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Menschen ohne Heimat


Wir veröffentlichen die Übersetzung eines Abschnittes aus dem neuen Buch von Don Giussani Uomini senza patria (1982-1983)/Menschen ohne Heimat aus der Reihe L’Equipe. Es handelt sich um einen Dialog zwischen Don Giussani und Verantwortlichen der Studenten von Comunione e Liberazione. Das Werk wird im Juli in Italien vom Verlag Rizzoli veröffentlicht.

Giussani: Neben den Anregungen aus den Beiträgen, die wir eingefordert haben und die wir berücksichtigen werden, hat sich in der Zwischenzeit noch etwas anderes ereignet; es soll als Anstoß dienen und es übertrifft auch die Eindringlichkeit eurer Beiträge. Zugleich hebt es die Frage auf beeindruckende und dramatische Weise auf eine Ebene, die wir besonders in bestimmten Jahren seit 1968 erfahren haben. Allerdings waren wir uns dessen nicht bewusst. Das Ereignis, um das es geht, ist das Treffen mit dem Papst in der vergangenen Woche. Abgesehen vom Interesse des Papstes für das Meeting, über das er von uns einige Kommentare und Beobachtungen hören wollte, war das Beeindruckende in diesem anderthalbstündigen Gespräch, im Papst eine selbstverständliche Überzeugung, eine in der Zeit gewonnene Haltung zu entdecken, die er zumindest bei zwei anderen Gelegenheiten bereits in Worten zum Ausdruck gebracht hatte. Damals wurden diese Worte für uns wichtig und haben uns begeistert, ohne dass wir sie aber mit der endgültigen Ernsthaftigkeit aufgenommen hätten, mit der sie der Papst ausgesprochen hatte. Ich beziehe mich vor allem auf den Satz, den wir auch auf dem Titelblatt von Litterae communionis abgedruckt hatten: «Eure Art und Weise die menschlichen Probleme anzugehen, ist der meinen sehr ähnlich, ich würde sogar sagen, es ist dieselbe». Und er sagte dies ein zweites Mal, bei einem Treffen in Castelgandolfo mit Studenten aus Rom. Niemand erinnert sich mehr daran. Ich aber erinnere mich. Dies sage ich nur, um ein Beispiel, einen praktischen Beweis für das zu geben, was ich vorhin gesagt habe: Diese Sätze haben uns beeindruckt und zu recht begeistert, aber wir haben ihnen nicht die endgültige Bedeutung beigemessen, die sie hingegen für den Papst hatten. Wir haben dies erst bei der Gelegenheit vergangene Woche mit Erstaunen und Erschütterung wahrgenommen. Und genau darum ist unsere Bewegung an einen Wendepunkt gelangt, von dem aus man nicht mehr zurück kann. Das heißt, wer dieser Wende nicht folgt, der fliegt – in der Analogie eines Rennens gesprochen – aus der Kurve, er wird herausgeschleudert. Der Papst hat mindestens zwei oder drei Mal diese Identifikation der – wie wir sagen könnten – Bestimmung seiner eigenen Gestalt mit der Bestimmung unserer Erfahrung hervorgehoben. Während wir zum Frühstück gingen (...) Es ist besser, wenn du erzählst, du erinnerst dich besser.

Beitrag: Während wir zum Frühstück hinuntergingen, also unmittelbar nach dem Empfang, fragte er Don Giussani: «Wie läuft CL?». Nachdem er die Antwort gehört hatte, fügte er selbst hinzu: «Ja, CL hat viele Feinde: dieselben wie auch der Papst.»

Giussani: Man kann darüber nur lächeln, wenn man es oberflächlich betrachtet, denn es ist eine fast tragische Überraschung. Wir sprachen später über das Unglück der Kirche; es besteht darin, dass man in nachkonziliarer Zeit Kategorien der vorherrschenden laizistischen Mentalität eingeführt hat, zum Beispiel Kategorien wie «integralistisch» oder «offen», wobei nur dem «Offenen» in der heutigen Gesellschaft Existenzberechtigung zugesprochen wird. Dazu sagte er: «Genauso, wie sie über mich reden, so reden sie auch über euch; sie definieren euch so wie mich». Und er betonte nochmals: «Dort, wo der Papst aufgenommen wird, dort werdet auch ihr aufgenommen.»
Aber vielleicht hätte ich mich nicht an diesen Moment – trotz seiner großen Bedeutung für den Weg der Bewegung – erinnert, wenn der Papst nicht am Ende noch betont hätte: «Wir müssen uns noch einmal unmittelbar nach dem Meeting sehen.» Es war, wie wenn sich jemand nach einem Gespräch mit Freunden sehnt, die er nirgends finden kann. In den letzten Minuten des Gesprächs führte er noch eine weitere Sache an. Noch sitzend, aber schon im Begriff aufzustehen sagte er: «Ihr habt keine Heimat, denn ihr seit der Gesellschaft nicht anzugleichen». Dann hielt er einen kurzen Augenblick inne, und während er sich vom Stuhl erhob, wiederholte er diese Worte: «Ihr habt keine Heimat.» In ihnen wurde in bewegender Weise deutlich, dass er von sich selbst sprach und seine Situation auf uns projizierte.
Es ist wirklich erstaunlich und sehr selten in der Geschichte, dass ein Papst seine Glaubenserfahrung, die er der gesamten Kirche vorschlägt, in einer bestimmten Erfahrung erwidert findet, ja sie sogar mir ihr identifiziert; dass er sie in einer bestimmten Erfahrung einer Gruppe ausmacht. Aber das Erstaunliche schließt zugleich eine bedeutende Verantwortung mit ein. Vielleicht lässt das vorhin Gesagte das Ganze etwas unvermittelt erscheinen. Ich sagte, es war so, als ob jemand, der keine Heimat hat, das heißt der von nichts und niemand aufgenommen wird, endlich Freunde gefunden hat, mit denen er sich im Einklang befindet. Auf der ersten Seite des Johannesevangeliums heißt es: «Als er kam, hatte er keine Heimat, keine Zuflucht.»
Ich denke, es ist richtig, dass ich das, was der Papst uns vieren gesagt hat, auch euch mitteile. Wenn wir aber gut verstehen wollen, was diese wichtige Beobachtung des Papstes über unsere Erfahrung bedeutet, wenn wir also wirklich verstehen wollen, inwiefern dies unsere Person betrifft, dann müssen wir tatsächlich beginnen, auf dem Weg unserer Bewegung zu reifen.
Vielleicht müsste die Arbeit dieser Tage uns helfen – ich sage nicht einen ersten Schritt zu tun, später werde ich sagen, warum, sondern – einen weiteren Schritt zu machen auf dem Weg eines reifen Verständnis dessen, was unsere Erfahrung ist, um diese Definition des Papstes zu verdienen: «Eure Erfahrung kann keine Heimat haben». Das will heißen: einer, der keine Heimat hat, ist fortwährend ohne menschliche Sicherheiten, ohne Schutz, ohne Rast, immer in irgendeiner Form gleichsam am Überschreiten, und daher «gegen», aber «gegen» im Sinne eines Überschreitens. Wenn ihr diese Worte im Zusammenhang versteht, stellen sie letztlich die Beschreibung oder Definition des Anti-Bürgerlichen dar, also dessen, was nicht bürgerlich ist, was nicht sozial abgesichert ist, was nicht established ist und was nicht established werden kann.
Ich sagte, dass es sich um einen neuen Schritt handelt. Die Arbeit dieser Tage erlaubt uns einen neuen Schritt – und das ist ein erster Schritt im Sinne eines ersten bewussten Schrittes. Denn der erste Schritt im unbewussten Sinne war derjenige, der uns in diese Gemeinschaft geführt hat, der uns viele Jahre voranschreiten ließ, der uns veranlasste, das CP, die CUSL aufzubauen, oder das Meeting von Rimini oder das Meeting des Mittelmeerraums zu veranstalten. Aber in all dem ist noch das auszumachen, was ich jetzt den ersten Schritt im Verständnis dessen nenne, warum wir ohne Heimat sind. Denn letztlich zielt unsere ganze Aktivität, seit dem Entstehen von Comunione e Liberazione, seit 1970 besonders 1973, als wir das berühmte Palalido mit 6000 Studenten veranstaltet haben, aber auch die ganze Aktivität der CUSL, der CP, alle Meetings dieser Welt, alle Kooperationen, der Kampf für die Mensen, all das, was wir machen, zielt darauf ab, eine Heimat zu haben, eine Heimat in dieser Welt zu haben. Ich sage nicht, dass das nicht richtig wäre. Ich sage nur, dass wir es machen, um eine Heimat zu haben und dass wir diese Heimat nicht haben werden. «Ihr seid ohne Heimat.»
Der erste bewusste Schritt war das Osterplakat. Das war der erste bewusste Schritt – wie man euren Beiträgen entnehmen konnte –. Das gilt zumindest für einige Universitäten. Für andere ist das noch nicht der Fall. Für sie war es nicht einmal der erste Schritt (ich nenne sie nicht, gegebenenfalls kann man das im persönlichen Gespräch nochmals aufgreifen). Das Plakat hat plötzlich unsere ganzen Themen durchkreuzt; es hat sie plötzlich beiseite geschoben, um zum eigentlichen Problem vorzudringen: Das Problem ist ein Faktum, das geschehen ist, ein Ereignis, das die erste Seite des Johannesevangeliums (dessen zweite Hälfte der Inhalt des Osterplakats war) uns in jenem Augenblick beschreibt, in dem es zum ersten Mal als Problem in der Welt auftrat. Das heißt, das Plakat hat uns zum ersten Schritt eingeladen, und in vielen Fällen mit Erfolg. Denn es zeigt oder besser es enthüllt, dass das Problem nicht darin besteht, was wir tun, also nicht in unseren Anstrengungen, unseren Analysen der Dinge, in unserer von christlichen Werten inspirierten Betrachtung der Dinge. Seit zehn Jahren arbeiten wir über die christlichen Werte und vergessen dabei Christus, wir leben, ohne Christus zu kennen. Das Problem ist Christus, Christus zu erkennen. Wie der heilige Paulus im dritten Kapitel des Briefs an die Philipper deutlich macht: «Wenn ich mich mit euch vergleichen sollte, dann würde ich sagen, dass es mir ausgezeichnet geht, denn ich befinde mich in einer privilegierten Position. Ich bin Professor an der Universität – seinem Alter nach wäre er vielleicht außerordentlicher Professor gewesen –, meine Probezeit als Assistent habe ich sehr schnell durchlaufen, noch in jungen Jahren bin ich Professor geworden, ich weiß alles, was ihr wisst, und ich weiß noch viel mehr als ihr, denn ich habe das zu meiner Religion gewählt, was ihr nicht gewählt habt. Aber all das, so habe ich jetzt verstanden, ist nur Unrat im Vergleich dazu, Christus zu erkennen». Das christliche Ereignis hat als Gegenstand und Inhalt die Erkenntnis Christi. Das ist eine Erkenntnis, die sich nicht – sei es auch nur durch Analogie – auf das Studium von Fossilien oder einer Gestalt wie Julius Cäsar reduzieren lässt. Darum ist der angemessene Begriff das «Anerkennen» Christi: Denn man erkennt eine Gegenwart nicht, sondern man erkennt sie an.
Ich will jetzt eine Seite von Eliot vorlesen, auch wenn wir sie schon kennen. Denn wenn wir keine Heimat haben, dann nicht deshalb, weil wir Christen sind. Die Christen können so sehr beheimatet sein, dass sie in der Tschechoslowakei, in Polen, in Ungarn, also in Gesellschaften, in denen der Atheismus und das Anti-Christentum am konsequentesten praktiziert wird, einen gesetzlichen Status innehaben, ihnen ist durch die Sozialgesetzgebung ein fester Platz zugewiesen (die Priester in Ungarn gehören zu den bestbezahltesten staatlichen Angestellten). Der Christ ist nicht deshalb verfolgt, weil er so und/oder anders denkt. In der westlichen Welt haben wir ja sogar die Christdemokraten und eine Schar christlicher Vereinigungen. Sondern derjenige hat keine Heimat in keinem Teil der heutigen Gesellschaft, der die Gegenwart Christi – eine Gegenwart, die anders als alle anderen ist – im eigenen Leben, in dem Geflecht der Beziehungen, in der Gesellschaft, in der er lebt, anerkennt. Er erkennt diese Gegenwart so sehr an, dass sie die Art und Weise seines Sehens, seiner Wahrnehmung bestimmt, also die Art des Urteilens und die Art des Verhaltens. Derjenige hat keine Heimat, der sagt: «Gott ist ein gegenwärtiges Faktum, mit einem geschichtlichen Namen, der mein Leben physisch berührt und ergreift, und der daher beansprucht, es in jeder Hinsicht zu bestimmen, so dass er durch mein Leben das Leben der Gesellschaft bestimmen kann.» Ein solcher Mensch hat keine Heimat. Solange das Christentum nur bedeutet, dialektisch oder auch praktisch die christlichen Werte zu vertreten, findet es überall Raum und Aufnahme. Wenn aber der Christ der Mensch ist, der in der menschlichen, geschichtlichen Wirklichkeit, die fortdauernde Gegenwart – die Gegenwart und die fortdauernde Präsenz – Gottes verkündet, der einer von uns geworden ist; wo er Gott als Gegenstand der Erfahrung (wie die Erfahrung eines Freundes, eines Vaters oder einer Mutter), als aktiv bestimmend für den Gesamthorizont, als die letzte Zuneigung («In der Erfahrung der großen Liebe […] wird alles Geschehende zu einem Begebnis innerhalb dieses Bezuges») versteht; wenn für ihn die Gegenwart Christi zum Zentrum seiner Art zu sehen, das Leben zu verstehen und anzugehen, zum Sinn einer jeden Handlung, zur Quelle aller Aktivität des ganzen Menschen, das heißt der kulturellen Aktivität des Menschen wird – dann hat ein solcher Mensch keine Heimat.

Vgl. Titel von «Litterae communionis-CL», Nr. 3, März 1980 (Giovanni Paolo II. an die Studenten von CL, Rom, 26. Januar 1980).
Vgl. Jh 1,11. [«Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.»]
Giussani bezieht sich auf das Meeting des Mittelmeers, das zum ersten Mal im Jahr 1981 in Catania stattfand.
Giussani bezieht sich auf das nationale Treffen zum Thema «Für die Befreiung in den italienischen Universitäten». Es fand am 31 März 1973 im Palalido-Arena statt. Unter den 6000 Studenten war auch der Abgeordnete Aldo Moro zugegen.
Vgl. Phil. 3,4-8. 1 “Wenn ein anderer meint, er könne auf irdische Vorzüge vertrauen, so könnte ich es noch mehr. Ich wurde am achten Tag beschnitten, bin aus dem Volk Israel, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, lebte als Pharisäer nach dem Gesetz, verfolgte voll Eifer die Kirche und war untadelig in der Gerechtigkeit, wie sie das Gesetz vorschreibt. Doch was mir damals ein Gewinn war, das habe ich um Christi Willen als Verlust erkannt. Ja noch mehr: ich sehe alles als Verlust an, weil die Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, alles übertrifft. Nicht dass ich es schon erreicht hätte oder dass ich schon vollendet wäre. Aber ich strebe danach, es zu ergreifen, weil auch ich von Christus Jesus ergriffen worden bin. Brüder, ich bilde mir nicht ein, dass ich es schon ergriffen hätte. Eines aber tue ich: Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist. Das Ziel vor Augen, jage ich nach dem Siegespreis: der himmlischen Berufung, die Gott uns in Christus Jesus schenkt.
Vgl. Romano Guardini, Das Wesen des Christentums , Mainz, 7. Auflage, 1991, S. 14.