln getragen. Und das ist nur ein Beispiel.»
Ein anderes Beispiel war für sie auch das Engagement vieler Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder, verbunden mit einer tiefen Fröhlichkeit: «Die beste Erklärung hierfür ist die Gegenwart eines Anderen in ihrem Leben. Er gibt den Aufgaben und Dingen eine beschwingte Freude.»
Und dann die Kinder. Sie stellten die absolute Mehrheit auf diesen Ferien. Einige von ihnen haben bereits im Grundschulalter einen derart klaren Blick auf die Welt, dass es wirklich spannend ist, sich mit ihnen zu unterhalten. «Wir interessieren uns wirklich für das, was sie zu sagen haben», schreiben Simon und Katja.
Wieder zurück in Leipzig meint Gerlind: «Ich habe mich am Ende dieser Ferien innerlich so gestärkt gefühlt, dass ich mich darauf freute, in den Alltag zurückzukehren und diese Einstellung, dieses Streben nach Wahrhaftigkeit mitnehmen zu können. Denn ich habe gemerkt, dass es genau das ist, was im Leben wichtig ist, was das Leben groß und bedeutend macht. Und ich weiß, je mehr mir das gelingt, desto mehr kann ich ein Licht, geradezu ein Leuchtfeuer sein, das auf Gottes Herrlichkeit verweist. Ich weiß aber auch, damit mir das gelingt, muss ich beständig daran erinnert werden, was das Wesentliche im Leben ist, und dazu brauche ich konkrete Menschen, eine Gemeinschaft. In Memhölz habe ich viele kennen gelernt, die auf diesem Weg schon viel weiter sind, die Vorbilder und Wegweiser sein können. Die Herausforderung besteht nun darin, die Freundschaften auch über die Entfernung hinweg lebendig zu halten.»
(Auszüge aus dem Zeugnis von Emilia Smurro können online unter www.cl-deutschland.de nachgelesen werden.)